Worauf wir schauen, dahinein werden wir verwandelt 

Predigt zum Hochfest Martinus und zum Welttag der Armen, Mainzer Dom, 15.11.2020, 10.00 Uhr

Dom Mainz, St. Martin (c) Sensum
Dom Mainz, St. Martin
Datum:
So. 15. Nov. 2020
Von:
Weihbischof Dr. Udo Markus Bentz, Mainz

Was war der entscheidende Augenblick an der Tat des Heiligen Martin vor den Toren von Amiens – die zum Inbegriff und Sinnbild der Caritas – der Nächstenliebe schlechthin geworden ist? Der Augenblick, in dem der Mantel durch das Schwert zerschnitten wird? Oder der Augenblick, in dem Martin den geteilten Mantel dem Armen überreicht? Weder noch. Ich bin der Überzeugung: Der entscheidende Augenblick geschieht früher. Es ist tatsächlich der „Augen – Blick“, nämlich der Moment, in dem Martin den Bettler erblickt. Ihn sieht. Den Armen wahrnimmt. Ihn ansieht. Dem Armen begegnet und ihm nicht ausweicht.

Caritas beendet Armutswochen und fordert Recht auf Schuldnerberatung (c) Caritasverband für die Diözese Mainz e.V.

Jede Tat der Liebe ist nur die Folge eines liebenden Blickes.

Ich muss die Not überhaupt erst wahrnehmen, um handeln zu können. Ich muss den Armen zunächst entdecken, um dann auch reagieren zu können. Das ist gar nicht so selbstverständlich, wie wir meinen. Denn die Not versteckt sich. Das Gesicht des Armen ist in der Regel verborgen – aus Scham. Das ist aber auch deshalb nicht selbstverständlich, weil wir Menschen es gewohnt sind, selektiv wahrzunehmen – das heißt: Wir blenden auch gerne aus, was uns unangenehm ist. Wir sind es gewohnt selektiv wahrzunehmen, weil wir schnell den Blick abwenden, wenn uns etwas zu wider ist oder peinlich berührt. Das Leid des Armen berührt uns oft peinlich. Es ist uns zuwider, wenn die Not uns anschreit und fordernd uns gegenüber auftritt.

Martin hat auf seinem hohen Ross nicht weggeschaut.

Er hat weder über den Armen hinweg noch an ihm vorbeigeschaut. Er hat ihn angeschaut und hat sich von dessen traurigem Anblick treffen lassen. Und wie sich beide ansehen, da wird der Impuls stark, dem Armen dann auch tatsächlich Ansehen zu schenken. Als sich ihre Blicke treffen, das löst in Martin etwas aus. Abstrakt lässt sich über Not vortrefflich reden, debattieren und streiten. Wenn ich den Armen ansehe, dann verstummt jede Debatte, Wenn ich dem Armen gegenübertrete, dann entscheidet sich ganz konkret, ob das in mir etwas auslöst und ich ihm Ansehen gebe oder ob ich stumpf bleibe und in Gleichgültigkeit verharre.

Was wir im Auge haben, das prägt uns

Es gibt ein Wort von Heinrich Spaemann, das mich seit vielen Jahren begleitet: „Was wir im Auge haben, das prägt uns, dahinein werden wir verwandelt. Und wir kommen, wohin wir schauen.“ Und tatsächlich: Das entspricht auch meiner geistlichen Erfahrung. Worauf ich schaue, immer wieder und immer wieder, das prägt und verändert mich. Das macht etwas mit mir, wie wir so schön sagen. Aber auch umgekehrt: Was ich ausblende in meiner Wahrnehmung, was ich nicht wahrhaben will – auch das prägt und verändert mich! Auch das macht etwas mit mir. Das erleben wir doch – geradezu exemplarisch in unsrer heutigen Kommunikationskultur. Man bleibt in seiner „Blase“, man bekommt in den sozialen Medien das gefiltert, was man sucht… und mehr und mehr ist man in einer sich selbst verstärkenden Blase, die anderes nicht mehr wahrnimmt und auch nicht mehr zulässt – und dann reden wir von „meiner Realität“ und „deiner Realität“, die nichts oder nur noch wenig miteinander zu tun haben. Ich lebe in meiner eigenen Welt, die mit der Welt der anderen kaum mehr etwas zu tun hat.

Wir sollten sehr achtsam sein, worauf wir schauen – und noch mehr: wo wir wegschauen!

Was wir im Auge haben, das prägt uns, dahinein werden wir verwandelt – und was wir ausblenden, auch das prägt uns und auch dahinein werden wir verwandelt: Das haben wir doch auch als Kirche erfahren – wir stecken heute als Kirche in mancher Aporie, weil wir bestimmte Dinge ausgeblendet und nicht im Blick hatten. Und wir werden als Kirche nur dann neues Vertrauen gewinnen, nur dann glaubhaft Zeugnis geben können und dann etwas ausstrahlen, wenn wir sehr genau darauf achten – was wir im Auge haben. Und wir werden nur dann für manche scheinbare Ausweglosigkeit nur dann einen Weg finden, wenn wir sehr sensibel sind, was wir wie in den Blick nehmen und wo wir immer noch nicht wagen hinzusehen! Wir kommen, wohin wir schauen – das kann ein verheißungsvolles Wort für uns als Kirche sein – es kann aber auch ein prophetisches Mahnwort sein.

Was wir im Auge haben, das prägt uns. Deshalb sollten wir sehr achtsam sein, worauf wir schauen – und noch mehr: wo wir wegschauen!

Deshalb ist es gut, dass Papst Franziskus seit einigen Jahren den Weltgebetstag der Armen ins Leben gerufen hat und der Caritasverband in den letzten Wochen mit den sogenannten „Armutswochen“ unseren Blick in diesem Jahr auf eine besondere Form der Armut lenkt: auf die Risiken der Ver- und auch Überschuldung nicht weniger Menschen mitten in unsrer Gesellschaft. Unser Blick wird gelenkt auf eine besondere Form der Armut, die mit der Corona-Pandemie zusammenhängt: Es gibt viele, die seit Monaten in Kurzarbeit sind und manchmal nur noch 60% ihres Einkommens erhalten während die monatlichen Kosten des Lebensunterhaltes gleich geblieben sind oder sich sogar noch gesteigert haben.  Mietschulden, Stromschulden haben deutlich zugenommen, nicht nur bei Ladenbesitzern, die ihre Läden geschlossen halten mussten, sondern auch in Privathaushalten. Es gibt etliche Klein- oder Soloselbständige, die durch die Einschränkungen vom Lockdown ihre Existenzgrundlage entzogen bekommen haben. Sie brauchen Hilfe und brauchen Beratung. Die Schuldnerberatungsstellen arbeiten an ihren Kapazitätsgrenzen. Darauf macht der Caritasverband aufmerksam. Es braucht mehr Beratungsangebote und konkrete Hilfen. Haben wir diejenigen im Blick in unserem eigenen Lebens- und Arbeitsumfeld, die durch Corona in solche Abwärtsspiralen gelangt sind?  Nehmen wir diese Not der Armut wahr? Lassen wir uns davon berühren? Was wir im Auge haben, das prägt uns… und wir kommen, wohin wir schauen… Kommen wir dorthin, wo diese Armen mitten unter uns sind – oder halten wir uns davon auf Distanz, weil wir es nicht im Blick haben?

„Streck dem Armen deine Hand entgegen“

Papst Franziskus hat den Weltgebetstag der Armen ausgerechnet inmitten der Corona-Pandemie mit dem Wort überschrieben: „Streck dem Armen deine Hand entgegen“. Das passt doch mal wieder wie die Faust aufs Auge, wird mancher sagen. Ich glaube, es ist eine sehr subtile, sogar ironische Provokation des Papstes: In einer Situation, in der uns die Hygieneregeln verbieten, einander die Hand entgegenzustrecken, haben wir mittlerweile gelernt, wie wir auf ganz andere Weise und womit wir dieses Zeichen des Grußes, der Freundlichkeit, der Nähe ersetzen können. Wir können uns nicht die Hand einander entgegenstrecken. Und mit Mund-Nasen-Schutz ist ein freundliches Lächeln auch nicht so einfach. Ich mache die Erfahrung: Man schaut sich hinter der Mundmaske intensiver an. Der Blick, den wir einander schenken, ist noch wichtiger geworden. Ohne ausgestreckte Hand und mit verdecktem Mund kommt alles auf den Blick an, wie wir uns einander ansehen. Martin sieht den Armen an und erkennt in ihm Christus. Wo wir die Armen in den Blick nehmen und in ihnen wirklich Christus sehen wollen, da werden andere in uns Christus erkennen – wir werden einander zu Zeugen Christi.

Und da schließt sich für mich der Kreis meiner Überlegungen: Der entscheidende Augenblick der Mantelteilung des Heiligen Martin ist der Moment, in dem Martin den Armen erblickt und ihn in den Blick nimmt und er sich von diesem Anblick berühren lässt – alles andere ist gewissermaßen selbstverständliche Konsequenz: Was wir im Auge haben, das prägt uns. Und wir kommen, wohin wir schauen: Wenden wir den Blick nicht ab, sondern nehmen wir das verborgene Gesicht der Armen mitten unter uns in den Blick.  Es wird uns verändern – wir werden anders reden, wir werden anders beten, wir werden anders handeln. Wir werden andere werden. Wir werden Christus neu entdecken. Und andere werden in uns Christus neu erkennen. Wir tragen statt Finsternis Licht in uns, wie Lukas es sagt. Wir tragen nicht mehr nur Martinslaternen durch die Straßen und stellen sie ins Fenster. Wir werden selbst lebendige Martinslaternen aus Fleisch und Blut, weil wir die Liebe leben.