Wenn wir heute bei unserer Wallfahrt das Kreuz in den Mittelpunkt stellen und verehren, dann ermahnt und ermutigt es uns, selbst einen konkreten Glauben im Fleisch zu leben.

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Festhochamt anlässlich der Kreuzwallfahrt in Steinheim Steinheim, Kirche Sankt Nikolaus, Sonntag, 16.9.2018

Datum:
So. 16. Sept. 2018
Von:
Bischof Peter Kohlgraf
„Skandalöser Realismus“ – so heißt eine kleine Schrift von Kardinal Josef Ratzinger, ein Vortrag, den er vor der Integrierten Gemeinde in der Nähe von Rom gehalten hat[1]. Das Christentum sei in seinen Kernaussagen skandalös realistisch, es geht ins Fleisch, Gott wird konkret, er hört auf, eine Idee oder schöne Theorie zu sein, die dann den Menschen als intellektuelle Spielerei beschäftigt, ohne weitere Konsequenzen zu haben.

In Umfragen bekunden auch heute Menschen den Glauben an Gott und halten religiöse Themen für notwendig. Wir reden über die gesellschaftliche Bedeutung des Glaubens, indem wir über christliche Werte reden, Grundhaltungen, die unser Zusammenleben bestimmen oder bestimmen sollten. Interessant wäre es zu fragen, inwieweit sie den skandalösen christlichen Realismus und die Konkretheit unseres Glaubensbekenntnisses teilen. Es ist nicht schwer, an einen irgendwie gearteten göttlichen Geist zu glauben – der christliche Realismus ist wahrhaft skandalös:

Gottes Sohn wird Fleisch, ein bestimmter Mensch an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit. Er ist der Sohn Gottes, er nimmt unser Fleisch an, unser Leben, mit all seiner Schwachheit, seiner Verletzlichkeit, seiner Sterblichkeit und seiner Schuld, die unser Leben eben auch ausmacht. Das war nicht nur für die Menschen der Antike ein unvorstellbarer, wahrhaft skandalöser Gedanke. Die Götter bleiben unter sich, da gibt es keine Berührung mit den Menschen. Eine Geschichte der griechischen Mythologie erzählt: Eines Tages zeigt der Göttervater Zeus Interesse an den Menschen, von denen er schon viel gehört, aber noch keinen von ihnen kennengelernt hat. Er möchte einige Zeit unerkannt unter ihnen leben. Deswegen legt er eine menschliche Maske an, zieht sich Menschenkleider an und begibt sich von seinem hohen Olymp mitten unter die Menschenkinder. Doch was erlebt er: Sie leben elend und im Dreck, sie belügen, bestehlen und morden sich. Schon nach wenigen Tagen hat er die Nase voll und zieht sich auf seinen Götterberg zurück. Er beschließt mit dem Rat der Götter, die Menschen endgültig zu vernichten.

Solche Geschichten erzählten sich die Menschen der Antike von ihren Göttern. Als die ersten christlichen Missionare loszogen, lernten die Kinder derartige Geschichten in den Schulen kennen. Zwar glaubten viele schon nicht mehr so schlicht an die Götterwelt, aber etwas Richtiges erkannten die Menschen in solchen Geschichten schon: Die Götter haben mit den Menschen wenig gemeinsam, das Schicksal der Menschen berührt die Götter oder den Gott nicht. Die Welt, in der die Menschen leben, ist ein Sumpf, in dem die Menschen mehr oder weniger ausgeliefert stecken und zu versinken drohen. Der Leib ist ein Gefängnis, am Ende Schmutz. Die christliche Erlösungsbotschaft ist da sehr konkret. Gott geht ins Fleisch. Indem Gottes Sohn Mensch wird, zeigt er, dass ihm jeder Mensch unendlich wichtig ist. Er hat unter uns gewohnt, sagt das Johannesevangelium. Gott wird in Christus Mensch, um unser Bruder zu werden. Machen wir uns bewusst, was das heißt: er, der große Gott, den wir nicht denken können, wird mein persönlicher Bruder und Erlöser. Indem Christus Fleisch annimmt, nimmt er mich an, als ganzen Menschen, mit allen Schwächen und allen Stärken. Der Christ hat kein besseres und einfacheres Leben als jeder andere Mensch auch. Aber er hat die Garantie, nie mehr allein zu sein. Die konkrete Menschwerdung, ja die „Fleisch“-werdung ermöglicht unser aller Rettung aus dem Tod, der am Ende auf uns alle wartet.

Die ärgerliche Konkretheit der christlichen Botschaft geht noch weiter.

Dieser konkrete Mensch, Jesus, den wir als Gottes Sohn bekennen, stirbt den brutalen Tod am Kreuz, und ersteht von den Toten auf – natürlich in eine andere Wirklichkeit hinein: Auferstehung meint keine Wiedergeburt oder ein Zurückkommen in dieses Leben. Er ist aber dennoch konkret erfahrbar. Er geht mit den Emmausjüngern, er isst mit ihnen, er lässt sich erfahren. Er geht nicht einfach in eine rein geistige Existenz – das Grab ist leer, Gott greift konkret in die Geschichte ein. Als Paulus seinen gebildeten Zeitgenossen von dieser konkreten Auferstehungshoffnung erzählt, wimmeln sie ihn ab: „Darüber wollen wir dich ein anderes Mal hören.“ (Apg 17,32). Und Paulus weiß, dass die Gebildeten der damaligen Welt den Glauben an den Gekreuzigten für Wahnsinn oder für einen Skandal halten. (1 Kor 1,23)

Der skandalöse Realismus setzt sich fort. Der Auferstandene behält die Wundmale – er verbindet sich auch als Erhöhter mit dem Leid der Menschen, er verwandelt weiter ihre Schuld in Heil. Das ist mehr als eine symbolische Aussage. Er bleibt uns nahe als das Lamm, das sich hingegeben hat.

Dieser real und konkret Auferstandene bleibt – skandalöser Realismus – in den Zeichen von Brot und Wein berührbar und erfahrbar unter uns. Eucharistie ist nicht nur Erinnerung, sondern Vergegenwärtigung. Er ist es selbst, den wir als Speise erhalten. Aus dieser konkreten Nahrung werden wir zu seinem Leib geformt, zu seiner Kirche.

Auch die leibhaftige Kirche gehört zu diesem skandalösen Realismus. Christus inkarniert sich nicht in eine perfekte Gemeinschaft, in eine geistige, allen irdischen Schwächen und Nöten entzogene Gruppe, sondern in die konkrete Kirche mit all ihren Menschlichkeiten und Problemen. Ich kann Christus nicht haben ohne diese Kirche. Bereits Paulus sieht im Kreuz die Ursache dafür, dass besonders auch schwache Menschen, sündige Menschen, Teil dieser Kirche sind. Im gekreuzigten Christus stellt Gott alle menschliche religiöse Logik auf den Kopf.

Der skandalöse Realismus setzt sich auch fort in der Art und Weise, wie Christus Nachfolge fordert. Er fordert nicht ein Gefühl, eine Liebe, die sich selbst genügt, sondern eine Liebe zum Nächsten, die gerade dem Feind, dem Abstoßenden gilt. Ärgerlicher Realismus auch in Bezug auf die sozialen Forderungen Jesu: er setzt sich mit den Leidenden und Bedürftigen gleich: was ihr einem der Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan. Er steht nicht für ein paar Werte, sondern für die absteigende Liebe zum Anderen, bei der man sich auch selbst schmutzig und verwundbar macht.  

All das ist nur zu verantworten, weil dieser Christus lebt – real. Weil Gott in ihm in unsere Geschichte, in mein Leben tritt. Weil er gestorben und auferstanden ist, wirklich und leibhaftig.

Wenn wir heute bei unserer Wallfahrt das Kreuz in den Mittelpunkt stellen und verehren, dann ermahnt und ermutigt es uns, selbst einen konkreten Glauben im Fleisch zu leben. Mich von Christus berühren zu lassen, verwandeln zu lassen. Er hat mein Leben angenommen, nun muss auch ich ihn aufnehmen, seine Lebensform annehmen und ihm ähnlich werden. Das Kreuz lädt ein, mich meiner Erlösungsbedürftigkeit zu stellen. Ich brauche diesen Erlöser, ich kann mich allein nicht ins ewige Leben retten. Das Kreuz ist mehr als ein Symbol für Werte, es nimmt in die Pflicht. Jeden Tag begegnen uns zahlreiche Kreuze. Mögen wir uns immer neu seiner Bedeutung erinnern und uns von Christus am Kreuz ansprechen lassen. Skandalöser Realismus: wenn wir Menschwerdung, Tod und Auferstehung ernst nehmen, wird der Glaube gegebenenfalls auch für uns skandalös konkret.

[1] Skandalöser Realismus?: Gott handelt in der Geschichte (Urfelder Texte 1), September 2008.