„In deine Hand lege ich voll Vertrauen meinen Geist.“ (Ps 31,6). Begonnen haben wir mit dem Ruf der Ungeduld und der Müdigkeit. Ich will aber auch vertrauend in die Zukunft gehen. Dieses letzte Psalmwort will ich zu meinem täglichen Gebet machen, gerade in der Müdigkeit des Lebens und dieser Zeit. Ich weiß mich in seinen Händen geborgen. Der Psalmbeter dankt Gott für die Rettung aus Todesangst und Todesnot. Darin teilen wir sein Schicksal. Ich will auch sein Vertrauen teilen. Und ich stelle mir vor, wie ich abends zur Ruhe gehe und mich in Gottes Händen wissen darf.
Liebe Gemeinde hier im Dom und Zuhause,
zu diesem Gottesdienst im Mainzer Dom darf ich Sie alle herzlich begrüßen.
Der 27. Februar ist für die Stadt Mainz seit dem Bombenangriff 1945 ein Tag des Gedenkens und der Trauer. Gemeinsam mit vielen Gläubigen in vielen Bistümern in Deutschland, nehmen wir heute auch die Verstorbenen des letzten Jahres in unser Gebet, auch diejenigen, die an den Folgen einer Corona-Infektion verstorben sind, aber selbstverständlich alle unsere Toten der letzten Monate.
Denn auch die, welche nicht unmittelbar an den Folgen der Viruserkrankung verstorben sind, hatten schwer zu leiden. Manche sind sehr einsam gestorben. Menschen konnten sich nicht verabschieden, eine angemessene Trauer war in vielen Fällen nicht möglich. Viele Wunden sind entstanden, die nicht so schnell heilen werden. Wir gedenken der Toten. Wir wollen den Trauernden und den Menschen, die selbst erkrankt sind oder an den Folgen leiden, Trost und Hoffnung geben. Sie sollen nicht allein sein. Auch diejenigen, die selbst nicht krank geworden sind, mussten auf vieles verzichten, fürchten um ihre Existenz oder mussten schwere Einbußen hinnehmen. Die Seele hat in jedem Fall gelitten, ich erinnere an die alten Menschen, die Kinder, Jugendlichen, die Familien, auch die Geschäftsleute, die Gastronomen und die Kulturschaffenden, um nur einige Beispiele zu nennen. In vielen sozialen, pflegenden und sorgenden Berufen sind Menschen an oder über die Grenze des Erträglichen geführt worden. Wir beten um Kraft und Zuversicht.
Stellvertretend sind Sie hier im Dom oder Sie feiern den Gottesdienst zuhause mit. Wir konnten leider nicht alle einladen, die betroffen sind, aber Sie alle stehen hier für die Menschen, die zu leiden haben oder die sich besonders für die Linderung des Leids einsetzen. Dafür danke ich sehr herzlich, denn wir brauchen einander, auch das Gebet und die Aufmerksamkeit, die wir dem anderen Menschen schenken. Namentlich darf ich als Vertreter der Stadt Mainz Herrn Bürgermeister Günter Beck begrüßen.
Nach den Bombenzerstörungen des 27. Februar 1945 ist hier neues Leben gewachsen, der Dom steht in Mainz auch als ein Zeichen des Neuanfangs und des neuen Mutes. Diese Zuversicht möge auch von diesem Gottesdienst und den Gebeten in dieser schwierigen Zeit ausgehen. Der Dom, in dem wir uns treffen und der für viele Menschen ein Symbol für Mainz ist und sie emotional in den Bann schlägt, möge unsere Hoffnung und unsere Gemeinschaft stärken. Er steht für die Zusage, dass uns nichts trennen kann von Gottes Liebe, wie wir in der Lesung hören. Diese Liebe Gottes will uns berühren, auch jetzt in dieser Stunde.
„Wie lange noch, Herr?“ – Mit diesem Seufzer beginnt der Psalm 13. Jeden Tag bete ich mit vielen anderen die Psalmen der Heiligen Schrift. In diesen 150 Texten werden unterschiedlichste menschliche Erfahrungen benannt. In den vergangenen Monaten sind mir immer wieder Sätze aufgefallen, die ich vielleicht jahrelang überlesen habe. Die Psalmen sind tatsächlich als geistliche Wegbegleiter gedacht, die man immer wieder zur Hand nehmen sollte.
„Wie lange noch, Herr?“ Nicht nur der Psalmenbeter ist müde geworden. Er sieht kein wirkliches Ende seiner Not. Auch wir sind müde und der Pandemie und ihrer Gegenmaßnahmen überdrüssig. Jeden Tag die neuen Zahlen, die Hiobsbotschaft einer nicht enden wollenden Geschichte. Ich schaue auf das Jahr zurück: erst die Schockstarre, der scheinbar einigermaßen unbeschwerte Sommer, Hoffnungen, neue Enttäuschungen, auch falsche Versprechen, immer begleitet von Sorgen, Trauer, auch Krankheit und viel Leid unterschiedlicher Art. Viele Menschen können nicht mehr. Ich höre aus dem engen Freundeskreis von Einsamkeit, dem Gefühl des Ausgeliefertseins und auch der scheinbaren Nutzlosigkeit. Man vermisst Verwandte und Freunde. Nicht allein die alten Menschen sind betroffen, die Einsamen, auch die Kinder und Jugendlichen mit ihren Familien. Ich denke an die Trauernden. Ich glaube, näher muss man das hier nicht entfalten, jede und jeder könnte die eigene Geschichte erzählen. In dem Psalmwort finden sich wohl die meisten wieder: „Wie lange noch, Herr?“ Wir sind es leid. Ich darf im Gebet so etwas ausrufen, meinen Frust, meinen Zorn, meine Frage, meine Trauer. Ich lerne neu zu beten in dem Sinne, dass ich vor Gott nicht brav sein muss, nicht mit heruntergezogenen Schultern stehen muss, sondern aufrecht sagen kann: Mir reicht es! Ich lerne in diesen Monaten, ehrlicher zu beten und nicht einfach Gebete aufzusagen.
„Wie lange noch verbirgst du dein Angesicht vor mir?“ – fährt der Psalm fort (Ps. 13,2). Für den gläubigen oder den gottsuchenden Menschen sind diese Monate auch eine Anfrage an den Glauben. Da ist einerseits der gütige, liebende Gott, von dessen Existenz ich fest überzeugt bin. Dann ist da aber auch die verborgene Seite Gottes. Ich sehe sein Angesicht nicht. Vielen Menschen geht es ähnlich. Dieser Seite stellen wir uns nicht so gern, aber auch sie gehört zur Glaubenserfahrung. In der Not, in der Krankheit und im Erleben des Todes vermögen wir vielleicht Gott nicht zu sehen. Auch mit seiner Allmacht, die wir doch im Glaubensbekenntnis aussprechen, bekommen wir derartige Erfahrungen nicht zusammen.1 Kann es sein, dass wir unsere Bilder von Gott korrigieren oder wenigstens ergänzen müssen? Seine Macht zeigt sich ja nicht nur im Guten, Hellen, Großen und Überwältigenden. Seine Macht zeigt sich an Weihnachten im Elend des Stalles, in Jerusalem am Kreuz, in der Alltäglichkeit der Zuwendung des Jesus von Nazareth zu den Kleinen und Armen. Offenbar ist diese unscheinbare Nähe Gottes in unserem Dunkel die Art und Weise, seine Macht zu leben. Er „entäußert sich all seiner Gewalt“ – singen wir in einem Weihnachtslied (GL 247,3). Gerade in der Ohnmacht zeigt er uns, wie er ist. Für die Gottesleugner ist diese Ohnmacht der Beweis seiner Nichtexistenz. Für mich ist die Nähe in Jesus das Angesicht Gottes, das er uns gerade in dieser Zeit offenbart. Gott ist nicht der große Zauberer, der mit einer großen Geste alles Leid wegwischt, aber er steigt mit ein, verborgen und unscheinbar. Ich muss ihn suchen. „Wie lange noch verbirgst du dein Angesicht vor mir?“ – Spätestens seit der Menschwerdung Jesu sehe ich in sein Angesicht. Am Karfreitag werden wir diesen Abstieg feiern und ihn dankbar in unserer Mitte sehen. Ihm kann ich dann auch meine Trauer, meine Sorgen, meine Armut hinhalten.
„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst“? – fragt der Psalm 8 und staunt über die Würde eines jeden Menschen (Ps 8,5). Gerne nehme ich auch diesen Gedanken in mein Gebet und gerne teile ich ihn mit all den Menschen, die in dieser Zeit nur wenig von ihrer menschlich-göttlichen Würde erfahren haben. Diese Würde zeigt sich in diesen Monaten durch viel Rücksichtnahme und Solidarität, nicht im Beharren auf das Ich und die eigenen Rechte. Auch das ist ein christliches Paradox: Die eigene Würde zeigt sich in der Sorge um den anderen Menschen. Wir sehen auch andere Entwicklungen, aber das stolze Ich ist nicht der Mensch, von dem der Psalm spricht. Und dennoch ist er nicht der Duckmäuser und der „Untertan“, der sich Befehlen beugt, sondern der Mensch, der aus Überzeugung gut und rücksichtsvoll ist. Diese Tugend zu fördern, dient auch dem gesellschaftlichen Zusammenhalt, den wir so dringend brauchen.
„Wie groß sind deine Werke, Herr.“ (Ps 92,6) – Ich will mit diesem Psalmwort auch den Dank nicht vergessen. Dank zu sagen ist vielen Menschen für ihr Engagement, ihren Einsatz für andere, tatsächlich ihre Selbstlosigkeit. Ich bitte um Verständnis, wenn ich keine Beispiele nenne; ich würde jemanden vergessen. Die Selbstlosigkeit zeigt sich auch bei denen, die, wenn auch mit Trauer und vielleicht großen Sorgen, ihren Betrieb geschlossen halten. Auch sie verdienen wie die Hochaktiven einen ehrlichen Beifall. Es zeigt sich in diesen Monaten, wozu Menschen fähig sind, eben auch im Guten. Auch das gehört zu den Glaubenserfahrungen dieser Tage. Und ich darf den Dank nicht vergessen für die wissenschaftlichen Gaben des Menschen, die sich etwa in der schnellen Entwicklung eines wirksamen Impfstoffs zeigen. Auch wenn viele ungeduldig sind, jeder und jede darf ins eigene Leben und in die Erfahrungen der vergangenen Zeit schauen – und wird möglicherweise etwas oder jemanden finden, für den es zu danken gilt. Das Danken sollten wir nicht vergessen.
„In deine Hand lege ich voll Vertrauen meinen Geist.“ (Ps 31,6). Begonnen haben wir mit dem Ruf der Ungeduld und der Müdigkeit. Ich will aber auch vertrauend in die Zukunft gehen. Dieses letzte Psalmwort will ich zu meinem täglichen Gebet machen, gerade in der Müdigkeit des Lebens und dieser Zeit. Ich weiß mich in seinen Händen geborgen. Der Psalmbeter dankt Gott für die Rettung aus Todesangst und Todesnot. Darin teilen wir sein Schicksal. Ich will auch sein Vertrauen teilen. Und ich stelle mir vor, wie ich abends zur Ruhe gehe und mich in Gottes Händen wissen darf.
Die Psalmen sind ein reicher Gebetsschatz. Ich werde sie in Zukunft aufmerksam lesen, sie zu meinem Gebet machen. Die Heilige Schrift ist eine Schatzkiste großer Erfahrungen des Menschen, die ihn mit seinem Gott verbinden. Ich wünsche Ihnen und uns allen, dass wir ehrlich beten können, aufrecht, mit und für die anderen Menschen, dass wir uns verwandeln lassen in Menschen der Zuwendung, dass wir das Danken und das Vertrauen nicht verlieren. In diesem Sinne möge Gott uns begleiten und behüten.
1 Den folgenden Gedanken verdanke ich Ulrike Junge, zu Ps. 10, in: Mit der Bibel durch das Jahr. Ökumenische Bibelauslegungen 2021, Stuttgart 2020, S. 66.