60 Jahre Betriebsseelsorge im Bistum Mainz: Wir danken unter dem Leitwort „solidarisch-politisch-weltoffen“. Eines kann man sicher sagen: Seelsorge ist auch in unserer säkularen Welt ein positiv besetzter Begriff. Besonders in Notsituationen wird anerkannt, dass sich Seelsorgerinnen und Seelsorger betroffenen Menschen zuwenden.
Ich erinnere an die Flutkatastrophe an der Ahr oder an andere Krisensituationen, in denen Notfallseelsorge sich um die Menschen gekümmert und sie in ihrer Not begleitet hat. In dem Text „In der Seelsorge schlägt das Herz der Kirche“ vom März 2022 haben die deutschen Bischöfe an die vielfältigen Aufgaben der Seelsorge erinnert:
„In der Seelsorge schlägt das Herz der Kirche. Durch die Seelsorge möchte die Kirche Menschen in unterschiedlichen Situationen nahe sein; sie steht solidarisch an ihrer Seite. Sie will ihnen durch glaubende und hoffende Mitmenschen dabei helfen, ihr Leben zu deuten, zu gestalten und in Würde zu leben. (…) Bei Christen und Christinnen, aber auch bei Menschen außerhalb der Kirche, hat das Wort Seelsorge nach wie vor einen guten Klang. Wenn es über jemanden heißt: ‚Das ist ein echter Seelsorger‘, ‚Das ist eine echte Seelsorgerin‘, dann ist das vielleicht das größte Kompliment, das man einem kirchlichen Mitarbeiter, einer kirchlichen Mitarbeiterin machen kann. Denn als ein Seelsorger oder eine Seelsorgerin gelten Personen,
Das trifft auf unsere Betriebsseelsorgerinnen und –seelsorger in jedem Fall zu. Als Bischof will ich ihnen einen herzlichen Dank für ihre alltägliche Arbeit sagen. In dem Seelsorgetext der Bischöfe taucht das Wort der „Solidarität“ auf. Es gehört zum Prinzip der katholischen Soziallehre und zum Wesen der Betriebsseelsorge. Das lateinische Wort bedeutet „fest zusammenfügen“. Seelsorge berührt damit nicht nur den Bereich der reinen „Frömmigkeit“ oder Innerlichkeit. Menschen in einer Gesellschaft und auch in Arbeitsbeziehungen sind verbunden und tragen Verantwortung füreinander. Die katholische Soziallehre hat mit diesem Prinzip einen guten Weg gefunden, um einerseits das Recht der Person auf gerechte Behandlung und andererseits auch an die Verantwortung jedes und jeder Einzelnen für das Gemeinwohl zu erinnern. Diese Verantwortung tragen selbstverständlich nicht nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern auch die, die Arbeit anbieten. Ich darf auch sagen, dass ich als Bischof vielen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern begegne, die sich ihrer Verantwortung im christlichen Sinne bewusst sind. Und dennoch müssen unsere Seelsorgerinnen und Seelsorger immer wieder auch in die Konfrontation, indem sie die Arbeitenden unterstützen. Ich denke an die Hilfe für die LKW-Fahrer, die oft unter menschenunwürdigen Bedingungen durch ganz Europa unterwegs sind. Der arbeitende Mensch ist „nicht das Objekt gesellschaftlicher, vor allem wirtschaftlicher Prozesse“ (Joseph Kardinal Höffner). Dass ein Mensch arbeiten kann, ist Ausdruck seiner Würde und ein Beitrag zum Gemeinwohl. Arbeitsbedingungen müssen schlussfolgernd so gestaltet sein, dass die Arbeit und auch die Entlohnung Ausdruck der Menschenwürde sind. Dafür setzt sich die katholische Soziallehre ein, und die Betriebsseelsorge ist vielleicht eine Art Einsatzgruppe, um diese Solidarität zu bezeugen und gegebenenfalls einzufordern. Dass sie damit manchmal in eine bestimmte politische Ecke gestellt wird, verbindet sie mit dem argentinischen Papst Franziskus, den manche sogar als Kommunisten beschimpfen.
In der Betriebsseelsorge ist die Kirche und ihr Engagement politisch. Nicht selten ist davon die Rede, dass die Kirche sich aus der Politik heraushalten und sich um Seelsorge kümmern solle. Ich meine gut dargelegt zu haben, dass Seelsorge auch eine politische Dimension hat. Dabei stehen die Seelsorgerinnen und Seelsorger selbstverständlich auch einzelnen Menschen zur Seite, aber sie sehen darin keinen Gegensatz zum gesellschaftlichen Engagement. Wer die Kirche aus politischen Fragen heraushalten will, sollte sich der Tradition bewusst sein. Ich habe an die katholische Soziallehre erinnert. Aber das war nicht der Anfang. Natürlich ist die Bergpredigt ein politischer Text, wenn Jesus die Verfolgten und Ausgebeuteten, die Friedensstifter und Gerechten, die Armen und Trauernden seligpreist. Mancher Prophetentext ist ein hochpolitisches Statement:
„Hört dieses Wort, die ihr die Armen verfolgt / und die Gebeugten im Land unterdrückt! Ihr sagt: Wann ist das Neumondfest vorbei, dass wir Getreide verkaufen, / und der Sabbat, dass wir den Kornspeicher öffnen können? Wir wollen das Hohlmaß kleiner und das Silbergewicht größer machen, / wir fälschen die Waage zum Betrug, um für Geld die Geringen zu kaufen / und den Armen wegen eines Paars Sandalen. / Sogar den Abfall des Getreides machen wir zu Geld. Beim Stolz Jakobs hat der HERR geschworen: / Keine ihrer Taten werde ich jemals vergessen.“ (Am 8,2-7).
Die Armen werden ausgebeutet und Gott ergreift Partei. Eine politischere Botschaft kann es wohl nicht geben. Die Kirche steht bis heute in dieser Verantwortung, auch im Bewusstsein, dass sie in ihrer Geschichte häufig Ausbeuterin und nicht Partnerin der Armen war. Sich heute politisch anders zu positionieren, ist auch eine Folge der Übernahme von Verantwortung für die lange Kirchengeschichte mit Licht und Schatten. Heute werden wir politisch Partei ergreifen müssen für viele Menschenrechtsverletzungen: in der Arbeitswelt, im Lebensschutz, in Fragen des Friedens und der Gerechtigkeit, im Einsatz für die Schöpfung und viele andere Themen. Damit verlassen wir nicht den Bereich des Evangeliums, ganz im Gegenteil. Und wenn die deutschen Bischöfe an die Unmöglichkeit erinnern, völkischen Nationalismus mit christlichen Positionen oder gar der Achtung der Menschenwürde zu vereinbaren, bestätigen sie diese Linie. Menschenwürde lässt sich nun einmal nicht abgestuft zuerkennen. Wer sich hier ungebührlich angegriffen fühlt, sollte die Schuld nicht nur bei der Kirche oder den Bischöfen suchen. Eine Seelsorge, die nicht weltoffen ist, scheint mir unvorstellbar. Die Nähe zu den Themen der Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenslagen verhindert, dass sich die Kirche in eine religiöse Sonderwelt zurückzieht. Gerade angesichts der demographischen Entwicklungen ist die Versuchung gegeben, sich auf einen frommen Kern zurückzuziehen. Mittlerweile scheint mir der Begriff der „Evangelisierung“ oft zu einem polemischen Kampfbegriff verkommen zu sein. Ich muss immer wieder hören, dass nur der evangelisiere, der die klare Lehre verkünde. Die Lehre der Kirche ist hier weiter, gerade auch die Lehre der letzten Päpste. Einigen möchte ich empfehlen: Lest die lehramtlichen Texte der letzten Jahrzehnte. Sie eröffnen einen viel weiteren Horizont, als Evangelisierung mit Textstudium und Innerlichkeit gleichzusetzen. Natürlich dürfen wir dabei nicht nachlassen. Aber die Orte der Solidarität, der seelsorglichen Begleitung, des Einsatzes für Gerechtigkeit und Frieden, auch in der Kirche, sind Orte der Evangelisierung. Die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung ist sicher nicht das Evangelium, aber sie zeigt, dass in diesen Bereichen viele Menschen auch in unserer Gesellschaft durchaus auf die Botschaft der Kirche warten. Die Betriebsseelsorge bildet einen wichtigen Kern kirchlichen Handelns, und sie zeigt, wie die Kirche insgesamt sein kann: „solidarisch-politisch-weltoffen“. Ich denke mit Respekt an alle, die Seelsorge in den letzten 60 Jahren gestaltet haben, und ich danke allen, die dies heute tun. Möge Gott alle weiteren Wege segnen und uns ermutigen, in diesem Sinne an der Seite vieler Menschen zu stehen.