Warum ein „Aufruf“ der deutschen Bischöfe zur Bundestagswahl?

Wort des Bischofs im Südwestrundfunk am Sonntag, 4. September 2005

Datum:
Sonntag, 4. September 2005

Wort des Bischofs im Südwestrundfunk am Sonntag, 4. September 2005

Das Wort der deutschen Bischöfe, das heute in allen Kirchen zur Kenntnis gegeben wird, ist kein Wahlhirtenbrief, wie ihn viele von früher her kennen und meist radikal ablehnen. Freilich, auch die früheren Wahlhirtenbriefe waren nie eine plumpe Empfehlung einer einzigen Partei. Aber die Beurteilung der Situation und die Kriterien für die Wahl haben nicht selten den so genannten mündigen Bürger und die Freiheit eines Christenmenschen erzürnt.

Wenn wir dennoch einen Aufruf – dies ist die Bezeichnung – zur Bundestagswahl am 18. September veröffentlichen, dann muss dies kein zahnloser Papiertiger sein. Jeder Wahlkampf hat ja zunächst einmal seine Gefährdungen. Manches, was vor dem Wahlkampf gemeinsame Überzeugung war, wird plötzlich zur politischen Waffe. Versprechungen, die man früher scheute, weil keiner die Finanzierung zusagen konnte, werden wohlfeil. Man scheut auch nicht zurück vor der persönlichen Verunglimpfung des politischen Gegners.

Immer wieder wünscht man sich einen Wechsel des Stils. Aber offenbar gibt es ein unverbesserliches Kampfritual, das in solchen Entscheidungssituationen kaum zu ersetzen ist. Wenn es milder ausfiele, würde es die Angriffsspitze verlieren. Eine weitere Gefährdung sehe ich auch in der Verlagerung des Wahlkampfes in die Medien, vor allem das Fernsehen: Hier ist vieles auf Leichtigkeit und Schnelligkeit, aber auch das Format eher unterhaltender Sendungen angelegt. In den Talkrunden sitzen wiederum meist die Streithähne, weniger unabhängige Experten.

Vieles ist durch den Druck der Wahlkampfsituation verständlich, besonders wenn er so kurz wie heute ist, fast ein Blitzlicht. Dennoch braucht es gerade hier auch kritische Gegenakzente und auch eine Art von Widerlager, damit die Dinge nicht zu leichtfüßig dargestellt werden. Der Aufruf möchte darum das Bewusstsein dafür schärfen, dass viele Probleme von heute in längerfristigen Prozessen geklärt und gelöst werden müssen. Wenn man sich nur auf die nächsten vier Jahre stürzt, können oft nur Flickwerk und Durchwurschteln das Ergebnis sein. Darum heben die Bischöfe auch auf diese neuen Herausforderungen ab, die eine sorgfältige Analyse der geschichtlichen und sozialen Entwicklung erfordern: die Arbeitslosigkeit; unsere schrumpfende Gesellschaft; die Folgen der Globalisierung, nicht zuletzt auch in ihrer europäischen Dimension. Der Sozialstaat muss bei allem notwendigen Umbau langfristig gesichert werden. Auch in der Verbesserung der Bildung braucht man Geduld zum Wachsen- und Reifenlassen.

Diese längerfristigen Aufgaben erlauben nicht nur pragmatische Maßnahmen, die man immer wieder zu Anpassung und Korrektur braucht, sondern benötigen dringend eine langfristige Wertorientierung. Nur so lassen sich größere gesellschaftliche Aufgaben mittel- und langfristig gestalten.

Die Hektik und der Lärm des Wahlkampfes decken diese tieferen Bedürfnisse oft einfach zu. Man darf sie aber nicht verschweigen, auch wenn man sie jetzt nicht lösen kann. Es geht bei der Wahl auch um die Beurteilung von Frauen und Männern, die nicht nur Sachkenntnis mitbringen, sondern auch aus einer Wertorientierung heraus Kraft, Geduld und den langen Atem haben, um ohne Scheuklappen und Menschenfurcht das zu realisieren, was uns Not tut.

Der „Aufruf“, der freilich relativ kurz sein muss, erinnert an diese grundlegenden Aufgaben, die jede Partei gerade auch nach der Wahlentscheidung herausfordern. Dann sollten wir sie auch jetzt stärker vor Augen halten und behalten.

© Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz