Christ.Sein.Bewegt.

Festpredigt zur Wallfahrt des Dekanats Rüsselsheim nach Maria Einsiedel Samstag, 15.09.2018, Fest der Schmerzen Mariens

Datum:
So. 16. Sept. 2018
Von:
Weihbischof Bentz
Schwestern und Brüder, Schmerz ist etwas, das eigentlich nicht sein soll. Schmerz ist ein Alarmsignal des Körpers. Etwas stimmt nicht. Etwas bedroht unseren Leib und seine Gesundheit. Oder unsere Seele ist verletzt. Das Gleichgewicht ist gestört. Schmerz ist dort, wo Übel ist. Schmerz ist dort, wo Leid ist. – Wo immer etwas ist, was nicht sein soll – da ist Schmerz!

Weihbischof Dr. Udo Markus Bentz, Mainz
Generalvikar

Unsere Medizin versucht das Menschenmögliche, um den Schmerz in den Griff zu bekommen, ihn auszuschalten oder doch zumindest erträglich zu machen. Schmerzfrei sein ist das, was man erstrebt, wenn alles andere nicht mehr geht.

Gleichzeitig wissen wir aber: Wenn wir jeden Schmerz ausschalten, dann hat das seinen Preis. Es geht nur auf Kosten der Empfindsamkeit. Schmerz ausschalten hat immer etwas mit Betäubung zu tun. Wenn seelische, psychische Schmerzen mit Medikamenten reguliert werden, dann ist das nur möglich um den Preis, dass Patienten in einer gewissen Weise „abstumpfen“ und wie „unter einer Glocke“ ihr Dasein erleben. Ein Mensch, der wegen des Schmerzes stark betäubt ist, kann auch keine wirkliche Freude empfinden. Ein Mensch, der völlig schmerzunempfindlich wäre, könnte nicht überleben. Er würde sich selbst ständig gefährden und verletzen, ohne es zu spüren.

Also gehört zum Leben und zur Lebendigkeit die Erfahrung von Schmerz dazu. Auch wenn dieser Gedanke zunächst einmal schwer ist: Die Erfahrung von Schmerz kann nicht unter allen Umständen ausgeschaltet werden, sonst nimmt man dem menschlichen Leben seine Tiefe! Wollten wir jeden Schmerz ausschalten, würden wir uns anmaßen, alles Leid aus dem Leben verbannen zu können. Welch eine Utopie!

Unser christlicher Glaube geht einen anderen Weg: Hier wird der Schmerz und das Leid im menschlichen Leben nicht ausgeblendet. Leid wird im Glauben nicht narkotisiert. Es geht nicht um eine falsche Leidens- und Schmerzmystik: Wo Leid und Not bestehen, sind wir aufgefordert, Veränderung zu schaffen; wo wir aber ohnmächtig sind gegenüber der Macht von Leid, da kann der Christ das Leid annehmen und durchtragen im Blick auf den Gekreuzigten und das eigene Leid bewältigen.

Das Leiden und Sterben Jesu ist die Mitte und der Grund unserer Erlösung und Befreiung. Das neue Leben von Ostern ist ohne das Kreuz nicht möglich. Der Christ kann das Kreuz nicht ohne Ostern denken. Er kann aber auch Ostern nicht ohne das Kreuz denken.

Hier in Maria Einsiedel werden zwei Gnadenbilder verehrt. Das ältere davon ist ein solches Schmerzensbild, eine Holz-Pieta, die den Schmerz nicht ausblendet sondern „darstellt“ und uns deutlich und ungeschminkt vor Augen stellt: eine vom Schmerz durchdrungene Frau mit ihrem toten Sohn auf dem Schoß. Daraus haben alle Generationen durch die Geschichte der Kirche hindurch Kraft, Zuversicht und Hoffnung geschöpft: Mit Blick auf den Gekreuzigten, das eigene Leid bewältigen! Es ist kein Wunder, dass in der Geschichte die Betrachtung der Schmerzen Mariens immer dann eine Blüte erfuhr, als die das Leid und Geschick der Menschen besonders hart war.

Liebe Pilgerinnen und Pilger, Sie sind heute am Fest der Schmerzen Mariens hierher zu dieser Schmerzensmadonna gepilgert - unterwegs mit dem Leitwort: Christ.Sein.Bewegt. Und dieses Leitwort ist gut gewählt – denn es gibt eine innere Verbindung, eine Brücke zwischen dem, was wir bisher überlegt haben, und ihrem Leitwort:

Christ.Sein.Bewegt. Was bewegt uns? Was rührt uns an? Was lässt uns nicht gleichgültig? Wenn ich sage: „Ich bin bewegt.“ Dann meine ich damit, ich bin getroffen und berührt von etwas – das sind starke Emotionen – Freude und Schmerz…

Christ.Sein. heißt: Die Augen nicht verschließen, sich nicht betäuben und ablenken lassen vom Leid und Schmerz der Menschen. Und dieses Leid und den Schmerz auch nicht einfach „fromm übertünchen“. Zum Christsein – für uns als Kirche – gehört in die Mitte unseres Glaubens, dass wir uns aufrichtig bewegen und berühren lassen von dem, was die Menschen bewegt: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, sind auch die Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi!“ So sagt es das Konzil (GS 1). Wir können unseren Glauben nicht überzeugend leben und wir können als Kirche unseren Auftrag nicht erfüllen, wenn wir wie unter einer Dunstglocke abgeschirmt von dem, was die Menschen bewegt, unseren Glauben selbstgenügsam zelebrieren. Solche geistliche Selbstgenügsamkeit verrät die Berufung und den Auftrag Jesu an uns – seine Jünger! Das selbst gewählte, gut behütete Milieu, eine Kirche, die - sich selbst schützend – abschirmt, lässt sich nicht bewegen und bewegt auch nichts!

Wo wir nah dran bleiben an Leid und Schmerz, an der Angst und Unsicherheit, aber auch an der Freude, der Sehnsucht und Hoffnung der Menschen, da sind wir bewegt und werden uns bewegen und werden etwas bewegen – als einzelne Christen und gemeinsam als Kirche:

Ein Teil der Pilgergruppe war als Radwallfahrt der Betriebsseelsorge unterwegs … bewegt zur Solidarität in der Arbeitswelt: Bewegt uns die Belastung und die Frustration der Menschen, die zwar Arbeit haben, aber gerade im niedrigen Lohnsektor mehrere Arbeitsstellen bewältigen müssen, um ein angemessenes Auskommen zu haben? Bewegt uns die Unsicherheit, die die Menschen gerade im Dekanat Rüsselsheim durch die Veränderungen in den hier ansässigen Betrieben der Automobilindustrie umtreibt? Bewegt uns die Überforderung, die viele Arbeitnehmer spüren, weil sie mit der voranschreitenden Digitalisierung nicht mehr Schritt halten können?

Bewegt uns Christen die bedrängende Erfahrung, dass man in unserem derzeitigen gesellschaftlichen Klima anscheinend immer unverhohlener Ausgrenzung und Abwertung bestimmter Menschen artikulieren kann und damit Ängste politisch gewollt offenkundig geschürt und verbaler und tatsächlicher Gewalt Vorschub geleistet wird?

Bewegt uns die Angst der Menschen in Idlib in Syrien, denen ein massiver militärischer Sturm droht und Tausende weiterhin zwingt, ihre Heimat zu verlassen? Bewegt es uns, dass wir weitaus weniger Energie und Aufmerksamkeit auf die Ursachen der Flucht richten als vielmehr mit Absicherung beschäftigt sind?

Eine solche Wallfahrt mit diesem Leitwort fordert auf, auch bei uns selbst ganz persönlich nachzufragen: Was bewegt mich als Christ an Leid und Not der Menschen, mit denen ich zusammenlebe? Die verborgene und versteckte Not und Sehnsucht in meinem unmittelbaren Umfeld? Was bewegt mich an Freude und Hoffnung, die ich teilen möchte, damit etwas in Bewegung kommt?

Was bewegt uns noch?

In diesen Tagen bekommen wir ungeschminkt gezeigt, dass wir uns in den vergangenen Jahrzehnten zu wenig haben treffen und bewegen lassen vom Leid der Betroffenen sexualisierter Gewalt und uns selbst als Kirche lange Jahre zu sehr geschützt und abgeschirmt, immunisiert und anästhesiert hatten gegenüber diesem Leid, das Kindern nie hätte widerfahren dürfen. Jetzt wird uns in ungeschminkter Härte die ganze Realität vor Augen geführt. Und das lässt niemanden gleichgültig. „Christ.Sein.Bewegt.“ – unter diesem Blickwinkel bekommt das Leitwort Ihrer Wallfahrt hierher zum Gnadenbild der Pieta und am Gedenktag der Schmerzen Mariens eine ganz eigene Wucht. Diese Realität, der wir nicht mehr ausweichen können, schmerzt. Das tut allen weh. Aber dieser Schmerz ist hoffentlich heilsam. Jedenfalls ist er notwendig. Das bewegt… Ich will hoffen und vertrauen – und das auch mir Mögliche in meiner Verantwortung dazu beitragen –, dass uns das als Kirche tatsächlich so bewegt, dass etwas in Bewegung kommt, dass wir nicht nur aufklären sondern auch durch ehrliche Aufarbeitung in der kommenden Zeit aufrichtig verändert den Weg in die Zukunft suchen.

„Christ.Sein.Bewegt.“ Ich will noch einmal daran anknüpfen: „Christ.Sein.“ heißt: Die Augen nicht verschließen, sich nicht betäuben und ablenken lassen vom Leid und Schmerz der Menschen. Und dieses Leid und den Schmerz auch nicht einfach „fromm übertünchen“. Nur wer sich bewegen lässt, kann etwas bewegen. Wenn das, was die Menschen wirklich bewegt, für uns als Kirche die erste Priorität hat, dann erliegen wir weniger der Gefahr, uns zu sehr um uns selbst zu drehen, denn das ist die immer wiederkehrende Versuchung der Christen – als Einzelne, als Gemeinden, als Bistum, als Kirche.
Christ.Sein.Bewegt. Uns bewegt ein Gott, dem das Schicksal der Menschen und seiner Schöpfung nicht gleichgültig ist. Weil der Mensch Gott nicht gleichgültig ist, ist auch uns Christen der Mensch nicht gleichgültig. Wo wir also nah dran bleiben an Leid und Schmerz, an der Angst und Unsicherheit, aber auch an der Freude, der Sehnsucht und Hoffnung der Menschen, da sind wir bewegt und werden uns bewegen und dann werden wir auch in Zukunft als Kirche inmitten dieser Gesellschaft etwas bewegen.