Größer könnte der Kontrast kaum sein: Auf der einen Seite die Orgel als Königin der Instrumente mit z. T. meterlangen Pfeifen; daneben die Konzertharfe als Inbegriff des eher Leise-Filigranen. Dass beide so unterschiedlichen Instrumente trotzdem "auf Augenhöhe" harmonisch zusammenwirken können, bewiesen die kolumbianische Harfenistin Mónica Rincón und der seit 2001 als Kantor in Lich wirkende Organist Christof Becker am vergangenen Sonntagnachmittag beim sechsten diesjährigen Kirchenkonzert in St. Bonifatius aufs Schönste.
Bereits das erste Werk - eine "Invocation" für Harfe und Orgel des 1868 in Amsterdam geborenen und 1936 in Wien gestorbenen Harfenisten Johannes Snoer - ließ aufhorchen: Kraftvolle, virtuose Harfenklänge verschmolzen mit dezentem Orgelklang.
Ein erstes highlight folgte nun mit Camille Saint Saens' Rhapsodie für Harfe und Orgel auf bretonische Weisen. Nach melodiös-lautmalerischem Auftakt der Orgel übernimmt die Harfe, spinnt die volksliedhaften Klänge weiter. Beide Interpreten wirken perfekt zusammen; jeder Einsatz erfolgt punktgenau. Musiziert wird durchweg "auf Augenhöhe". Technische Perfektion paart sich mit interpretatorischer Finesse.
Der 1732 in Erfurt geborene und 1809 ebendort verstorbene Johann Christian Kittel trug als Bachschüler und -bewunderer mit dazu bei, dass das Werk des Meisters nach dessen Tod 1750 nicht gänzlich in Vergessenheit geriet. Sein imposantes Präludium D-Dur für Orgel bot Christof Becker reichlich Gelegenheit zur Demonstration seines Könnens.
Der 1845 in Lüttich geborene und 1912 in Paris verstorbene Harfenist und Musikpädagoge Alphonse Hasselmans wurde mit seiner Konzertetüde "La Source" (die Quelle) berühmt. Mónica Rincón ließ das filigrane Werk mit seinen Kadenzen und Glissandi zum absoluten Hörgenuss werden - ein lautmalerisches Juwel.
Georg Fr. Händels am "St. Cecilia's Day" 1736 erstmals erklungenes dreisätziges Konzert B-Dur, op. 4/6 für Harfe und Orchester stand als nächstes auf dem Programm - in einer Bearbeitung für Harfe und Orgel. Hier ragt das Largo mit virtuosen Harfensoli heraus. Beschwingt klingt das wunderbare Werk aus.
René Vierne war der jüngere Bruder des berühmten Organisten Louis Vierne und fiel im Sommer 1918 vierzigjährig kurz vor Kriegsende. Von ihm erklang ein "Offertoire" für Orgel solo. Es atmet den Geist der französischen Orgelromantik, zu deren Hauptvertretern sein Bruder zählt.
Oreste Ravanellos Präludien-Berceuse für Harfe & Orgel wurde ein weiteres highlight des nachmittäglichen, gutbesuchten Konzerts in St. Bonifatius. Der 1871 in Venedig geborene und 1938 in Padua verstorbene Ravanello war ein führender Vertreter der "Cäcilianischen Bewegung" und setzte sich leidenschaftlich für die Reform der geistlichen Musik ein. 1895 wurde er Domorganist an San Marco. Seine "Berceuse" (Wiegenlied) hat deutlich liturgischen Charakter.
Jekaterina A. Walter-Kühnes (1870-1931) Paraphrase über Themen aus Verdis Oper "Rigoletto" für Harfe solo darf wohl den ersten Rang von allen gespielten Werken einnehmen. Dieses virtuose Stück verlangt der Interpretin wirklich alles ab. Mónica Rincón meisterte diese Herausforderung souverän.
Mit der "Aria" für Harfe & Orgel des 1891 in Paris geborenen und 1975 in New York verstorbenen Harfenisten und Komponisten Marcel Grandjany klang nach langem Beifall und einer Zugabe ein denkwürdiges Konzert aus, das noch lange in Erinnerung bleiben wird.