Die Krippe fasziniert in jedem Jahr die Menschen: ein neugeborenes Kind, die Eltern, Stroh und Stall, Ochs und Esel. Zuhause im Wohnzimmer, der Besuch einer Krippe in einer unsrer Kirchen, die lebendigen Krippen an manchen Orten oder eine „Drive-in-Krippe“ wie im Odenwald - das Motiv der Geburt des Kindes, die Szene auf den Feldern von Bethlehem hat für viele nichts von ihrer Faszination verloren. Gewiss spielt da auch die nostalgische Grundstimmung eine Rolle, die zum Weihnachtsfest dazugehört. Die Krippe ist aber - davon bin ich überzeugt - für viele Menschen in unsrer Gesellschaft und weit über eine kirchliche Bindung hinaus nicht nur ein Relikt nostalgischer Sentimentalität. Die Krippe ist ein Ort, die den Betrachter anspricht und tiefere Schichten in uns berührt als nur längst vergangene Kindertage.
Das Kind in der Krippe, die Eltern, die ganze Szene rührt an die tief in uns verwurzelte Sehnsucht nach Leben. Ein neugeborenes Kind konfrontiert uns mit dem Wunder des Lebens, der Unverfügbarkeit des Lebens, der Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz. Dieses neugeborene Kind im Stall anzuschauen, ruft in mir unweigerlich die Frage nach dem Geheimnis meines eigenen Lebens hervor: „Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst? Des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ (Psalm 8,5) Das macht Weihnachten für uns Christen aus: Wir feiern dankbar die Geburt des Gottessohnes - und darin feiern wir das Wunder menschlichen Lebens, das Gott mit uns geteilt hat! Wir feiern die Würde des menschlichen Lebens, weil Gott sich nicht zu schade war, selbst dieses menschliche Leben zu leben. Wir feiern die Einzigartigkeit eines jeden Menschen, die Unantastbarkeit seiner Würde - weil Gott selbst einen jeden Menschen als einzigartiges Geschenk ins Leben gerufen hat, über das niemand verfügen kann.
Eine gute, aussagestarke Krippendarstellung ist aber nie nur die künstliche Welt der Idylle. Jede Idylle ist trügerisch. Keine Idylle trägt angesichts der Zumutungen, die das Leben einem bereitet, erst recht nicht an Weihnachten. So blendet eine aussagestarke Krippe die ganze Realität des Lebens gerade nicht aus, sondern macht auch diese Seite des Lebens zum Thema: Ich erinnere mich, wie betroffen ich war, als ich das erste Mal in Bethlehem selbst - nur wenige Meter vom israelischen Sperrwall entfernt - die Krippendarstellung des street-art Künstlers Bansky gesehen habe, deren Hintergrund nicht der Stall sondern eben jene trennende Mauer um Bethlehem war, aber durchschossen und gerade im Detonationsloch ein leuchtendes Licht. Die Geburt Jesu umfasst alle Schichten des menschlichen Lebens, auch das Leid, die Armut, die Gewalt, der jedes Leben ausgesetzt ist: Stroh - Armut in jedweder Form; Stall oder Höhle - die äußere Heimatlosigkeit und das fehlende Obdach, aber auch die innere, seelische Unbehaustheit vieler; ein grübelnder Josef - die Rätsel menschlicher Schicksale; im Hintergrund ein Herodes, der totalitäre menschenverachtende Tyrann - Gewalt, die in vielen Formen dem Leben angetan wird.
Das aber ist die Kraft des Weihnachtsfestes - dieser Heiligen Nacht: Wir feiern die Würde des Lebens, die Faszination des Lebens, das Geschenk des Lebens auch und gerade und trotz der Verunsicherung unsrer Tage, der Nacht des Leidens, die viele in ihrem Griff hat! Weihnachten ist nicht nur eine Botschaft für uns Christen - Weihnachten ist eine Einladung an alle: ehrlich und nüchtern auf die Realität des Lebens zu schauen - und trotz allem das Wunder, die Einzigartigkeit, das Geschenk unseres menschlichen Lebens nicht aus dem Blick zu verlieren sondern dankbar anzunehmen - weil Gott dieses menschliche Leben geheiligt und selbst gelebt hat. Insofern ist Weihnachten ein Fest der Zuversicht, der Hoffnung und der Menschlichkeit!
Die Krippe gibt uns damit auch den Maßstab vor, wo wir als Christen - wo wir als Kirche - unseren Platz haben im hier und heute: Es braucht in unsrer Zeit - inmitten unsrer Gesellschaft - lebendige Krippen aus Fleisch und Blut im hier und heute - also Orte, an denen wir Christen leben und feiern, woran wir glauben. Orte, an denen Menschen erfahren und spüren, was uns von Weihnachten her trägt:
Es braucht sakrale, heilige Ort - ausgespart aus der Funktionalität des Alltags - an dem das Geheimnis des Leben gefeiert wird durch Gebet und Gottesdienst, Kunst und Musik. Unsere Kirchen sind so etwas wie „ganzjährige Krippen“, in denen das von Gott beschenkte Leben in allen Höhen und Tiefen gefeiert wird - es muss uns nur gelingen, dieses Leben - wie es nun einmal ist - auch innerhalb der Kirchenmauern zur Sprache zu bringen.
Es braucht ganzjährige Krippen, also diese Orte, an denen die Zerbrechlichkeit aber auch die unantastbare Würde des menschlichen Lebens garantiert ist: in unseren sozialen Einrichtungen, im Hospiz, unseren Altenheimen, unsren Kliniken, unsrer palliativen Kultur - es braucht also Schutzräume für das schwache, bedürftige Leben.
Es braucht ganzjährige Krippen, also diese Orte, an denen Menschen mit ihrer seelischen Not Zuflucht finden können - in unseren Beratungseinrichtungen, der Telefonseelsorge, der Seelsorge in Kliniken, in Notfallsituationen, aber auch in Gefängnissen und an anderen besonderen Orten…
Es braucht ganzjährige Krippen, also diese Orte, an denen die Einzigartigkeit eines jeden Menschen, seine Möglichkeiten und Gaben zur Entfaltung kommen können in unseren KiTa‘s, ins unseren Schulen, in unseren Gruppen und Kreisen der Gemeinden…
Weihnachten geht weiter über Heilig Abend hinaus. Wenn im Januar unsere Krippen wieder gut verpackt für das kommende Fest verstaut werden, dann kommt es darauf an, dass all diese „ganzjährigen Krippen“ inmitten unsrer Gesellschaft lebendig sind: Orte, an denen das Wunder des Lebens und die Last des Lebens von einem Glauben getragen sind, das Gott jedes menschliche Leben geheiligt hat.
Dazu ist Kirche da! Unsere Kirchorte sind inmitten unsrer Gesellschaft keine Sonderwelten einer untergegangen Geschichte, der man nostalgisch hinterher trauert. Unsere Kirchorte sind auch keine künstlichen Biotope einer Kultur, die mit der Gegenwart nichts zu tun haben will. Weihnachten ruft uns als Kirche - und als Christen jeden von uns - dorthin, wo das reale Leben gelebt wird. Unsere Kirchorte sollen Orte inmitten unsrer gesellschaftlichen Gegenwart sein, an denen mit den Augen Gottes, der für uns Mensch geworden ist, auf das Leben geschaut wird, das Leben dankbar gefeiert wird und das Leben in all seiner Last Entlastung, Schutz und Geborgenheit finden kann.
Dann kommt es nicht darauf an, wieviele solcher lebendigen Krippen - solcher Kirchorte - wir haben. Es geht nicht um eine gesellschaftliche Präsenz der Kirche im Sinne „wie stark ist unsere Macht und unser Einfluss“ ist, sondern ob wir wirklich gewährleisten können, dass auch das an diesen Kirchorten gelebt wird, was das „weihnachtliche Profil der Menschwerdung“ uns vorgibt! Das wird eine der großen Veränderungen der Zukunft unsrer Kirche sein: weniger kann mehr sein, Qualität vor Quantität. Es bleibt der Anspruch: an möglichst vielen Orten möglichst vielen Menschen nahe sein, aber nur wenn wir dort auch leben und garantieren, woran wir glauben. Und da halte ich es mit Oscar Wilde, der gesagt hat: Das Gewöhnliche gibt der Welt Bestand, das außergewöhnliche gibt ihr ihren Wert! In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine gesegnete Weihnacht!