"Wir müssen heute mehr als nach Gewohnheiten nach den wirklichen Gründen des Glaubens suchen und Menschen diese Gründe überzeugend anbieten."

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf bei der Priesterweihe von Bruder Severin Tyburski O.Carm. Dom zu Mainz, Samstag, 8. August 2020, 11.00 Uhr

Mainz, 8. August 2020: Während der Allerheiligen-Litanei legt sich der Weihekandidat auf den Boden, um zu zeigen, dass er sich ganz in die Hände Gottes begibt. (c) Bistum Mainz / Blum
Datum:
Sa. 8. Aug. 2020
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Der Christ von morgen wird ein Mystiker sein, oder er wird gar nicht mehr sein. Er wird jemand sein, der Gott erfahren hat, oder er wird aufhören, Christ zu sein.“1 Und: „Weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im voraus zu einer personalen Erfahrung und Entscheidung einstimmige, selbstverständliche öffentliche Überzeugung und religiöse Sitte aller mitgetragen wird“2; weil den Glaubenden heute und morgen deshalb „eine stets neue Bildung des Glaubens aus seinen letzten Gründen heraus abverlangt“ ist, wird es auf personale Erfahrung und personal verantwortete Erfahrung ankommen.3

Diese prophetischen Aussagen stammen vom Theologen Karl Rahner und sind recht berühmt geworden. Jemand muss Erfahrungen im Glauben machen, er muss erfahren, wie schön es sein kann, an Gott zu glauben, wie gut es ist, zu einer Glaubensgemeinschaft zu gehören, dann wird er sich für den Glauben interessieren, dann wird er Christ bleiben. Wenn das Christentum nur noch Institution ist, ein Sammelbecken großartiger Theorien, dann bleibt es nicht aus, dass Menschen der Kirche und dem Christentum den Rücken kehren, dass es nach und nach uninteressant wird. Und wir spüren heute deutlich, dass Karl Rahner Recht hatte: Wir müssen heute mehr als nach Gewohnheiten nach den wirklichen Gründen des Glaubens suchen und Menschen diese Gründe überzeugend anbieten. Auf Traditionen allein können wir unser Christ- und Kirchesein nicht mehr bauen.

Heute feiern wir die Priesterweihe von Bruder Severin Tyburski. Wer in diesen Dienst tritt, soll verkündigen, mit Tat und Wort, mit seinem Leben. Er darf andere teilhaben lassen an seinen Glaubenserfahrungen. Er soll an Gottes Gegenwart erinnern, aber nicht mit gewandten Worten oder mit schlauen Argumentationen, sondern indem er andere teilhaben lässt an seinen Glaubenserfahrungen, an seinen Fragen und seiner Gottesnähe, an seinen Zweifeln durchaus, damit Gott nicht schöne Theorie bleibt. Und er darf in der Spendung der Sakramente anderen diese Nähe Gottes berührbar und selbst erfahrbar machen. Wenn heute manchmal eine modernere Verkündigungssprache eingefordert wird, bleibt mir dies auch zu sehr an der Oberfläche. Es geht nicht um eine schöne neue Verpackung, sondern um den großartigen Inhalt, den Gott des Lebens, den „Schatz im Acker“ sowie die „kostbare Perle“, die es zu suchen gilt und die gefunden werden können (Mt 13, 44-46). Dazu bedarf es des „Mystikers“, des Zeugen, eines Menschen, der etwas erfahren hat und aus dieser Erfahrung lebt.

Ich frage mich, ob es jemals anders gegangen ist. Und mehr und mehr gewinne ich Sicherheit, diese Frage zu verneinen. Besonders die Lektüre des Johannesevangeliums führt uns in die Tiefe einer Glaubenserfahrung, an der uns der Evangelist teilhaben lässt. Seine Erfahrungen beschreibt er mit großen Worten: Liebe, vollkommene Freude, Hingabe des Lebens, Freundschaft, Mitteilung der Liebe zum Vater, Erwählung und Fruchtbarkeit. Johannes packt diese Erfahrungen in die Abschiedsrede Jesu. Der Herr gibt diese Erfahrungen und Verheißungen seiner Kirche mit. Dabei ist Jesus nicht naiv. Er weiß um seinen nahenden Tod, den Abschied, aber er lebt selbst in diesen Erfahrungen, die er so auf den Punkt bringt. Er ruht am Herzen des Vaters, er lebt aus der tiefen Freundschaft und Beziehung zum Vater und denen, die er in seine Freundschaft gerufen hat. Er weiß um die Fruchtbarkeit eines Lebens, die aus der Hingabe erwächst, im Ernstfall der Hingabe des Lebens für die Freundinnen und Freunde. In den wenigen Versen des Evangeliums steckt das ganze Konzept eines gelingenden und guten Lebens. Aber eben nicht als philosophische Grundsatzrede, sondern als Lebenserfahrung. Das gesamte Evangelium ist eine Betrachtung und Mitteilung dieser Erfahrungen Jesu, an denen er seine Jüngerinnen und Jünger hat teilhaben lassen. Der Evangelist überliefert sie uns. Damit aus Buchstaben lebendiges Wort wird, müssen wir diese Worte zum Leben bringen. Das ist keine Forderung, sondern zunächst ein Geschenk an uns: Freundschaft, Liebe, Leben in Fülle, Erwählung und die Erfahrung, dass der Herr sich für mich, für uns hingegeben hat. Christliches Leben, auch die priesterliche Berufung, ist die Einladung zu einem täglichen Eintauchen in diese Zusagen, in diese Erfahrungen, ein „Bleiben“ in der Gegenwart des Herrn. Daraus folgt der Versuch, eine persönliche Antwort zu geben.

Sie, lieber Bruder Severin, geben heute eine Antwort, aber sie muss täglich neu versucht werden. Das wird einmal besser und einmal mühsamer gehen, aber um diese Antwort müssen Sie, müssen wir alle uns bemühen. Was bedeuten mir seine Freundschaft, wie gestalte ich die Liebe, die zum Leben eines Berufenen gehört, was ist für mich Leben in Fülle, wie antworte ich auf seine Hingabe? Und insbesondere der Priester ist gerufen, andere in diesen Erfahrungs- und Beziehungsraum mitzunehmen. In den Sakramenten berührt Christus die Menschen, die sie empfangen. Es darf nicht beim „opus operatum“ bleiben, also bei der objektiven Gültigkeit. Der Spender verkörpert Christus, und das geht nicht ohne Zuwendung zum Menschen, ohne Interesse am Leben, an den Freuden und Hoffnungen derer, die uns anvertraut sind. Damit es zu einem „opus operantis“ werden kann, also zu einer persönlichen Zustimmung des Empfängers, muss es auch immer der persönliche Glaubensakt des Spenders sein. Das gilt auch für Katechese und Verkündigung: Besser weniger schlaue Worte als Einladung zum Leben aus dem Glauben, den es natürlich zu verstehen, anzunehmen und ins Tun zu bringen gilt. Ohne eine Grundhaltung des offenen Herzens, der Freundschaft zum Menschen, der Liebe zu ihm, kurzum: ohne eine Grundhaltung der Caritas bleibt auch der priesterliche Dienst wohl eher fruchtlos.

Wir tappen heute ein wenig in eine Falle, wenn wir uns in Leitungsfragen des priesterlichen Dienstes verzetteln. Das Johannesevangelium bringt uns auf die richtige Spur, auch den sakramental Geweihten. Es geht um etwas viel Tieferes, es geht um die Erfahrung von Freundschaft und Berufung, in die Sie, in die wir als Geweihte alle Menschen einladen sollen und dürfen. Das Johannesevangelium bindet diese Erfahrungen und diesen Auftrag jedoch nicht an einen Weiheakt: Freundschaft, Liebe, Berufung, Hingabe, Leben in Fülle sind christliche Grunderfahrungen. Als Priester stehen Sie in der Aufgabe der Ermöglichung dieser Erfahrungen für alle Getauften, ja, für alle Menschen. Das ist die Mission heute, von der wir oft so stark reden.

Lieber Bruder Severin, ich wünsche Ihnen die Erfahrungen des Evangeliums, von denen Jesus durch den Evangelisten Johannes spricht. Ich wünsche den Menschen auf Ihrem Weg die Strahlkraft dieses Glaubens. Tatsächlich hat das Evangelium von seiner Schönheit nichts verloren: das Angebot von Freundschaft und Liebe brauchen die Menschen heute wie damals. Ich wünsche Ihnen, dass in Ihrem priesterlichen Dienst“ es immer wieder gelingt, dass aus „Hülsen Worte werden“5 können, zum Lobe Gottes und zum Heil der Menschen.

1 Karl Rahner, Frömmigkeit früher und heute, in: Ders., Schriften zur Theologie, Bd. VII, Einsiedeln, Zürich, Köln 1966, 11–31, hier 22.

2 Ebd.

3 Ders., Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance, Freiburg, Basel, Wien 1989; 37.

4 So ein Buchtitel von Klaus Mertes, Wie aus Hülsen Worte werden. Glaube neu buchstabiert, Ostfildern 2018.