Mainz. Mit der Abendveranstaltung „Gegen sexualisierte Gewalt. Perspektiven auf Prävention, Intervention und Aufarbeitung“ hat das Bistum Mainz am Donnerstagabend, 25. September, die gesamtgesellschaftliche Verantwortung im Bemühen gegen sexualisierte Gewalt in den Blick genommen. Die Bevollmächtigte des Generalvikars, Ordinariatsdirekotrin Stephanie Rieth, warb in ihren Redebeiträgen für einen ganzheitlichen 360-Grad-Blick, nicht nur mit Blick auf die Zusammenarbeit von gesellschaftlichen Institutionen beim Thema sexualisierte Gewalt, sondern auch etwa auch bei der Frage von Machtmissbrauch oder Schutzkonzepten für hilfebedürftige Erwachsene. Die Veranstaltung mit rund 160 Teilnehmern fand im Restaurant des rheinland-pfälzischen Landtags in Mainz statt.
Wörtlich sagte Rieth: „Wir schauen nicht nur auf sexualisierte Gewalt, sondern auch auf andere Formen von Missbrauch, vor allem Machtmissbrauch. Wir sehen, wie eng das miteinander verknüpft ist – wer Kontrolle über andere ausübt, kann Grenzen verschieben, Vertrauen ausnutzen. Auch spiritueller Missbrauch gehört dazu, wenn Menschen in Abhängigkeit gedrängt werden.“ Und weiter: „Aus den Skandalen der Vergangenheit müssen wir unbedingt für die Ausbildung lernen. Wer künftig in pastoralen, erzieherischen oder pflegerischen Berufen Verantwortung trägt, muss sich früh mit Fragen von Macht, Nähe und Distanz auseinandersetzen“, betonte Rieth: „Das darf kein Randthema sein, sondern gehört zum Kern der Ausbildung – ob in der Seelsorge, in der Kinder- und Jugendhilfe oder in der Altenpflege. Es geht darum, eine Sensibilität für mögliche Gefährdungen zu entwickeln und klare Haltungen einzuüben. Nur wenn wir hier konsequent sind, verhindern wir, dass sich Missbrauch und Machtmissbrauch wiederholen.“ Rieth konstatierte, dass im Bistum Mainz inzwischen eine wesentlich höhere Sensibilität für dieses Thema herrsche und es von Haupt- und Ehrenamtlichen öfter angesprochen werde: „Wir dürfen dieses Thema nicht ausschließlich den Expertinnen und Experten überlassen, sondern wir müssen uns alle an unserem jeweiligen Ort dafür verantwortlich zeigen“, bekräftigte die Bevollmächtigte.
Die rheinland-pfälzische Familienministerin Katharina Binz betonte: „Sexualisierte Gewalt ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, der wir uns gemeinsam stellen müssen – mit klarer Haltung, mit strukturellen Veränderungen und mit einem offenen Blick für die Realität der Betroffenen. Mit dem ‚Pakt gegen sexualisierte Gewalt‘ haben wir in Rheinland-Pfalz einen wichtigen Schritt getan, um gezielte politische Maßnahmen für mehr Kinderschutz umzusetzen. Rheinland-Pfalz schafft als erstes Bundesland eine unabhängige Beauftragtenstelle. Das trägt dazu bei, sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen aus der Tabuzone zu holen – und vor allem die Rechte und die Stimme der Betroffenen zu stärken. Denn Prävention, Intervention und Unterstützung brauchen ein starkes Netzwerk aus Politik, Zivilgesellschaft und Institutionen. Gemeinsam können wir effektiv gegen sexualisierte Gewalt vorgehen, eine Kultur der Sensibilität schaffen und Betroffene frühzeitig unterstützen.“
Pater Prof. Hans Zollner SJ hatte vor der Diskussion im Gespräch mit Moderator Jürgen Erbacher vom ZDF einen weltkirchlichen Überblick zum Thema gegeben. Im Bereich des Safeguarding sei die Kirche mittlerweile schon sehr weit entwickelt, sagte Zollner. Er kenne keine Institution, die im Bereich der Prävention vor allem im Bereich der Bildungseinrichtungen in rund 190 Ländern weltweit so engagiert sei. Eine „dunkle Seite“ sei nach wie vor „die Anerkennung von Schuld den Betroffenen gegenüber und ein Verständnis von Aufarbeitung, das über den rein rechtlichen und finanziellen Bereich hinausgeht“.
In diesem Bereich seien Verantwortungsübernahme und die Bereitschaft zur mittlerweile kirchenrechtlich geregelten Rechenschaftspflicht noch „sehr unterentwickelt“. Hauptgrund sei, dass es noch keine Behörde gebe, welche die Rechenschaftspflicht auch nachhalte. Zollner ist Leiter des „Institutes für Anthropologie – Interdisziplinäre Studien zur Menschenwürde und zu Sorge für Schutzbefohlene“ an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom.
„Die beste Prävention wird nicht funktionieren, wenn Kinder und Jugendliche die Erfahrung machen, dass ihnen schon bei kleineren Dingen nicht zugehört wird“, sagte Prof. Dr. Sabine Andresen aus Frankfurt. Von Kindern erhalte sie die Botschaft „Wir werden nicht ernstgenommen.“ Eine wichtige Frage ihrer Arbeit sei deshalb, „nach welchen Kriterien Kinder entscheiden, wem sie sich anvertrauen“. Andresen ist Professorin für Familienforschung und Sozialpädagogik und seit 2023 Präsidentin des Kinderschutzbundes.
„Es muss ein Ruck durch die Gesellschaft gehen“, sagte Dr. Christoph Göttlicher, Sprecher des Betroffenenbeirates im Bistum Mainz. „In Deutschland ist das Wort Missbrauch nach wie vor kein Wort, das salonfähig ist. Vielmehr ist es oft so, dass es den Menschen unangenehm ist und man einen Bogen darum macht.“ Und weiter: „Es gibt in Deutschland, Organisationen, in denen in diesem Bereich viel passiert. Da gehört auch das Bistum Mainz dazu. Sonst würde ich mich da auch nicht engagieren. Aber es gibt auch zahlreiche Institutionen, wo das Thema über Jahrzehnte ignoriert wurde und auch bis heute nichts passiert.“
Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf hatte in seinem Grußwort zu Beginn des Abends bekräftigt, dass beim Thema sexualisierte Gewalt nicht nur die Perspektive der Betroffenen wesentlich für die Kirche sei, sondern auch die Bereitschaft, eigene Strukturen zu hinterfragen. Dabei liege „ein zentraler Schlüssel“ in Maßnahmen von Prävention und Intervention, sagte Kohlgraf: „Wir wollen Räume und Orte schaffen, an denen sich Schutz- oder Hilfebedürftige sicher fühlen.“ Bischof Kohlgraf dankte Ordinariatsdirektorin Rieth und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für „ihr unermüdliches und professionelles Engagement um Aufarbeitung, Intervention und Prävention“. Außerdem betonte der Bischof die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für das Thema sexualisierte Gewalt: „Ein Haltungs- und Mentalitätswechsel ist eine gemeinsame Aufgabe. Als Kirche und als Bistum wollen wir nicht an der Seite der Gesellschaft stehen, sondern uns als Teil eines gemeinsamen Weges und als Mitverantwortliche begreifen.“
Wörtlich sagte Kohlgraf: „Sexualisierte Gewalt ist ein Verbrechen am Menschen und ein Verrat am Evangelium. Der Auftrag des Evangeliums besteht darin, Menschen zu stärken, sie groß zu machen und sie entsprechend ihrer Würde zu behandeln. Ich kann Ihnen versichern, dass wir uns im Sinne dieses Auftrags nicht zurücklehnen werden und dass es auch weiterhin unser Fokus sein wird, Verantwortung für das Versagen der Kirche auf verschiedenen Ebenen zu übernehmen.“