In einem Schulbuch habe ich einmal eine Karikatur gesehen. Sie zeigt einen Herrscher auf seinem Thron sitzend, der sich mit folgenden Worten an seine Untertanen wendet: „Endlich ist es gelungen, auch die letzte Sucht aus dem Land zu verbannen, die Menschen könnten nun ohne Süchte leben. Verbannt als letzte Sucht sei die ‚Sehnsucht‘“. Tatsächlich ist dies manchem diktatorischen System immer wieder gelungen, bis heute. Zerstört werden soll die Sehnsucht nach einem freien Leben, nach Gerechtigkeit, nach Frieden. An die Stelle der Sehnsucht treten Angst, Resignation oder einfach nur Verzweiflung.
In diesen Tagen schauen wir auf die Ukraine und die Menschen im Krieg, in Zerstörung, Terror und Kälte. Ziel des Angreifers scheint ja die Zermürbung zu sein, das Austreiben der Sehnsucht auf Frieden und Zukunft. Ich schaue auf die Menschen im Iran, deren Sehnsucht nach Freiheit und einem menschenwürdigen Leben gewaltsam unterdrückt wird. Die jungen Menschen, die ohne Rechtssicherheit im Gefängnis sitzen und täglich Folter und Tod befürchten müssen, sind ja nur die Spitze des Eisbergs. Für zwei von ihnen habe ich die Patenschaft übernommen mit dem Versprechen, ihre Namen in Erinnerung und in der Öffentlichkeit zu halten. Es sind Arian Farzamnia und Reza Nowrozi. Sie stehen für das Schicksal vieler anderer. In Afghanistan zeichnet sich ebenfalls eine bleibende Unterdrückung ab. Jede Gewalt und Unterdrückung versuchen, die Sehnsucht zu zerstören. Ob das am Ende gelingen wird, scheint mir zweifelhaft zu sein. Denn die Geschichte zeigt, dass sich am Ende die Sehnsucht nach Leben, nach Freiheit und nach dem Respekt vor der Menschenwürde durchsetzen wird. Die Halbwertzeit von Diktaturen ist historisch gesehen begrenzt, auch wenn die Menschen, die es aktuell betrifft, unsäglich leiden.
Sehnsucht berührt einen religiösen Wesenskern. Der Kirchenvater Augustinus hat die Sehnsucht das „Ausgespanntsein“ der Seele nach jemand Größerem genannt. Er glaubt, dass in jedem Menschen die Sehnsucht schlummert, von jemand oder etwas Größerem, Bergenden und Tragenden berührt zu werden. Ob das so stimmt, würde heute sicher infrage gestellt. Aber vielleicht würden doch die meisten Menschen unterschreiben, dass sie eine Sehnsucht in sich tragen, von jemandem geliebt und gemocht zu werden, der einem Halt gibt. Kein Mensch kann nur für sich sein. Der Christ Augustinus hat in sich ein Leben lang diese Sehnsucht verspürt, religiös zeigte sie sich in einer lebenslangen Unruhe. Er war davon überzeugt, dass sich ein Mensch allein nicht selbst genügen kann. Er hat den bekannten Satz geprägt: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir“. Sehnsucht ist Unruhe, Suchen, Unterwegssein, aber auch Hoffnung, kurzum: ein Ausgespanntsein der Seele. Den glaubenden Menschen berührt immer wieder auch Gott selbst in diesem Suchen, dieser Unruhe, und gleichzeitig entzieht er sich. Sehnsucht heißt ja auch, Gott nicht zu besitzen, sondern immer tiefer in seine Gegenwart einzudringen. Viele große Beterinnen und Beter der christlichen Tradition haben ihr Gebet als solches Ausspannen der Seele verstanden, und gleichzeitig die Erfahrung gemacht, je größer die Sehnsucht nach dem Gott des Lebens ist, desto mehr taucht er ins Dunkel. Beten ist für mich der größte Ausdruck der Sehnsucht. Immer wieder ist das Gebet auch Ausdruck der Sehnsucht nach dem letzten Ziel meines Lebens, das Pilgerschaft und Unterwegssein bedeutet. Die glaubende Sehnsucht bleibt offen für das wahre Leben und den Sinn des Lebens.
Können wir diesen Gedanken des heiligen Augustinus mitgehen? Und wenigstens die Frage an uns heranlassen, welche Sehnsucht uns bewegt? Glauben bedeutet, die Seele aufspannen und offenhalten für jemand Größeren, den Christinnen und Christen als Liebe, Licht, Leben, Freiheit und Nähe glauben. Jesus hat uns in den Seligpreisungen konkrete Hinweise auf Sehnsucht gegeben, die zeigen: Es geht nicht um eine rosarote Färbung unserer Welt. Er nennt die Armen, die Trauernden, die Hungernden nach Gerechtigkeit, die Verfolgten und andere, deren Sehnsucht Erfüllung finden wird. Wer trauert, hat Sehnsucht, wer arm ist und nach Gerechtigkeit strebt, kann seine Sehnsucht klar benennen. Diese Sehnsucht scheint eine Tür zu sein, dass das Gottesreich in diese Welt kommen kann. Vielleicht ist das ein Problem unserer Zeit, dass es hierzulande nicht durch eine Diktatur, sondern durch andere Faktoren dazu gekommen ist, dass es keine konkret zu benennenden Sehnsüchte der Menschen gibt. Es gibt Süchte, aber nur noch selten Sehnsucht nach etwas Größerem. Der Religionspädagoge Dieter Emeis hat sich einmal von der Kirche und der Gesellschaft gewünscht, eine neue „Kultur der Sehnsucht“ zu entwickeln. Das heißt wohl konkret, sich der Vorläufigkeit des eigenen gemachten Nestes zu erinnern und offen zu bleiben dafür, dass Leben Aufbruch, Hoffnung, Beziehung und Liebe bedeutet. Viele Erfahrungen des Lebens öffnen mich für jemand oder etwas Größeres: Schönheit, Wahrheit, Wertschätzung, aber auch Leiden und Abschied. Wir können nur hoffen und beten, dass Menschen weltweit sich von den Diktatoren unserer Zeit die Sehnsucht nicht rauben lassen. Hierzulande würde ich wünschen, dass es nicht Oberflächlichkeit und andere Faktoren sind, die ein Ausgespanntsein der Seele erst gar nicht aufkommen lassen.
Heute am Fest Epiphanie lernen wir Menschen der Sehnsucht kennen. Die Magier, die die Sterne beobachten, aber dann auch zum Aufbruch bereit sind. Sie folgen einem Stern, Ausdruck der Sehnsucht nach der Geburt eines neuen Königs, der Frieden und die Nähe Gottes bringt. Wer so die Sterne beobachtet, zeigt etwas von der Unruhe des Herzens, die sich nicht mit dem eigenen Nest und dem begrenzten eigenen Horizont allein begnügt. Die Magier machen sich auf den Weg, nicht wissend, was sie erwartet. Am Ende beten sie an, und spannen ihre Seele aus. Der Glaubensweg wird für sie nicht beendet gewesen sein.
Wir lernen aber auch Menschen ohne Sehnsucht kennen. Vielleicht vermissen sie nichts. Allein die Aussage, Menschen vermissten nichts und bräuchten nichts, sagt noch nichts wirklich Substanzielles aus. Wir lernen Herodes kennen, der getrieben ist von der Angst um seine Macht. Die Seele spannt er nun wirklich nicht nach jemand Größerem aus, ganz im Gegenteil: dieser Größere macht ihm Angst. Er geht in seinem Bemühen, Macht festzuhalten, buchstäblich über Leichen. Andere Menschen sind Mittel zum Zweck. Er hält sich für die Sonne, um den sich andere zu drehen haben. Ähnlichkeiten zu heutigen Diktatoren sind nicht rein zufällig. Er hat nicht nur anderen Menschen die Sehnsucht ausgetrieben, bei sich selbst war dies ebenfalls erfolgreich. Wir lernen die Schriftgelehrten kennen. Sie kennen den Buchstaben der Schrift, alle Fragen scheinen beantwortet zu sein. Sehnsucht haben sie wohl keine, denn alles ist klar. Solchen Menschen begegne ich auch heute, auch in der Kirche. Es gibt so viele, denen alles klar ist, Neues wird nicht erwartet. Irgendetwas hat die Sehnsucht längst zerstört. Viele Seelen sind zugeklappt, nicht ausgespannt. Das ist mein Wunsch, ja meine Sehnsucht für das kommende Jahr: Dass wir Gott etwas zutrauen, Neues, Ungeahntes, und dass wir nicht zumachen, sondern die Seele neu ausspannen, die Unruhe zulassen, die erst zur Ruhe kommt, wenn wir Ruhe finden in Ihm.
Lassen wir uns die Sehnsucht nicht zerstören oder sie einschlafen, die Sehnsucht nach jemand Größerem. Zeigen wir unsere Solidarität mit vielen Menschen weltweit auch dadurch, dass wir ihre Sehnsucht teilen, nach Gerechtigkeit, nach Frieden, nach Leben in Würde. Halten wir ihre Namen öffentlich, jeder und jede ist Ebenbild Gottes. Das Kind in der Krippe hat alle erlöst. Heute gehen wir anbetend in die Knie. Unruhig möge unser Herz bleiben bis es endgültig in ihm Ruhe findet.