Schwestern und Brüder,
zwei leere Zeitungsseiten - lediglich ein Satzanfang in schwarzen Lettern: „Was unvorstellbar ist…“ Das war kurz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine eine Initiative der Wochenzeitung ZEIT. Die Leser waren eingeladen, diese leeren Seiten zu füllen und den Satzanfang zu ergänzen. „Was unvorstellbar ist…“ - „…dass es keine Hoffnung mehr gibt.“ Eine der Antworten, die eindrücklichste. Unvorstellbar, dass es keine Hoffnung mehr gibt! Unvorstellbar allein um der Menschen willen in den zerstörten Städten der Ukraine, der Kinder willen, der Menschen willen, die auf der Flucht sind, der Verletzten, der Toten willen… unvorstellbar, dass es keine Hoffnung mehr gibt, obwohl doch alles derzeit so hoffnungslos erscheint: ein Aggressor, der sich nicht bremsen lässt - eine neue, anscheinend für die nächsten Tage bevorstehende, noch viel massivere Offensive auf die Ukraine, die sich wohl nicht aufhalten lässt. Sehenden Auges eine weitere Eskalation - noch mehr Hoffnungslosigkeit…
Unvorstellbar, dass es keine Hoffnung gibt? Auf Golgotha war es unvorstellbar, dass es überhaupt noch Hoffnung gibt. Auf Golgotha heute - der Ukraine, in den Gesichtern geflüchteter Menschen, auf den Bildern, die uns erreichen von Butcha, Mariupol, Charkiw scheint geschrieben zu stehen: „Es gibt keine Hoffnung mehr…“ Der Mensch gerät in Situationen, in denen es sehr wohl vorstellbar ist: Es gibt keine Hoffnung mehr. Nicht nur im Blick auf diesen sinnlosen Krieg. Auch in unzähligen persönlichen Schicksalen um uns herum. Es sind finstere Wolken über unserem Himmel. Nichts ist zu verharmlosen - wir erleben eine düstere Zäsur.
„Die Hoffnung stirbt zuletzt…“ Ist es tatsächlich eine im Wesen des Menschen verankerte Überlebensstrategie „unbändig und trotz allem zu hoffen“? Gibt es dieses „Prinzip Hoffnung“, von dem Ernst Bloch geschrieben hat? Der Mensch ist so angelegt, dass er die Hoffnung so leicht nicht aufgibt. Das ist für mich aber kein Prinzip Hoffnung, auch keine evolutionsbiologisch angelegte Überlebensstrategie. Vielmehr: Ich erkenne darin, dass wir auf etwas Größeres hin geschaffen sind. Der Mensch hofft trotz aller Zumutungen, dass es besser wird. Das zeigt mir: Der Mensch ist nicht auf Endlichkeit und Zerstörung hin geschaffen, sondern auf etwas - besser: auf jemand - der größer und stärker und mächtiger ist als alle lebenszerstörenden Mächte! Ich glaube nicht an ein Prinzip Hoffnung! Ich glaube an einen Gott, der Leben schafft und Leben möglich macht und Leben erhält! Der Grund dieses Glaubens ist Ostern! Der Grund ist der auferstandene Jesus, angesichts dessen toten Leibes am Kreuz alle Zeichen auf Tod, Ende, Zerstörung und Sieg der Gewalt standen. Angesichts der grenzenlosen Gewalt an ihm war es unvorstellbar, dass es überhaupt noch Hoffnung gibt. Und doch: Was für eine Wende! Gott hat ihn auferweckt und neues, unzerstörbares, österliches Leben geschenkt!
Die einen sagen: „Wer von der Hoffnung lebt, stirbt an Enttäuschung“ - zu hoffen „trotz allem“ sei utopisch oder naiv oder blinder und grundloser Optimismus. Das war angesichts des leeren Grabes damals so. Das ist heute so. Die Botschaft des Engels am Grab „Er ist nicht hier, er lebt!“ hatte es schwer: das erschrockene Gesicht der Frauen, das Kopfschütteln der Jünger, der Zweifel des Thomas, die Blindheit der Emaus-Jünger. Die Evangelien beschönigen nichts. Und doch geschieht etwas in den Jüngern, das die hoffnungslose Depression überwindet. Die Begegnung mit dem Auferstandenen reißt die Mauer der hoffnungslosen Aussichtslosigkeit ein. „Er lebt!“ Eine Mischung aus Erstaunen, Ungläubigkeit, Überwältigung, Freude und Hoffnung - diese eigentümliche Melange macht die Glaubwürdigkeit des Osterzeugnisses der Jünger aus. Mehr und mehr wird es für die Zeugen der Auferstehung zu Gewissheit: „Es unvorstellbar wird, dass es keine Hoffnung gibt!“
Diese eigentümliche Melange von Ungläubigkeit und Hoffnung kenne ich auch von mir selbst. Wenn wir in diesen düsteren Wochen wieder neu und dennoch Ostern feiern, dann tun wir das, um uns neu zu vergewissern, worauf unser Glaube baut. All die österlichen Zeichen, die Texte, die Musik - die ganze Liturgie hilft uns, unsrer Hoffnung in uns wieder neuen Raum zu geben. Wir feiern Ostern, um uns zu vergewissern, was das Fundament ist: glauben, lieben und vor allem gerade jetzt auch hoffen zu können!
Als ich die letzten Tage in meiner persönlichen Betrachtung den Weg des Leidens Jesu meditiert habe, konnte ich so viele Verbindungslinien ziehen zwischen der Dynamik der Gewalt der Mächtigen damals zu dem, was heute geschieht. Das hat meine Solidarität und meine geistliche Verbundenheit mit den leidenden Menschen der Ukraine, aber auch mit den geplagten Menschen in meinem Umfeld gestärkt. Jetzt gehen wir einen Schritt weiter: Es ist Ostern! Ich will die Erzählungen von den Begegnungen mit dem Auferstandenen neu verinnerlichen, damit meine Hoffnung nicht erlahmt.
Ein Sprichwort sagt: „Willenskraft haben die Starken, die Schwachen haben Hoffnung.“ Nein! Es ist gerade umgekehrt: Von uns selbst her können wir gar nicht so viel Willenskraft aufbringen, wie es bräuchte. Deshalb haben die Unheilspropheten so sehr Hochkonjunktur - in der Gesellschaft, aber auch in unsrer Kirche. Die „Unken“ unter den Zeitgenossen haben es jetzt leicht, Pessimismus zu verbreiten. Das ist wenig österlich, auch wenn es das Etikett „kirchlich“ trägt…
Der österliche Mensch hat keinen Grund „zu unken“, es gäbe nur düstere Zukunft - in unsrer Kirche nicht und auch in der Gesellschaft nicht. Die Hoffnung macht den Menschen stark, weckt in ihm ungeahnte Kräfte. „Hoffnung öffnet die Tür zur Veränderung“, sie lässt nicht resignieren sondern stellt sich den Herausforderungen: „Es gibt immer Menschen, die ihre Schulter unter die zusammenbrechende Welt stemmen“, so wurde der Ausschwitz-Überlebende und Literaturnobelpreisträger Imre Kertez dieser Tage zitiert. Solche gibt es in unsrer Kirche. Solche gibt es in der Gesellschaft. Dafür bin ich dankbar!
Ich sehe nüchtern die Schwierigkeiten und Herausforderungen, die auf uns warten und welche Kraftanstrengung das kosten wird: im Bistum, damit der Pastorale Weg nicht auf die schiefe Bahn gerät, in unsrer Kirche, um neues Vertrauen zu gewinnen und beieinander bleiben zu können. Ich erahne, was es von uns als Gesellschaft abverlangt werden wird, die Krisen politisch und ökonomisch zu bewältigen und beieinander zu bleiben… Ich bin kein blinder Optimist. Dazu holt mich meine tägliche Aufgabe und Pflicht immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich hoffe, dass ich nicht verzage angesichts all dessen.
Aber gerade deshalb feiern wir Ostern: Jesu Leiden und seine Auferstehung sind die Quelle einer nüchternen, aber kraftvollen Hoffnung! Also kein Prinzip Hoffnung, sondern eine Person und darin ein Gott, auf den ich meine Hoffnung setze. Das ist mir in der Taufe geschenkt. Die Taufe nimmt uns in einer geheimnisvollen Weise hinein in das österliche Leben Jesu. Es liegt an mir, wie sehr ich dieser geistlichen Wirklichkeit in mir tatsächlich auch in meinem Alltag Raum gebe, damit sie wirken kann. Wir wurden getauft, damit wir „in der Wirklichkeit des neuen Lebens wandeln“ - so sagt es Paulus. Jetzt gleich werden wir die Tauferneuerung feiern. Vertrauen wir uns dieser geistlichen Wirklichkeit in uns von neuem an. Mit unsrer österlichen Hoffnung finden wir die Kraft denjenigen beizustehen, deren Hoffnung geschwunden ist. Das ist unsere Berufung als Christen in dieser Zeit: Die Hoffnung um uns herum stark zu machen! Es ist wirklich unvorstellbar, dass es keine Hoffnung gibt, wenn ich glauben kann, dass Christus von den Toten auferstanden ist!