Bischof Kohlgraf verwies auf neuere Ansätze in der Theologie zum Gericht: „Im Tod begegne ich Christus, ich erkenne ihn, wie er ist: ganz Liebe und Zuwendung. Das wird eine unbeschreibliche Erfahrung sein. Wer aber auf eine solche Liebe trifft, der erkennt in einem Augenblick, wie wenig oder wie viel er oder sie selbst dieser Liebe in seinem Leben entsprochen hat. Gericht ist also Selbsterkenntnis des Menschen, die sehr schmerzlich sein kann. Das hilft mir, die Rede vom Gericht ernst zu nehmen, aber mir nicht Christus als einen Richter vorzustellen, der über mir thront, und mich und mein Leben von oben herab behandelt.“
Weiter sagte Kohlgraf: „Diese Begegnung mit dem liebenden Gott ist auch Läuterung. Selbsterkenntnis kann wehtun. Fegefeuer, Läuterung ist kein Ort, den Gott erfunden hat, um Menschen zu quälen, sondern es ist eine Begegnung, ein Akt der Selbsterkenntnis und Veränderung. Wenn wir für Verstorbene beten, begleiten wir sie in diesem Geschehen. Unser Gebet wird schon ankommen, aber es muss nicht einen zornigen Richter gnädig stimmen, sondern wir tragen den Menschen, der uns voraus gegangen ist, mit unserem Gebet, wir stärken ihn, und bleiben ihm verbunden. Niemand geht allein in diese Begegnung mit Christus, wir begleiten unsere Verstorbenen.“
Mit dem Gottesdienst im Mainzer Dom wurde der verstorbenen Mainzer Bischöfe und Mitglieder des Domstiftes gedacht. Nach der Eucharistiefeier ging Kohlgraf gemeinsam mit den Konzelebranten und den Gläubigen zu den Gräbern der Bischöfe im Mainzer Dom. Dabei besprengte Bischof Kohlgraf jedes Grab mit Weihwasser. An jedem Grabstein war außerdem eine Kerze aufgestellt. Die Prozession führte vom Westchor über den Mittelgang des Domes auf den Domfriedhof, in die Memorie, in die Bischofsgruft unter dem Hauptaltar und die Gotthard-Kapelle. Die Gräber im nördlichen Seitenschiff sind aktuell wegen der Baustelle für die neue Domorgel nicht zugänglich. Musikalisch gestaltet wurde der Gottesdienst durch die Männerstimmen der Chöre am Dom unter Leitung von Domkapellmeister Professor Karsten Storck sowie Domorganist Professor Daniel Beckmann an der Orgel.
An Allerheiligen (1. November) ehrt die Kirche nicht nur alle offiziell heiliggesprochenen Menschen, sondern auch die Menschen, die ein christliches Leben geführt haben, ohne dass ihre Lebensführung einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden ist. Allerheiligen ist zunächst kein Tag des Totengedächtnisses, sondern feiert das neue Leben, das die Heiligen führen und das allen Christen verheißen ist. Vielfach ist der Tag durch den Gang zu den Gräbern von Angehörigen geprägt. Der Allerseelentag am 2. November gilt dem Gedächtnis der Verstorbenen.