Zeit, den Himmel anzuschauen

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Pontifikalamt am Hochfest Allerheiligen Hoher Dom zu Mainz, Freitag, 1. November 2024, 10 Uhr

Herbstlicht (c) Bernhard Riedl in pfarrbriefservice
Datum:
Fr. 1. Nov. 2024
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Nicht nur die Kirchen sind in der Krise, sondern Gott und sein Himmel spielen für immer mehr Menschen keine Rolle mehr. Immer mehr Menschen unserer Zeit sagen, sie glauben nicht. Sie wollen das irdische Leben bewusst leben, aber dann ist es auch mit dem Tod vorbei. Glaubende Menschen leben mit einer Grundentscheidung für diesen Gott, für sein Licht, für seinen Himmel, für seine Ewigkeit - mit allen Zweifeln und Fragen, die sich fast täglich stellen. 

„Der kurze Blick in den Himmel, die wärmende Sonne im Gesicht, das war ein Moment wirklicher Glückserfahrung.“ Diese Aussage habe ich sinngemäß vor einigen Wochen in einem Zeitungsartikel über einen russischen Oppositionellen gelesen, der nach langer Haft in Russland durch einen Gefangenenaustausch nach Berlin gekommen war. In der Haft hatte er den Himmel in den langen Stunden eines Tages nur durch Milchglasscheiben sehen können. Als er nach Deutschland kam, konnte er in den Himmel schauen, die Sonne spüren und darin Glück erfahren. Mich hat dieses kurze Erlebnis berührt, nicht nur, weil es mich daran erinnert hat, wie viel wir oft für selbstverständlich halten und wie wenig es scheinbar braucht, um sich das Glück schenken zu lassen. Manchmal reicht es schon, in den offenen Himmel zu schauen und die Wärme der Sonne im Gesicht zu spüren. Auf eine bestimmte Weise fand ich darin eine im religiös übertragenen Sinn gute Beschreibung des heutigen Festes „Allerheiligen“. Wir nehmen uns Zeit, den Himmel anzuschauen, uns von dem Licht Gottes anstrahlen und wärmen zu lassen.

Vor beinahe 25 Jahren veröffentlichte der evangelische Theologe Heinz Zahrnt ein Buch mit dem Titel: „Glaube unter leerem Himmel“. Bereits damals beschrieb er die Krise des Christentums und der Kirchen als eine Krise des Gottesglaubens. Gott stirbt zunehmend – jedenfalls im Bewusstsein vieler Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Das Diesseits zählt, nicht die auch jenseitige Welt Gottes. Immerhin, so der Theologe, setzte das Licht Gottes, der Himmel, Leben und Horizont vieler Menschen. Aktuelle Studien bestätigen diese Einschätzung. Nicht nur die Kirchen sind in der Krise, sondern Gott und sein Himmel spielen für immer mehr Menschen keine Rolle mehr. Immer mehr Menschen unserer Zeit sagen, sie glauben nicht. Sie wollen das irdische Leben bewusst leben, aber dann ist es auch mit dem Tod vorbei. Glaubende Menschen leben mit einer Grundentscheidung für diesen Gott, für sein Licht, für seinen Himmel, für seine Ewigkeit - mit allen Zweifeln und Fragen, die sich fast täglich stellen. Es ist gut für diese Erde, dass Menschen in den Himmel schauen und darin Glück und Horizont erfahren, weil eine Erde ohne Gott sicher keine bessere werden würde. Ich persönlich treffe diese Entscheidung für Gott und seinen großen Horizont, weil ich glaube, dass ich persönlich von ihm gewollt bin. Wenn Gott ewig ist, will er auch mich ewig bei sich haben. Und wir nehmen uns die Zeit, in den Himmel zu schauen, der nicht leer ist. Mancher mag uns für kindisch oder völlig irrational halten. Damit werden wir leben müssen. Dass Menschen Gott nicht vermissen, ändert nichts an seiner Existenz und seiner Gegenwart. Er bleibt den Menschen mit seinem Licht treu, auch wenn sie nicht (mehr) glauben. Zunächst muss ich als Bischof und Christ ernst nehmen, wenn Menschen sich mit der sichtbaren Wirklichkeit begnügen und darüber hinaus nichts vermissen oder suchen.

Ich habe mich bei der Lektüre des Artikels über den russischen Oppositionellen und die beschriebene Wirklichkeit unserer Gesellschaft an das sogenannte „Höhlengleichnis“ des Philosophen Platon (427-348 v. Chr.) erinnert. Er beschreibt die Situation der Menschen in einem Gleichnis, das Sokrates seinem Dialogpartner Glaukon erzählt. In aller Kürze:  Die Menschen sitzen in einer Höhle, ihre Lichtquelle ist das Licht hinter ihnen, sie sehen wie auf einer Leinwand nur die Schatten der Menschen und Dinge, die am Höhleneingang vorbeigetragen werden. Am Ende halten sie dies für die Wirklichkeit. In ihrer Höhle sind sie zufrieden, sie vermissen nichts. Das, was sie sehen, ist ihr Alltag und ihre erfahrene Realität. Sokrates fordert nun seinen Gesprächspartner Glaukon auf, sich vorzustellen, was geschehen würde, wenn einer der Gefangenen losgebunden und gezwungen würde, aufzustehen, sich umzudrehen, in Richtung des Höhlenausgangs zu blicken und sich den Gegenständen zuzuwenden, deren Schatten er bisher beobachtet hat. Diese Person wäre schmerzhaft vom Licht geblendet und verwirrt. Sie hielte die nun in ihr Blickfeld gekommenen Dinge für weniger real als die ihr vertrauten Schatten. Daher hätte sie das Bedürfnis, wieder ihre gewohnte Position einzunehmen, denn sie wäre überzeugt, nur an der Höhlenwand sei die Wirklichkeit zu finden. Gegenteiligen Belehrungen eines wohlgesinnten Befreiers würde sie keinen Glauben schenken. Und am Ende kommt es im Gleichnis so: Der Prophet, der die Wirklichkeit gesehen hat, wird ausgelacht, am Ende getötet.

Es gibt riesige Unterschiede zwischen dem Christentum und der Lehre Platons. Aber die Erfahrung, dass sich die Menschen oft mit dem alltäglichen Schein begnügen, verbindet beide. Die Tatsache, dass die meisten Menschen nichts Weiteres vermissen, sagt überhaupt nichts über die Wirklichkeit, überhaupt nichts über die Wahrheit Gottes und seine Gegenwart. Es gibt Gott, es gibt seinen Himmel und es gibt Menschen, die sich nicht mit dem Vordergründigen begnügen, sondern aus der Höhle aussteigen und sich trauen, in den Himmel zu schauen. Bei allen innerkirchlichen Themen, die uns in der Welt, in Deutschland und im Bistum so sehr beschäftigen, wäre das doch ein gemeinsamer Auftrag. Dass wir Menschen werden und bleiben, die immer wieder in den Himmel, auf Gott, sein Licht und seine Ewigkeit schauen und darin ihr Heil und ihr Glück finden. Und die dann, auch auf die Gefahr hin, missverstanden zu werden, anderen davon Zeugnis geben, bescheiden, ohne erhobenen Zeigefinger, mit Überzeugung und Liebenswürdigkeit. Bei aller Sorge um die Zukunft von Kirche und Gesellschaft tröstet es mich, dass Platon, der Philosoph, schon vor 2500 ähnliche Diagnosen der Wirklichkeit stellen musste. Christinnen und Christen als Menschen, die den Blick in den Himmel wagen und anderen von ihren Horizonten Zeugnis geben – das wäre eine schöne Zukunftsvision. Und der Blick auf die Heiligen? Sie leben im Himmel, sie geben dem Glauben bis heute ein Gesicht. Sie waren Menschen, die in den Himmel schauten und in der Wirklichkeit dieser Erde lebten. Sie bezeugen, dass der Glaube an Gott selig machen kann und selig machen wird, jenseits der Grenzen des Todes. Wir nehmen uns Zeit, den Himmel anzuschauen, uns vom Licht Gottes anstrahlen und wärmen zu lassen. Und wir laden alle ein, sich in der Höhle umzudrehen und von den Schatten auf die große klare und helle Wirklichkeit zu schauen. Dann kann ich mit beiden Beinen auf der Erde stehen auf ihren Wegen gehen, aber mit einem Horizont und einem Ziel. Für diesen Glauben bin ich gerade in diesen Zeiten sehr dankbar.