Die Grundfarbe des christlichen „Jenseits“ ist hell

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf im Pontifikalrequiem zu Allerseelen Hoher Dom zu Mainz

Mainz, 2. November 2019: Bischof Peter Kohlgraf besprengte an Allerseelen die Gräber der Mainzer Bischöfe im Dom mit Weihwasser. Auf dem Bild steht er in der Laurentiuskapelle, dem Ausweichquartier für die Schöne Mainzerin während der Orgelbauarbeiten. Dort ist Bischof Damian Hartard von der Leyen (1675-1678) begraben.
Datum:
Sa. 2. Nov. 2019
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

In diesen Tagen des November beschäftigen uns die sogenannten „Letzten Dinge“: Wir haben gestern am Hochfest Allerheiligen den Blick in den Himmel gerichtet, auf die Menschen, die bei Gott ihre letzte Erfüllung gefunden haben und nun für uns beten und den Weg des Glaubens mit uns gehen. Am Allerseelentag gedenken wir unserer Toten, und wir beten für sie. Das Bewusstsein dafür, dass unsere Verstorbenen unseres Gebetes bedürfen, ist weitgehend verschwunden. Allerdings gehören die Vorstellung einer Läuterung nach dem Tod und der Glaube an ein persönliches Gericht über das Leben durch Christus weiterhin zu den zentralen Inhalten unseres christlichen Glaubens. Christus ist der Richter der Menschen, er sagt es selbst immer wieder in eindrücklichen Worten (z.B. Mt 25,31-46).

 

Besonders in unseren alten Kirchen treffen wir auf Bilder, die zeigen, dass der Gedanke an das Gericht, auch an die Läuterung in früheren Zeiten zu den bestimmenden Themen gehörten. Es mag sein, dass bestimmte Vorstellungen die frohe Botschaft verdunkelten, die sich auch in diesen Themen zeigen muss.

Nicht nur an Allerseelen beten wir für die Verstorbenen, sondern in jeder Eucharistiefeier, erst recht in den Messen bei einer Bestattung. Oft gestalten wir sie als Auferstehungsmessen, die wenigsten tun dies ausdrücklich mit dem Gedanken – vielleicht verständlicherweise in einer Situation tiefer Trauer -, für den Verstorbenen oder die Verstorbene zu beten, damit er oder sie sein ewiges Heil findet. Unser Beten ist mehr als ein Erinnern. Wir glauben, dass den Verstorbenen das Gebet hilft, dass wir sie begleiten. Unser Gebet für den Verstorbenen ist ein großer Liebesdienst der Kirche und der feiernden Gemeinde. Begriffe wie „Gericht“ und „Fegfeuer“ erscheinen uns als schwierige Relikte früherer Zeit. Doch gehören sie zum Credo. Es ist nicht leicht über diese Themen zu sprechen, denn in der Bibel findet sich keine Beschreibung des Jenseits.

Zunächst einmal tröstlich: Christus ist nicht gekommen, um zu richten, sondern um zu retten (Joh 3,16f.). Die Grundfarbe des christlichen „Jenseits“ ist hell. Das berechtigt uns, auch für unsere Toten nicht in Angst zu beten, sondern in dem Vertrauen, dass sie gerettet sind. Dennoch bleibt die ernste Botschaft stehen, dass jeder Mensch vor dem Richterstuhl Gottes offenbar werden wird. Die mittelalterlichen Bilder schmücken dies aus. Dort geschieht der Ausgleich gesellschaftlicher Unterschiede – Könige, Bischöfe und Päpste stehen nackt vor dem Richter, gehen in Himmel oder Hölle. Es ist auch dem Mächtigen nicht vorzuenthalten, dass er einen höheren Richter über sich hat. Dem Armen wird Recht zuteil, all das sind wichtige Gedanken, die mit dem Gericht verbunden sind. Der Mensch ist verantwortlich für sein Tun, im Letzten kann er weder die Gesellschaft noch die äußeren Umstände, noch seine Gene für sein Tun verantwortlich machen. Gott richtet die Gedanken und Regungen der Herzen. Nur wenn der Mensch frei ist, wenn er verantwortlich ist, ist die Rede von einem letzten Gericht sinnvoll. Ja, ich bin jemandem verantwortlich. Allerdings jemandem, der mich retten, nicht richten will. Der Glaube an ein Gericht ist unverzichtbar, wenn wir an eine letztgültige Liebe glauben, die den Armen und den Opfern der Geschichte, sowie auch den Tätern von Unrecht und Verbrechen Gerechtigkeit und Recht verschaffen wird.

Wir glauben an ein Gericht am Ende der Zeiten. Genauso wie ich an ein Gericht am Ende meines Lebens glaube, wenn ich in der Stunde meines Todes meinem Retter begegne. Neuere Ansätze in der Theologie versuchen das Gericht so zu erklären. Im Tod begegne ich Christus, ich erkenne ihn, wie er ist: ganz Liebe und Zuwendung. Das wird eine unbeschreibliche Erfahrung sein. Wer aber auf eine solche Liebe trifft, der erkennt in einem Augenblick, wie wenig oder wie viel er oder sie selbst dieser Liebe in seinem Leben entsprochen hat. Gericht ist also Selbsterkenntnis des Menschen, die sehr schmerzlich sein kann. Das hilft mir, die Rede vom Gericht ernst zu nehmen, aber mir nicht Christus als einen Richter vorzustellen, der über mir thront, und mich und mein Leben von oben herab behandelt. Ich werde ihn von Angesicht zu Angesicht sehen, ich werde erkennen, „wie er ist“ so sagt die Schrift (1 Joh 3,2). Dies ist das Gericht über mein Leben: Die Begegnung mit einer Person, die mich liebt, und die mich erkennen lässt, wie ich bin, und wie die Wirklichkeit meines Lebens im Licht seiner Liebe ist. Diese Begegnung mit dem liebenden Gott ist auch Läuterung. Selbsterkenntnis kann wehtun. Fegefeuer, Läuterung ist kein Ort, den Gott erfunden hat, um Menschen zu quälen, sondern es ist eine Begegnung, ein Akt der Selbsterkenntnis und Veränderung. Wenn wir für Verstorbene beten, begleiten wir sie in diesem Geschehen. Unser Gebet wird schon ankommen, aber es muss nicht einen zornigen Richter gnädig stimmen, sondern wir tragen den Menschen, der uns voraus gegangen ist, mit unserem Gebet, wir stärken ihn, und bleiben ihm verbunden. Niemand geht allein in diese Begegnung mit Christus, wir begleiten unsere Verstorbenen.

Wir müssen angesichts der vielen Aussagen im Neuen Testament einen Gedanken hinzufügen. Das Gericht ist jetzt. Heute entscheidet sich mein ewiges Heil. Wenn ich heute die Liebe lebe, muss ich nicht mehr ins Gericht. Dann wird diese Begegnung mit dem liebenden Richter für mich eine unglaublich gute Begegnung werden. Wer sich heute schon ihm überlässt, wird ihm begegnen ohne Angst und Schmerz. Wer glaubt, wird nicht gerichtet, wer nicht glaubt und liebt, ist bereits gerichtet, sagt Jesus (Joh 3,18). Er richtet sich selbst. Dieser Gedanke ist zum einen tröstlich: Ich bin durch Christus gerettet. Ich kann ohne Angst leben. Aber es ist auch herausfordernd. Denn die Entscheidung, zu glauben, ihm zu vertrauen, kann ich nicht auf irgendeine Zukunft verschieben. Der Theologe Hans Urs von Balthasar hat unseren Glauben einmal so zusammengefasst: „Gott ist das letzte Ding des Geschöpfes. Er ist als Gewonnener Himmel, als Verlorener Hölle, als Prüfender Gericht, als Reinigender Fegfeuer. (…) Er ist es aber so, wie er der Welt zugewendet ist, nämlich in seinem Sohn Jesus Christus, der die Offenbarung Gottes und damit der Inbegriff der ‚letzten Dinge‘ ist.“[1] So werde ich für unsere Verstorbenen ganz vertrauensvoll beten. Und ich werde mich neu in Christi Gemeinschaft stellen, immer mehr sein Jünger werden wollen.

 

[1] Umrisse der Eschatologie, in: Skizzen zur Theologie I. Verbum Caro, Feriburg³ 1990, 276-300, 282.

Zur Pressemeldung