Die Unterscheidung von sakralem und öffentlichem Raum darf nicht zur Rechtfertigung dienen, dass wir zwischen uns Mauern errichten - oder meinen Gott einen Dienst zu tun, wenn wir einen Wall errichten zwischen „Gott und Welt“, hinter dem sich doch nur unsere eigenen Ressentiments verbergen und wir damit unsere eigenen Vorurteile und gegenseitigen Aburteilungen kultivieren. Das widerspricht dem Geist der Eucharistie.
Millionen von Menschen haben vor einigen Wochen das Spektakel rund um die Krönung von König Charles III. vor den Bildschirmen verfolgt. Eine fast magische Anziehungskraft übte dieses Ritual auf viele Menschen aus. Klar, niemand kann so prächtig königliches Protokoll in Szene setzen wie die Briten. Die Feier hat aber auch erneut hitzige Diskussionen ausgelöst: Immer mehr Menschen fragen, wie zeitgemäß so etwas noch ist. Gerade unter der jüngeren Generation scheint die Akzeptanz der Monarchie in England zu schwinden. Eine solch höfische Prachtentfaltung wird mehr und mehr in Frage gestellt. Dabei darf man nicht unterschätzen, welche Kraft in solchen Ritualen steckt: Sie schaffen Identität. Nichts an diesem Tag blieb dem Zufall überlassen. Alles war symbolisch, rituell-religiös aufgeladen. Es gab sehr intime, dem öffentlichen Blick entzogene Momente wie die Salbung des Königs hinter herbeigetragenen Stellwänden. Dann aber auch die prächtige Präsentation dessen, was vorher innerlich geschah, jetzt nach außen für alle sichtbar: Die Parade - oder war es doch eher eine Prozession - von der Kirche zurück zum Buckingham-Palace stellte öffentlich zur Schau, was in der Feier im sakralen Raum der Westminster Abbey geschehen war. Das eine ohne das andere wäre nicht denkbar gewesen.
Hier entdecke ich eine Brücke zum heutigen Fronleichnamsfest: im öffentlichen Raum geschieht, was eigentlich dem sakralen Raum vorbehalten ist. Und ich bin der Überzeugung: Das eine ist ohne das andere nicht denkbar.
Für viele ist gerade Fronleichnam mit seiner „katholischen Prachtentfaltung draußen auf den Plätzen der Stadt“ einer der typischsten katholischen Feiertage. Wahrscheinlich wirkt gerade in unseren heutigen Städten für viele „Zuschauer“ am Rande des Prozessionsweges dieses Fest wie aus der Zeit gefallen. Sie sind befremdet von dem, was sie sehen. Vielleicht ähnlich wie bei den Krönungsfeierlichkeiten in London: ein schön anzusehendes Spektakel!
Es geht um mehr, als einfach draußen Gottesdienst zu feiern. Es geht um mehr als um eine öffentlichkeitswirksame Inszenierung hier auf der Hessentagsbühne. Jedes Ritual transportiert mit seiner äußeren Gestalt eine Botschaft, so auch hier auf dem Hessentag. An Fronleichnam wird in der Öffentlichkeit nicht irgendein Gottesdienst, sondern Eucharistie gefeiert. Das ist das intime letzte Abendmahl, das Jesus mit seinen Jüngern am Abend vor seinem Tod am Kreuz gefeiert hat. Damals hatte Jesus seinen Jüngern aufgetragen, dieses Abendmahl immer und immer wieder zu seinem Gedächtnis zu feiern. Und „Gedächtnis“ meint hier nicht einfach „Erinnerung“ an früher sondern lebendige Gegenwart: „Wann immer ihr dieses Mahl zu meinem Gedächtnis feiert, bin ich lebendig mitten unter euch.“ - so Jesu Botschaft an die Jünger damals.
„Lebendig mitten unter uns!“ Für unzählig viele ist seit damals bis heute die Feier der Eucharistie und der Empfang des gewandelten Brotes in der Kommunion das Zeichen schlechthin dafür, wie Jesus sich aus Liebe ganz dem Menschen hingegeben hat; dass es um ein inneres Einssein Gottes mit dem Menschen geht und dass Gott tatsächlich präsent ist und das heißt auch: wirksam im Hier und Heute mitten unter uns ist. Ja, es ist nicht die einzige Weise der Präsenz Gottes in der Welt. Er ist auch gegenwärtig, wo immer in seinem Geist gehandelt und gelebt wird, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind. Er ist gegenwärtig in den Armen, den Entrechteten, im Antlitz des Anderen. Die Eucharistie ist dennoch Quelle und Höhepunkt der Präsenz für uns als katholische Kirche, sie ist der Kristallisationspunkt der Gemeinde und des christlichen Lebens - und sie muss es auch bleiben! Das haben die Jünger nach dem Tod und der Auferstehung Jesu schon so erlebt: Wenn sie zur Gemeinschaft zusammenkamen, gemeinsam beteten, die Worte der Heiligen Schrift vorlasen und Brot und Wein im Gedächtnis an Jesus miteinander teilten, dann war diese Feier für sie der Dreh- und Angelpunkt ihrer Gemeinschaft. Das war identitätsstiftend. Das war damals so. Und bis heute hat dieses Zeichen, dieses Sakrament seine Kraft nicht verloren. Es ist eine ganz intensiv erlebbare Brücke zwischen Gott und Mensch. Zwischen Gott und unserem Hier und Jetzt!
Jeder christliche Feiertag rückt einen besonderen Aspekt des Glaubens in den Mittelpunkt. Der Feiertag Fronleichnam kehrt gewissermaßen das Innere nach außen. Der innere Kern, was uns als Kirche ausmacht, wird nicht abgeschlossen und geschützt hinter dicken Mauern gefeiert. Die Kirche erlag immer wieder dieser Versuchung, sich gegenüber der Welt abzuschließen und sich selbst zu genügen. Die Dynamik und die Botschaft des heutigen Festtages will zeigen: Gott ist lebendig gegenwärtig inmitten unsrer Zeit, inmitten des Lebens der Menschen, inmitten des gesellschaftlichen Alltags. Das Evangelium ist ein Angebot zum Leben und zwar nicht für wenige Auserwählte, sondern eine Kraftquelle zum Leben für alle. Indem die Kirche heute das Innerste nach außen kehrt, zeigt sie: „Wir sind kein abgeschlossener Club von Gleichgesinnten.“ Papst Benedikt hat das einmal bei einem Fronleichnamsfest so formuliert: „Sinn der Eucharistie ist nicht Privatsache im Freundeskreis in einem Club von Gleichgesinnten, in dem man sich gegenseitig heraussucht und so unter denen, die schon zusammenpassen, zueinander kommt, sondern so wie der Herr öffentlich vor den Mauern der Stadt, vor dem Angesicht der Welt… (am Kreuz) seine Hände ausstreckt auf alle hin, so ist Eucharistiefeier der öffentliche Gottesdienst aller, die der Herr ruft.“ Ja, es braucht den inneren, geschützten, den sakralen Raum, der ausgespart bleibt vom Alltäglichen. Räume, sakrale Räume ermöglichen Innerlichkeit. Sakrale Räume erbauen unsere Innerlichkeit. Davon lebt Religion. Solche Räume zu ermöglichen und als solche zu schützen, dazu braucht es Achtsamkeit, Sensibilität und Rücksichtnahme. Darin dürfen wir uns nicht gegenseitig überfordern. Dieser sakrale, vom Alltäglichen ausgesparten Raum darf aber nicht Mittel zum Zweck werden, verhärtete Haltungen der Ausgrenzung zu rechtfertigen. Die Unterscheidung von sakralem und öffentlichem Raum darf nicht zur Rechtfertigung dienen, dass wir zwischen uns Mauern errichten - oder meinen Gott einen Dienst zu tun, wenn wir einen Wall errichten zwischen „Gott und Welt“, hinter dem sich doch nur unsere eigenen Ressentiments verbergen und wir damit unsere eigenen Vorurteile und gegenseitigen Aburteilungen kultivieren. Das widerspricht dem Geist der Eucharistie. Wie sagt Papst Benedikt? „… so wie der Herr öffentlich vor den Mauern der Stadt, vor dem Angesicht der Welt… (am Kreuz) seine Hände ausstreckt auf alle hin, so ist Eucharistiefeier der öffentliche Gottesdienst aller, die der Herr ruft.“
Das Fest Fronleichnam setzt also einen kraftvollen Gegenakzent. Die Botschaft dieses Festes heißt: Gott ist lebendig inmitten der Menschen, inmitten der Gesellschaft, inmitten der Zeit. Das Sakrament der Gegenwart Gottes im ausgesparten, sakralen, Inneren unseres Glaubens braucht die gelebte Präsenz mitten unter den Menschen - und umgekehrt! Und deshalb wird die Kirche ihrer Sendung nur dann gerecht, wenn auch sie selbst inmitten der Menschen, der Gesellschaft und der Zeit das Evangelium als Angebot an das Leben den Menschen nahebringt. Das bleibt eine kritische Anfrage an die Kirche, ob und wie sie diesem Anspruch gerecht wird. Es braucht Respekt und Sensibilität für das Sakrale, für das vom Alltag herausgehobene. Aber: Es braucht in gleicher Weise Respekt uns Sensibilität für Gott inmitten der Welt!
Und dann gehört zu Fronleichnam die Prozession. Das verstärkt noch einmal das Zeichen, dass das Innerlichste unseres Glaubens nach außen getragen wird. Prozession kommt vom lateinischen pro-cedere: herauskommen und öffentlich erscheinen, bedeutet aber auch vorangehen, Fortschritte machen. Wenn wir nachher in der Prozession mit dem „Allerheiligsten“ - wie wir sagen - über die Festmeile durch die Straßen von Pfungstadt zur Kirche ziehen, dann wird in diesem Ritual noch einmal mehr deutlich: Wir sind unterwegs. Wir sitzen nicht fest. Wir gehen mit und verschanzen uns nicht. Wir sind als Kirche Pilgernde in der Zeit und Gegenwart und wollen vorankommen, weitergehen! Wir wollen Fortschritte machen - nämlich darin, dass das Evangelium mitten in der Welt mehr und besser seine Kraft entfalten kann. Dabei stolpern wir nicht einfach vor uns hin. Wir schlurfen nicht mit allem Zeitgeist mit. Sondern: Wir sind gemeinsam mit dem Herrn unterwegs. Indem wir IHN im Zeichen der Eucharistie durch die Straßen tragen, zeigen wir öffentlich, dass wir uns von ihm tragen lassen und führen lassen. Wir zeigen öffentlich, wer unser Maßstab ist und in welcher Weise wir Pilgernde sein wollen. Indem wir IHN durch unsere Straßen tragen, zeigen wir mit welcher Botschaft wir inmitten der Menschen unseren Weg als Kirche gehen. So bleibt das Herausgehen aus dem Sakralen auf die Straßen der Städte immer auch eine Herausforderung des Evangeliums - ein Anspruch an uns aber auch an die Menschen in den Häusern und am Rande der Straßen, an denen wir vorüberziehen. Fronleichnam ist ein Fest, am dem deutlich wird: Gott ist solidarisch mit unserem Leben in all seinen Höhen und Tiefen. Ist aber auch Anspruch und braucht gute Unterscheidung aus dem Geiste des Evangeliums um zu erkennen, auf welchem Weg wir sind. Mein Glaube sagt mir: „Du darfst dem Leben trauen und du findest deinen Weg, weil Gottes Gegenwart sich nicht auf heilige Zeiten und Räume begrenzen lässt, sondern dich überall auf den Straßen deines Lebens umgibt."