Allerdings gilt offenbar auch: Wer gegen Religion agiert, zeigt dadurch noch nicht automatisch seine Schlauheit. Ich habe das Buch zugegeben noch nicht gelesen, aber die Zusammenfassungen und Zitate, die ich kenne, zeigen mir, wie notwendig religiöse Bildung heute ist – vielleicht mehr denn je. Dass wir auch im Religionsunterricht für eine Glaubensvermittlung stehen, die sich vor wissenschaftlichem Hintergrund vernünftig mit dem Glauben, seiner Geschichte, seiner Sprache auseinandersetzt, widerlegt die These des genannten Autors, glaubende Menschen verlören ihre kognitive Kompetenz. Sie, liebe Religionslehrerinnen und Religionslehrer, sind der lebende Beweis dafür, dass man glauben und gleichzeitig denken kann: Katholisch sein, glauben, und nicht trotzdem klug, sondern katholisch, weitherzig, gebildet, und deswegen kognitiv kompetent. Und das geben Sie an Ihre Schülerinnen und Schüler weiter.
Der Autor des Buches liest den Koran ohne sich mit Hintergrundwissen belasten zu wollen. Er selbst nennt diese Haltung Unvoreingenommenheit. Er liest den Text des Koran von vorne bis hinten und folgt dabei einzig und allein seinem „unmittelbaren Textverständnis“. Ausdrücklich lehnt er jede historisch-kritische Betrachtungsweise ab. Ich stelle mir vor, mit der gleichen Haltung liest jemand die Bibel. Da begegnet er Stellen, die sich widersprechen, die nachweislich falsch sind, die schwierig und dunkel bleiben, die zeitbedingt heute neu gedacht werden müssen. Das christliche Offenbarungsverständnis, die Bibel sei Gotteswort im wirklichen Menschenwort, und daher aus der Zeit heraus verstehbar, warnt vor einer solchen Bibellektüre. In der wissenschaftlichen Theologie bemühen sich die Theologen um derartige Fragen: Was ist zeitbedingt, wie kann man das Zeitbedingte für den heutigen Menschen fruchtbar machen? Dafür muss man die Geschichte kennen, die Entstehung von Texten, den Hintergrund der Autoren und der Adressaten, und man muss sich auch mit der Wirkungsgeschichte von Texten auseinandersetzen. Dann ist nicht jeder Satz der Heiligen Schrift unveränderliche Wahrheit, zumindest nicht im wörtlich verstandenen Sinn. Diese Gedanken sind nicht die originellen Einsichten des Bischofs von Mainz, sondern beschäftigen bereits die Kirchenväter der ersten Jahrhunderte, die sich nicht mit der vordergründigen wörtlichen Interpretation biblischer Texte begnügen. Auch die päpstliche Bibelkommission warnt vor einem unkritischen wörtlichen Textverständnis zahlreicher biblischer Stellen bereits 1993[1]: „Das Grundproblem dieses fundamentalistischen Umgangs mit der Heiligen Schrift besteht darin, dass er den geschichtlichen Charakter der biblischen Offenbarung ablehnt und daher unfähig wird, die Wahrheit der Menschwerdung selbst voll anzunehmen. Für den Fundamentalismus ist die enge Verbindung zwischen Göttlichem und Menschlichem in der Beziehung zu Gott ein Ärgernis. Er weigert sich zuzugeben, dass das inspirierte Wort Gottes in menschlicher Sprache ausgedrückt und unter göttlicher Inspiration von menschlichen Autoren niedergeschrieben wurde, deren Fähigkeiten und Mittel beschränkt waren. Er hat deshalb die Tendenz, den biblischen Text so zu behandeln, als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich diktiert worden wäre. Er sieht nicht, dass das Wort Gottes in einer Sprache und in einem Stil formuliert worden ist, die durch die jeweilige Epoche der Texte bedingt sind. Er schenkt den literarischen Gattungen und der menschlichen Denkart, wie sie in den biblischen Texten vorliegen, keinerlei Beachtung, obschon sie Frucht einer sich über mehrere Zeitepochen erstreckenden Erarbeitung sind.“
Man kann zeigen, dass diese fast zweitausendjährige Einsicht auch heute noch nicht bei allen Christen und Theologen angekommen ist. Als der Papst vor einigen Wochen ankündigte, den Katechismus hinsichtlich der Bewertung der Todesstrafe zu ändern, gab es bald auch heftigen Widerspruch: der Papst könne nicht göttliche Offenbarung verändern, die eben in der Bibel formuliert sei. Diese Bischöfe und Theologen kennen offenbar die eigene Tradition nicht. Wenn jeder Satz direkt wörtlich geoffenbarte unveränderliche Wahrheit wäre, müssten wir aktuell Ehebrecher, Gotteslästerer, Wahrsager, ungehorsame Söhne und Töchter und Menschen, die am Sabbat ihr Auto waschen, steinigen. Der Hase wäre ein Wiederkäuer (Dtn 14,7), und man könnte zahlreiche Beispiele nennen, die unser Leben heute nicht mehr prägen. Religiöse Bildung ist notwendig, um das Verständnis der Heiligen Schrift zu retten und sie nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Es bringt demnach wenig, die Bibel „unvoreingenommen“ von vorn bis hinten ohne Begleitung durchzulesen. Bildung ist unverzichtbar, um Religion verstehen zu können.
Der Kommentar in einer Sonntagszeitung zum Buch von Sarrazin unterstellt dem Autor, er verdächtige die meisten Fachleute, den Islam, und damit alle Religionen, zu beschwichtigen und zu verharmlosen. Der Religionsunterricht dagegen setzt auf Expertenwissen. Nicht, weil die Fachleute verharmlosen, sondern weil sie differenziertes Denken und vertieftes Wissen ermöglichen. Das eben erwähnte Dokument der Bibelkommission zeigt die Breite des wissenschaftlichen Interesses christlicher Theologie: Geschichte, Sprachwissenschaft, Soziologie, Empirie, Psychologie, Philosophie, Pädagogik und viele andere Felder sind wichtige Quellen theologischer Forschung. Da ist es mit einem theoriefreien Lesen theologischer Quellen nicht getan. Ohne einen solchen Hintergrund kann man das Christentum und andere Religionen nicht verstehen.
Wenn manche sich heute über Religion äußern, kann man sich nur über die Ahnungslosigkeit und das Unwissen, sowie über Vorurteile wundern. Sie, liebe Religionslehrerinnen und –lehrer, leisten eine wichtige Arbeit, indem Sie Grundlagen des Wissens schaffen, die für Menschen wichtig sind. Nicht nur für die Sinnfragen des einzelnen, sondern auch für ein Wissen, ohne das Gesellschaft nicht funktionieren kann. Kluger Religionsunterricht ist Friedensdienst. Sie zeigen nicht nur, dass man klug sein muss, wenn man Christ sein will, sondern auch, dass religiöses Wissen eine Herzenssache ist: Sie sind Zeuginnen und Zeugen für den lebendigen Gott. Dafür sage ich Ihnen heute einen herzlichen Dank. Der Rezensent des Sarrazin-Buches am Sonntag schreibt: „Er erteilt sich und seinen Lesern die Lizenz, das Wissen über den Islam (und ich ergänze: über das Christentum und andere Religionen) zu ignorieren.“ Was das Christentum und religiöse Traditionen auch anderer Religionen angeht, erteilen Sie – Gott sei Dank – den Kindern und Jugendlichen diese Lizenz zur Unwissenheit nicht.
[1] Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche = Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles 115 v. 23. April 1993 (5. Auflage 2017), bes. 72f..