Wir gründen zwar große Pfarreien, aber ich bin davon überzeugt, dass hier Beheimatung, Nähe und Beziehung weiter empfunden und gelebt werden können. Es braucht Menschen vor Ort, die dem Evangelium ein Gesicht geben, die ansprechbar sind, die wissen, was vor Ort gebraucht wird. Ich sehe eine Chance darin, dass wir auf dem Weg, den auch Papst Franzskus einfordert, ein synodales Miteinander über die Grenzen der Orte und Gemeinden hinweg entwickeln.
Zum Leben gehört immer auch Veränderung. Veränderung ist dabei kein Selbstzweck, sondern eine Reaktion auf die sich wandelnden Umstände. Das trifft auch auf die Kirche zu, das Bistum und die Pfarreien, die Gemeinden und die anderen Kirchorte, von denen wir viele haben. Das Leben der Menschen im Hinblick auf ihre Beziehung zur Kirche hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert.
Nach dem 2. Weltkrieg gab es für einige Zeit einen spürbaren Aufbruch in der Kirche, weil sie nach den Jahren der moralischen Verwüstung für viele Menschen einen Stabilitätsanker bildete. Die Kirche stand für Orientierung und Sicherheit. Zur Zeit des II. Vatikanischen Konzils ergab sich eine weitere Aufbruchsstimmung. Die katholische Kirche führte einen Dialog mit der Welt, von der sie lernen konnte und wollte. Das war ein neuer Ton. Die Religionsfreiheit wurde ausdrücklich anerkannt, die wenige Jahrzehnte zuvor noch von den Päpsten als Irrlehre verdammt wurde. Allein dieses Beispiel zeigt, wie sich die kirchliche Lehre verändern kann, auch in scheinbar zentralen Fragen. Die sogenannte „68-Generation“ offenbarte dann einen Bruch mit der Tradition. Die Kirche verlor besonders mit Blick auf die von ihr vertretene Sexualmoral zunehmend an Akzeptanz, auch wenn nach außen hin noch alles zu stimmen schien. 1975 stellte Papst Paul VI. einen zunehmenden Spalt zwischen der Welt und dem Evangelium fest. Das ist die Zeit meiner Kindheit. In der Rückschau habe ich den Eindruck, dass auf diese grundsätzlich realistische Einschätzung des Papstes nicht reagiert wurde. Es lief weiter wie gehabt.
Seit mittlerweile 40 Jahren reden wir über den Priestermangel. Bereits das II. Vatikanum hebt die priesterliche Würde aller Gläubigen hervor. Als ich als Professor vor einigen Jahren bei einer Fortbildung für die Räte des Bistums Mainz den darauf aufbauenden Text „Gemeinsam Kirche sein“ der deutschen Bischöfe vorstellte, der das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen zur Grundlage der Seelsorge und der Arbeit in den Gemeinden betont, gab es ernüchternde Rückmeldungen: Davon habe man im Alltag nur wenig gehört oder gespürt. Dabei war das Konzil schon Jahrzehnte vorbei. Die kirchliche Praxis umfasste die leitenden Kleriker, die engagierten „Laien“, die jedoch nicht immer Mitspracherecht hatten, die Verantwortlichen und diejenigen, die die Maßnahmen umsetzten. Als ich im Jahr 2011 ins Bistum Mainz kam, stellte ich fest, dass es kleinteilig organisiert war. Ein Pfarrer leitete mehrere Gemeinden, ihm zugesellt war eine Gemeindereferentin oder ein Gemeindereferent, deren Aufgeben über Jahre hinweg klar beschrieben waren. Die ebenfalls hochqualifizierten Pastoralreferentinnen und –referenten deckten die Bereiche der sogenannten Kategorialseelsorge ab, wie die Sorge um die Kranken, die Schulen oder die Gefängnisse. Veränderungsmöglichkeiten gab es kaum. Darin liegt auch ein hohes Frustrationspotenzial. Denn wer einmal auf der Spur war, konnte damit rechnen, mit seinen Aufgaben für die nächsten Jahrzehnte betraut zu sein. Zwischen den Pfarreien gab es wenig Verbindungen, man traf sich gelegentlich bei Dekanatsversammlungen. Gemeinsame Planungen gab es kaum. Auch die Seelsorgerinnen und Seelsorger in der Kategorialseelsorge sowie die Gemeinden anderer Muttersprachen führten ein Eigenleben, das nur dann mit den Ortsgemeinden verzahnt war, wenn zwischen den Verantwortlichen „die Chemie“ stimmte. Messzeiten standen fest, die Gottesdienstordnung schien oft in Stein gemeißelt. Ich selbst habe als Pfarrvikar in Rheinhessen jeden Sonntag mehrere Messen gefeiert, manchmal mit 5–10 Personen.
Bereits vor meiner Bischofsweihe gab es sehr konkrete Überlegungen im Ordinariat darüber, wie der neue Bischof mit dieser Situation umgehen und wie neue Wege aussehen könnten. An diesen Überlegungen war ich mitbeteiligt. Es gab ein deutliches Gespür dafür, dass sich die herrschende Situation verändern müsse. In manchen Köpfen existierte ein Schreckbild von sogenannten XXL-Pfarreien: Seelsorge würde unpersönlich, entferne sich von der Lebenswirklichkeit der Menschen, der Pfarrer sei nicht mehr vor Ort. Daneben lassen sich allerdings auch die Problematiken der bisherigen XS-Gemeinden herausstellen. Das Priestertum aller Gläubigen wurde nicht immer im entscheidenden Maß wahrgenommen, eine Feier oder ein Ereignis bekam dadurch einen Wert, dass der Pfarrer vor Ort war. Andere seelsorgliche Hauptamtliche und auch Ehrenamtliche wurden nicht selten als Notstopfen gesehen. Dass sich kirchliches Leben heute oft außerhalb von örtlichen Gemeindestrukturen ereignet, wird nicht wahrgenommen.
Die Begegnungen mit Kirche sind heute vielfältiger als vor einigen Jahrzehnten. Viele begegnen kirchlichen Angeboten nicht mehr in den Ortsgemeinden, sondern in der Caritas, der Schule, der Kita, den Krankenhäusern etc. Es gibt heute sogar Stimmen, die ein Ende der klassischen Gemeinde vorhersagen. Ihnen will ich nicht zustimmen, auch wenn ich feststellen muss, dass zahlreiche Menschen die Vielfalt der kirchlichen Angebote noch nicht bewusst wahrnehmen. Die Vorstellung, dass der Pfarrer vor Ort präsent gewesen sei, entspricht bereits seit Jahren nicht mehr der Realität vieler Gemeinden. Ein Problem der XS-Gemeinden bestand eben auch darin, kirchliches Leben komplett mit der eigenen Gemeinde und ihren Themen gleichzusetzen. Natürlich hatte dieses Modell für Menschen auch einen Charme: Es bot Beheimatung, Nähe, Beziehung, eine Deckungsgleichheit von Ort und Kirche und damit einen Raum der Identifikation mit „meiner Gemeinde“.
Wir gründen zwar große Pfarreien, aber ich bin davon überzeugt, dass hier Beheimatung, Nähe und Beziehung weiter empfunden und gelebt werden können. Es braucht Menschen vor Ort, die dem Evangelium ein Gesicht geben, die ansprechbar sind, die wissen, was vor Ort gebraucht wird. Ich sehe eine Chance darin, dass wir auf dem Weg, den auch Papst Franzskus einfordert, ein synodales Miteinander über die Grenzen der Orte und Gemeinden hinweg entwickeln. Wir nehmen das gemeinsame Priestertum ernst, wir vernetzen die Vielfalt der Kirchorte, wir binden Pfarrer in Teams ein, wir entwickeln gemeinsame Beratungs- und Entscheidungsprozesse. Dabei lernen wir immer wieder dazu, wir schätzen die gemeinsamen Ressourcen und Charismen, wir ermöglichen den hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine Weiterentwicklung und verteilen Leitungsaufgaben auf mehrere Schultern. Diese Prozesse sind Ausdruck davon, unseren Glauben in Vielfalt leben und feiern zu können. Ein großer Raum mit vielen Gemeinden und Kirchorten bietet da mehr Möglichkeiten als der nur je eigene Kirchturm. Natürlich gibt es Trauer, Abschied und Besorgnis. Ich nehme aber auch wahr, wie viele Menschen sich hier in dieser neuen Pfarrei auf die Überlegungen mit Hoffnung und Engagement eingelassen haben. Ich bin Ihnen allen überaus dankbar. Ich bitte Sie, diese Prozesse mit Zuversicht weiter zu gehen. Denn vor allen Strukturfragen geht es nicht nur um eine Wahrnehmung der Wirklichkeit, sondern auch um eine Haltungsänderung. Leben ist Veränderung, vom Geist geleitet. Dabei haben die neuen Pfarreien den Auftrag, die Gesellschaft und das Evangelium im Rahmen ihrer Möglichkeiten in ein neues Gespräch zu bringen. Es wird nicht so sein wie in den 50er Jahren, aber wir werden Sauerteig und Licht bleiben. Ich erlaube mir, Papst Franziskus zu zitieren: „Die Pfarrei ist keine hinfällige Struktur; gerade weil sie eine große Formbarkeit besitzt, kann sie ganz verschiedene Formen annehmen, die die innere Beweglichkeit und die missionarische Kreativität des Pfarrers und der Gemeinde erfordern(…) Die Pfarrei ist eine kirchliche Präsenz im Territorium, ein Bereich des Hörens des Wortes Gottes, des Wachstums des christlichen Lebens, des Dialogs, der Verkündigung, der großherzigen Nächstenliebe, der Anbetung und der liturgischen Feier. Durch all ihre Aktivitäten ermutigt und formt die Pfarrei ihre Mitglieder, damit sie aktiv Handelnde in der Evangelisierung sind. Sie ist eine Gemeinde der Gemeinschaft, ein Heiligtum, wo die Durstigen zum Trinken kommen, um ihren Weg fortzusetzen, und ein Zentrum ständiger missionarischer Aussendung.“ (EG 28). Ich wünsche der neuen Pfarrei St. Maria Magdalena Ingelheim und allen Mitgliedern, dass sie die positive Kraft der Veränderungen erleben können. Mögen Sie in der Vielfalt der Formen die Chance erkennen, im eigenen Glauben zu wachsen, bestehende Gemeinschaften zu festigen und neue entstehen zu lassen. Für den gemeinsamen Weg, auf den Sie sich nun begeben, erbitten wir in diesem Gottesdienst den Segen Gottes.