„Auswirkungen der Corona Krise auf die Pastoral im Bistum Mainz“

Bischof Peter Kohlgraf (c) Bistum Mainz
Bischof Peter Kohlgraf
Datum:
Fr. 18. Juni 2021
Von:
Bischof Kohlgraf

Dass unser Leben einmal über Monate von einer Pandemie bestimmt werden würde, hätte ich mir vor Beginn der Corona-Krise nicht vorstellen können. Vermutlich geht es vielen so. Wir mussten erleben, mit welchem Tempo ein lokaler Ausbruch einer Viruserkrankung die ganze Welt überrollen konnte. Die Globalisierung macht sich hier dramatisch bemerkbar. Angesichts der Krankheit ist uns bewusst geworden: Wir sind eine Menschheit. Bemühungen, das Virus als „chinesisches Virus“ zu deklarieren, um Spaltungen zu vertiefen, ändern nichts an dieser Tatsache, auch nicht die problematischen Klassifizierungen der Mutanten als „indisch“ oder „englisch“. Aber obwohl wir wissen, dass wir in einem Boot sitzen, zeigen sich die Ungleichheiten, etwa zwischen armen und reichen Ländern bei der Verteilung des Impfstoffs oder hierzulande, wo das soziale Gefälle bei Ansteckungsgefahr oder in der Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen deutlich erkennbar wird. 

Es ist auf jeden Fall lohnend, sich die Erfahrungen in diesen Krisen-Monaten im Bereich von Kirche und Religion genau anzuschauen und zu reflektieren. Dafür sprechen wenigstens zwei Gründe: Zum einen offenbart oder beschleunigt die Pandemie Entwicklungen und Zustände, die wir ohne sie leicht übersehen hätten. Zum anderen ist nach der Pandemie vor der möglicherweise nächsten Pandemie, sodass wir auch kirchlich Vorsorge treffen sollten, um vorbereitet zu sein.

Uns hat wiederholt die Frage beschäftigt, welche Konsequenzen die Erfahrungen der letzten Monate für die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt haben werden. Die Prognosen und Theorien fallen gegensätzlich aus. Während die einen auf eine stärkere Solidarität untereinander hoffen, erwarten andere einen baldigen Rückfall in alte Verhaltensmuster und Lebensgewohnheiten.

Erfahrungen mit Pandemien früherer Jahrhunderte lassen gewisse Wahrscheinlichkeiten ahnen. Aufschlussreich für mich war die Lektüre eines Buches von Volker Reinhardt über die Pestzeiten im 14. Jahrhundert1. Er resümiert seine Studien mit mehreren Beobachtungen2. Keine Pandemie der Vergangenheit habe „jemals eine neue Epoche eingeläutet“. Eher wurden Wandlungsprozesse initiiert, die sich erst in einem deutlichen Abstand erkennen lassen. Zunächst stand immer das Bemühen um die Bewältigung der konkreten Folgen im Mittelpunkt. Für das 14. Jahrhundert stellt Volker Reinhardt jedenfalls fest, dass die Pest die Menschen nicht besser gemacht hat, ganz im Gegenteil. Menschen verfestigen in der Krise eher alte Muster, Verhaltensweisen und Einstellungen. Nachdenklich machen Reinhardts Beobachtungen, dass die Erfahrungen mit der politischen Herrschaft das Misstrauen der Menschen gegenüber den Verantwortlichen verschärft haben. Es klingt wie ein Widerspruch dazu, wenn Menschen während und nach der Pandemie eine stärkere Autoritätshörigkeit an den Tag legten. Damals wie heute waren Menschen bereit, ohne große Widersprüche die Einschränkungen ihrer Freiheiten hinzunehmen. Unterordnung und Auflehnung sind wohl zwei Seiten einer Medaille. Die Überwindung der großen Pestepidemie im 14. Jahrhundert förderte sowohl Hedonismus als auch Frömmigkeit; beides kann als Reaktion der Menschen auf die Erfahrung der Vergänglichkeit des eigenen Lebens und als Auseinandersetzung damit gelten.

Dass die Corona-Pandemie Menschen frömmer gemacht hat, lässt sich bestimmt nicht belegen und auch für die Zukunft nicht erwarten. Die Bilder von Särgen und überfüllten Intensivstationen, die durch die Medien gingen, haben sich sicherlich tief in viele Seelen eingebrannt und die Unausweichlichkeit des Todes und die Fragilität des Lebens vor Augen geführt. Frömmer zu werden hieß auch zur Zeit der Pestepidemie vor fast 700 Jahren nicht zwangsläufig kirchentreuer. Das als massiv empfundene Versagen des Klerus war auch im 14. Jahrhundert ein immer wiederkehrendes Thema. Am Ende aber siegte die Sehnsucht nach Normalität und Vergessen. In der Rückschau wurden viele Erfahrungen dramatisiert, Klagen über Werteverlust damals wie heute. Auch die Flucht in Verschwörungsmythen lässt sich damals wie heute feststellen. Die Aggression gegen bestimmte Gruppen spaltete die Gesellschaft nicht selten. Die Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen kamen damals nicht in den Blick.

Die Umfrage im Bistum Mainz hilft uns, die heutigen Chancen und Problemfelder in den Blick zu nehmen. Ich will einige Felder herausgreifen und auch meine eigenen Erfahrungen beisteuern. Die Auswahl der Aspekte, die ich hier aufgreife, ist subjektiv. Selbstverständlich sind alle in der Umfrage genannten Themen und Personengruppen relevant.

Es sticht zunächst ins Auge, dass in vielen Antworten andere Schwerpunkte als wünschenswert genannt werden als diejenigen, die sich in der Realität herauskristallisiert hatten. Die meisten Befragten gaben an, in der Zeit des Lockdown besonders Kontakt und Gemeinschaft sowie Angebote der Seelsorge vermisst zu haben. Der Fokus der kirchlichen Angebote lag hingegen im Bereich der Liturgie. Es ist hier nicht der Ort, konkrete Ideen zu entwickeln. Aber wie in Krisenzeiten trotz räumlicher Distanz Nähe und Gemeinschaft hergestellt werden können, muss uns auch in Zukunft beschäftigen. Es hat auch im Bistum Mainz Zeit gebraucht, um etwa eine Seelsorge an Covid-19-Erkrankten flächendeckend zu gewährleisten. Denen, die sich dazu bereit erklärt haben, sei ein herzlicher Dank gesagt. Natürlich bildet die Befragung nicht das hohe Engagement mancher Hauptamtlicher und Ehrenamtlicher in der Begleitung von kranken, einsamen oder alten Menschen ab, und oft verhinderten auch die Vorschriften eine wirkliche Zuwendung. Dennoch müssen wir diese Schwerpunkte im Blick behalten. Wenn es neben der Liturgie eine Kernaufgabe der Kirche gibt, dann ist es die Seelsorge, das Begleiten von Menschen in ihren verschiedenen Lebenssituationen. Die anfänglichen Probleme bei der Begleitung gerade der Sterbenden dürfen sich in dieser Weise nicht wiederholen.

Die Liturgie hatte einen hohen Stellenwert. Viele Pfarrer begannen bald nach Beginn der Pandemie mit dem Streamen der Gemeindegottesdienste, so dass eine Mitfeier zu Hause möglich war. Schnell meldeten sich Kritiker zu Wort. Es stimmt: Die Eucharistie ohne Gläubige zu feiern und als Priester vor der Kamera zu kommunizieren, während anderen Gläubigen ein eucharistisches Fasten auferlegt wird, wurde von manchem als Anfrage an das priesterliche und liturgische Verständnis formuliert. Diese Situation ist der Not geschuldet. Dennoch war auch wahrzunehmen, dass solche Streaming-Angebote, deren Qualität im Laufe der Monate oft besser wurde, von manchem Gläubigen dankbar als Möglichkeit einer Verbindung mit der betenden Gemeinde vor Ort angenommen wurde. Den eigenen Pfarrer zu sehen und einzelne Menschen der Gemeinde im Gottesdienst medial zu erleben, war auch ein Trost und eine Einladung zur Mitfeier. Da sollten die Urteile nicht zu hart ausfallen. Dennoch ist bei den Antworten ein Gespür für die Notwendigkeit von Präsenz und Begegnung wahrnehmbar.

Auch in breiter angelegten Studien zeigt sich, wie wichtig und notwendig das Bemühen um eine gute Qualität der Angebote ist. Die Situation der Eucharistiefeiern nehme ich durchaus zwiespältig wahr. Zum einen scheint es eine Sehnsucht nach Gemeinschaft und Präsenz und auch nach dem Empfang des Sakraments zu geben. Zum anderen kann es aber auch sein, dass sich manche der sonntäglichen Eucharistiefeier in Präsenz entwöhnt haben. Das entspräche durchaus den Erfahrungen früherer Jahrhunderte, in denen zwar die existenziellen Fragen auf der Seele brannten, die Menschen aber sich nicht selten der Kirche entfremdeten. Umso wichtiger ist die Qualität, d.h. eine anspruchsvolle, nahe an den Themen der Menschen und an der Frohen Botschaft orientierte Verkündigung, hochwertige Musik und eine ständige Überprüfung dieser Standards.

Ich verhehle nicht, dass ich über manche Wahrnehmungen am Beginn der Pandemie theologisch erschüttert war: Es hat nicht nur Schmunzeln ausgelöst, einen Pfarrer im Hubschrauber zu sehen, der aus der Luft einen Ort mit Weihwasser besprengt. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass nicht selten auch magisches Denken an die Oberfläche gespült wurde. Bei mir im Bischofshaus schlugen Themen auf, die eine religiöse Egozentrik offenbarten. Dies war etwa der Fall, wenn das Recht auf Mundkommunion gegen alle virologischen Erkenntnisse gefordert wurde, sozusagen ohne Rücksicht auf Verluste oder mit dem Hinweis, beim Kommunionempfang könne man sich nicht infizieren. Die Krise hat hier etwas ans Tageslicht gebracht, was unter der Oberfläche schwelt. Religiöse Haltung geht manchmal mit einem bedenklichen Egoismus einher. Auch das Verhalten einzelner in den Präsenzgottesdiensten, die nach und nach wieder möglich waren, spricht nicht für ein Erkennen der Bedürfnisse anderer Menschen. Mir als Bischof gegenüber wurden oft Rechte eingefordert, die nicht von Nächstenliebe geprägt waren. Dass Gottesdienst und Nächstenliebe notwendig zusammengehören, wurde in diesen Beispielen für mich greifbar.

Als eine große Bereicherung sehe ich die kreativen Hausgottesdienste, die ich nicht als Konkurrenz zur Eucharistiefeier verstehe. Die Bedeutung der Hauskirchen sollten wir fördern und über die Krise hinaus unterstützen und ausbauen. Aus dem Bekanntenkreis höre ich gelungene Beispiele, wo etwa Eltern mit Kindern gebetet und Gottesdienst gefeiert haben und zu Zeuginnen und Zeugen des Glaubens geworden sind. Zwar ist die Eucharistie Quelle und Höhepunkt, aber die liturgische Vielfalt, die in den letzten Jahren auch manchmal verkümmert ist, ist ein großer Schatz, den es wieder zu heben gilt.

Gottes- und Nächstenliebe gehören zusammen. Da macht es mich nachdenklich, dass die in unserem Bistum ausdrücklich gewünschten Angebote der Sozialpastoral eher versteckt waren. Das Ziel der Sozialpastoral im Bistum Mainz besteht ja darin, die Caritas, also die Zuwendung zum Nächsten, als Thema der Gemeinden zu entdecken und zu entfalten. Die Kluft zwischen arm und reich gerade in der Krise habe ich kaum als kirchliches Thema wahrgenommen. Dass dies gerade in der Krise zu kurz gekommen ist, zeigt die Notwendigkeit eines Weiterarbeitens und einer fortzusetzenden Bewusstseinsbildung in diesem Feld, das auch für den Pastoralen Weg entscheidend sein wird. Die Befragung nennt dabei entscheidende Themen, die ich allen zur Weiterentwicklung ans Herz lege.

Wo war Kirche in dieser Zeit der Krise? Diese Kritik habe ich als Bischof oft hören müssen. Die Umfrage zeigt, dass diese kritische Anfrage von vielen geteilt wird. Ich erlaube mir jedoch auch die Gegenfrage: Wen meint Ihr mit „Kirche“? Es mag sein, dass manche Hauptamtlichen erst einmal damit beschäftigt war, sich zu sortieren und die Situation zu erfassen. Die Befragung weitet den Blick auf die kirchliche Präsenz. Gerade in den sogenannten „kategorialen“ Feldern der Pastoral war die Kirche mit ihrem personalen Angebot engagiert an der Seite der Menschen, was gewiss kein pauschales (Negativ-)Urteil über die Tätigkeit in den Ortsgemeinden sein darf. Die Kirche war präsent in den Kindertageseinrichtungen, in den Einrichtungen der Caritas, in den Schulen. Das sind Orte von Kirche, die offenbar noch nicht immer als solche identifiziert werden. In der Krise zeigen sich hier die Aufgaben, die im Rahmen des Pastoralen Weges im Hinblick auf die Vernetzung von Kirchorten und Gemeinden unterschiedlicher Art vor uns liegen. Es ist eine richtige Erkenntnis, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Bedeutung vernetzten Arbeitens in dieser Zeit schätzen gelernt haben.

Die Frage nach der Präsenz der Kirche führt uns auch die Bedeutung oder die Defizite unserer digitalen und medialen Möglichkeiten vor Augen, so qualitätsvoll diese im Einzelfall auch sein mögen. Es zeigt sich häufig, dass wir nur die Menschen erreichen, die zu unserem Binnenkreis gehören und kaum Ausstrahlung auf die eher Distanzierten oder nicht regelmäßig Praktizierenden haben. Das mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass wir noch zu oft über die rein binnenkirchlichen Themen sprechen und uns eine Sprache fehlt, die existenziellen Fragen aufzugreifen, auch wenn es spirituelle Angebote gab und gibt, die von vielen Menschen genutzt werden. Die Erfahrung des ausgehenden Mittelalters, dass die lebensrelevanten Fragen vorhanden sind, die Antworten aber nicht mehr von der Kirche erwartet werden, gilt erst recht für heute.

Erst nach und nach kam die Situation der Kinder, Jugendliche und ihrer Familien in den Blick, und das gilt nicht nur für den kirchlichen Bereich. Der monatelange Distanzunterricht bzw. das Homeschooling, aber auch das Fehlen von Freizeitmöglichkeiten waren für viele eine große Herausforderung – Kinder, Jugendliche und ihre Eltern gleichermaßen. Mancherorts ist die Jugendarbeit komplett auf Eis gelegt. Woanders haben sich kreative Aktivitäten entwickelt. Ich freue mich, dass ich selbst bei solchen neuen Angeboten mitmachen konnte. Das war offenbar auch ein Signal in die gesellschaftliche Öffentlichkeit. Es ist Aufgabe der Kirche darauf hinzuweisen, dass körperliche Gesundheit ein hohes Gut ist und wir mit dafür Sorge tragen müssen. Dem gelten die bis heute notwendigen Hygienemaßnahmen. Vielleicht haben wir aber zu leise die anderen Folgen der Pandemie angesprochen, wo wir noch stärker Anwältin der Menschen hätten sein können, die vergessen werden oder deren Situation als weniger relevant verstanden wurde.

Der Rückblick ins 14. Jahrhundert eingangs war keine intellektuelle Spielerei. Die Sehnsucht nach der Normalität des Lebens ist stark – das war eine Erkenntnis aus der Beschäftigung mit der Bewältigung von Pandemien in der Vergangenheit. Die vorliegende Umfrage und ihre Ergebnisse fordern dazu auf, die Chance wahrzunehmen, die darin liegen kann, nicht einfach in das Gewohnte zurückzufallen, sondern Neues aufzugreifen und Verhaltensmuster kritisch zu reflektieren. Nicht zuletzt müssen wir als Kirchen eine laute Stimme haben, wenn Verschwörungsmythen die Runde machen, Menschen Aggressionen schüren und die Spaltungen in Kirche und Gesellschaft sich vertiefen. So wertvoll der Gottesdienst ist und ins Zentrum gehört, den Anspruch auf eine gesellschaftliche Präsenz dürfen wir auch bei kleiner werdenden Zahlen nicht aufgeben – ganz im Gegenteil. Wenn Menschen uns vorwerfen, abgetaucht zu sein, kann man das ja auch als ein Zeichen dafür werten, dass viele Menschen noch neugierig auf uns sind und bei aller Kritik auch spüren, dass unsere Botschaft von einem „Gott mit uns“ nichts an Bedeutung verloren hat. Unsere Botschaft von einem Gott, der tröstet und befreit, trägt in und nach der großen Krise. Der Satz von Gesundheitsminister Spahn zu Beginn der Pandemie, dass wir einander viel zu vergeben haben werden, wird sich wohl bewahrheiten. Hoffentlich gelingt es den Kirchen, ihren Beitrag zur gesellschaftlichen Versöhnung zu leisten. In der Umfrage und deren Auswertung steckt viel Arbeit. Ich danke sehr ehrlich allen, die sich an der Befragung beteiligt haben. Ich bin dankbar und als Bischof auch ein wenig stolz auf die Initiative unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die viel Engagement und Interesse investiert haben. Ich bin davon überzeugt, dass die Mühe nicht umsonst war. Daran bitte ich alle mitzuarbeiten.

 1Die Macht der Seuche. Wie die Große Pest die Welt veränderte 1347-1353, München ²2021. 

 2Seiten 235-241.