Hoffnung in schweren Zeiten?!

Norbert Nichell (c) Norbert Nichell
Norbert Nichell
Datum:
Fr. 14. Jan. 2022
Von:
Norbert Nichell , Klinikseelsorger an der Universitätsmedizin Mainz

Lange schon vor Corona war die Überlastung des Klinikpersonals bekannt. Auf Maßnahmen, die zu einer grundlegenden Veränderung der Situation führen könnten, warten wir immer noch… und HOFFNUNG schwindet.Klinikseelsorger Norbert Nitchell in einem persönlichen Text zur Situation.

„Bis zu meinem Sturz war noch alles in Ordnung, jetzt weiß ich nicht einmal, ob meine Tochter mich besuchen darf“, sagt mir die über 90-jährige Patientin – dabei fließen ihr Tränen aus den Augen. „Sie versucht alles, aber das ist so schlimm mit dem Besuchsverbot, so allein zu sein! Schon zweimal wurde meine OP verschoben, immer musste ich nüchtern bleiben – und heute weiß ich auch noch nicht, ob es klappt“, sagt sie mir weiter mit sorgenvollen Augen, die mich fast flehentlich anschauen. HOFFNUNG ist (noch) da, aber sie schwindet mit jedem Tag, an dem sie nach ihrem Schulterbruch länger warten muss. Als ich sie nach dem frage, was ihr Kraft geben könnte, erzählt sie mir, - und wieder steigen ihr die Tränen in die Augen -, dass sie früher gern und viel in die Kirche zum Gottesdienst gegangen ist, aber mit der Sexualmoral der Kirche war sie nicht einverstanden und hat sich abgewendet und seitdem das mit dem Missbrauch bekannt geworden ist, hat sie allen Bezug verloren. Ich spüre die Sehnsucht nach dieser einstmals vertrauten Beziehung zu Gott, die ihr immer Kraft und HOFFNUNG gegeben hatte – und frage sie, ob sie möchte, dass ich das nächste Mal mit der Kommunion komme. Mit warmen Augen, die sich mit zunehmendem Gespräch verändert haben, schaut sie mich lange an und wir vereinbaren, dass ich zwei Tage später mit der Kommunion wieder komme. Ich spüre die Dankbarkeit über unser Gespräch, in dem sie als „Meenzer Mädsche“ vom Aufwachsen in der Neustadt erzählte und vom Glauben, der ihr einmal viel bedeutete. Körperlich hat sich ihre Situation nicht verändert, aber ihre Seele konnte „aufatmen“ – dankbar schaut sie mir nach,  bis sich unsere Augen zum Abschied nochmals treffen und ich ihr ermutigend zunicke.

„Wir sind für den Körper da, für die Seele sind andere zuständig“, sagt die Oberärztin während der Visite in der Kinderklinik zu einer jungen Patientin. Als ich mit der Patientin ins Gespräch komme, offenbart sie mir die Gründe, warum sie in diese Situation gekommen ist, was sie der Ärztin und auch ihrer Mutter nicht sagen wollte – und ich staune, wie gut sie sich selbstkritisch reflektieren kann. Als ich sie tags drauf erneut besuche, strahlt sie mich an und ich spüre, dass in ihr etwas in Gang gekommen ist, was sie zuversichtlich weitergehen lässt: HOFFNUNG in verzweifelter Situation ist gewachsen – und ein weiteres Mal erlebe ich ganz konkret, wie „Reden hilft und heilt“.

Zwei Beispiele von unzähligen, die ich in diesen Tagen in unserer Unimedizin erlebe angesichts von Besuchsverbot, zunehmenden Ängsten und überlastetem Pflegepersonal, (u.a. aufgrund des sich immer stärker zuspitzenden Personalmangels), das aber trotzdem immer noch mit viel „Herzblut“ seinen Dienst tut. „Es ist nicht die Anzahl der Corona-Patienten, die ist nicht so groß, sondern die Hilflosigkeit, die wir angesichts der Verläufe bei manchen Menschen spüren, was wir so bisher nicht gekannt haben - und die lange Zeit, die nun schon hinter uns liegt“, sagt mir der Oberarzt einer Intensivstation, die mich über unsere 24h-Rufbereitschaft für die Begleitung einer Familie gerufen hatte. „Unsere Seele ist müde geworden! Kolleg:innen haben gekündigt, weil sie ausgebrannt sind – und die Wartezeit für eine Behandlung ihrer posttraumatischen Belastungsstörungen beim Psychologen beträgt ein Jahr“, sagt mir die Pflegerin nach dem Sterbesegen für einen Patienten, zu dem sie mich gerufen hatte. Lange schon vor Corona war die Überlastung des Klinikpersonals bekannt. Auf Maßnahmen, die zu einer grundlegenden Veränderung der Situation führen könnten, warten wir immer noch und HOFFNUNG schwindet. Die Situation in unseren Kliniken ist leider nur ein Beispiel dafür, wie krank unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht geworden ist. Ob Politik, Gesellschaft und jede:r Einzelne von uns noch rechtzeitig „das Ruder herumreißen können“? Ich will und kann die HOFFNUNG nicht aufgeben, denn „in der Mitte der Nacht liegt der Anfang eines neuen Tags und in ihrer dunklen Erde blüht die HOFFNUNG“, wie uns eines der Neuen Geistlichen Lieder erzählt.

Persönliche Erfahrungsberichte zur Pflegesituation und Überlastung des Klinikpersonals

Trost in schweren Zeiten (c) stock.adobe.com

Unsere Seele ist müde

Trost in schweren Zeiten
Datum:
Fr. 14. Jan. 2022
Von:
Anja Weiffen/ Kirchenzeitung

Corona hat die Lage in Kliniken noch verschärft: Immer mehr medizinisches Personal kämpft gegen Zeitdruck oder kündigt. In welcher Gemütsverfassung sind Pflegekräfte und Ärzte? Und wie kann die Klinikseelsorge hier helfen?

Für die, die dableiben, wird es noch enger

„Es ist nicht die Anzahl der Corona-Patienten, die ist nicht so groß, sondern die Hilflosigkeit, die wir angesichts der Verläufe bei manchen Menschen spüren, was wir so bisher nicht gekannt haben – und die lange Zeit, die nun schon hinter uns liegt.“ Dieses Zitat stammt von einem Oberarzt, mit dem Klinikseelsorger Norbert Nichell über seine 24-Stunden-Rufbereitschaft zu tun hatte. Nichell, der regulär an der Universitätsmedizin Mainz seinen Dienst als Seelsorger ausübt, bestätigt diese Situation. „Bisher war die Zahl der Corona-Intensivpatienten in Mainz nie wirklich groß. Zum Glück“, sagt er. „Dennoch belastet die Pandemie das Krankenhauspersonal zusätzlich. Allein das ständige Anziehen von Schutzkleidung ist eine Herausforderung.“ Schon vor Corona war der Arbeitsalltag in Kliniken angespannt, beobachtet Nichell. Vor allem der sich zuspitzende Personalmangel ist ein Problem. Er zitiert eine Pflegerin, die ihm einen Einblick in den Gemütszustand von Pflegekräften gibt: „Unsere Seele ist müde geworden! Kolleg*innen haben gekündigt, weil sie ausgebrannt sind – und die Wartezeit für eine Behandlung ihrer posttraumatischen Belastungsstörungen beim Psychologen beträgt ein Jahr.“
Nichell erlebt Menschen, die ihre Arbeit mit viel Herzblut tun. „Die Teams versuchen über eine hohe Identifikation mit ihrer Arbeit diesen steigenden Druck von Arbeitsverdichtung und psychischen Belastungen zu meistern“, berichtet der Seelsorger. „Aber irgendwann kommt bei manchen ein Punkt: Plötzlich geht nichts mehr. Und wenn dann jemand kündigt, wird es für die, die dableiben, noch enger.“ Norbert Nichell schildert die Dimension des Problems. „Bei den regelmäßig stattfindenden Seminaren ,Umgang mit Sterben, Tod und Trauer‘ in der Krankenpflegeschule, die wir von der Seelsorge im dritten Ausbildungsjahr leiten, frage ich immer am Ende des Seminars, wer von den Teilnehmenden nach Abschluss der Ausbildung im Beruf bleiben will – und ich freue mich, wenn möglichst viele bleiben wollen: beim vorletzten Kurs waren es fast 100 Prozent, jetzt waren es gerade mal noch 50 Prozent.“

Wir können für eine gute Atmosphäre sorgen.

Dass immer mehr Pflegekräfte gehen, beschäftigt auch Claudia Frickel. Sie ist Stationsleiterin der Orthopädie im Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie der Universitätsmedizin Mainz. „Ich höre viel von dem Thema, und es gab schon zwei Kündigungen hier auf der Station. Ich kämpfe jeden Tag darum, mein Team zu motivieren. Und es kommen kaum neue Mitarbeitende nach“, sagt die Pflegerin. „Unser Beruf ist kräftezehrend, auch körperlich. 2021 war die Station immer überbelegt, wir wussten nicht mehr, wohin mit den Patienten. Die Akutgeriatrie ist voll, und auch viele Altenheime nehmen aktuell niemanden mehr an.“ Über Jahre hin habe sich die Arbeit in der Pflege verändert. „Ungefähr seit 2010 sind die Anforderungen deutlich gestiegen. Der demografische Wandel macht sich bemerkbar, die Patienten sind älter und kränker, vom Gewicht her schwerer. Demenz spielt öfter eine Rolle.“ Auch die Ansprüche an den Beruf sind gewachsen. „Zudem ist im Lauf der Jahre ein deutlicher Anstieg der Medikation zu verzeichnen.“ Ihrer Meinung nach muss der Personalschlüssel diesen neuen Bedingungen angepasst werden. Claudia Frickel legt viel Wert auf Empathie auf ihrer Station. „Bei uns war es in der Vergangenheit hart an der Grenze, dass wir noch Zeit hatten, mit Patienten zu reden. Denn wer diesen Beruf mit Leib und Seele ausübt, möchte auch Zeit für seine Patienten haben. Wer diese dann nicht hat, geht abends mit einem unglücklichen Gefühl nach Hause.“
Universitätsprofessor Christoph Kampmann, Leiter der Kinderkardiologie am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsmedizin Mainz, stellt eine „unglaubliche Ökonomisierung“ der Krankenhäuser fest. „Da bleibt die Seele auf der Strecke, wenn man nicht aufpasst.“ Seit der Einführung des DRG-Abrechnungssystems „sind viele Betten abgebaut worden und werden weiter abgebaut, Pflegekräfte fehlen, Pflegezeitenbedarf wird nach Minutentakt verrechnet, dafür hat sich das Medizincontrolling vervielfacht“. Das Sparen an Betten und Personal habe aber zu keiner besseren Versorgung von Menschen geführt, im Gegenteil, „es wird in der Medizin immer mehr Geld ausgegeben“. Zum Beispiel für Folgeschäden. Er vergleicht die Medizin mit anderen Bereichen des Sozialsys-
tems: „Kann man mit der Feuerwehr oder mit Schulen Geld verdienen?“ Kampmann ist überzeugt, dass unter Einsparungen zuerst die Patienten leiden. „Das wird dann vom medizinischen, in erster Linie pflegerischen und ärztlichen Personal aufgefangen und kompensiert.“ Es brauche in diesen Berufen heute Demut und „eine freundliche Widerstandsfähigkeit, um den hohen ethischen Anspruch, den die allermeisten Kollegen haben, beizubehalten und missionarisch zu verbreiten“.
Kampmann, seit 27 Jahren Leiter der Kinderkardiologie, sieht die Klinikseelsorge gerade in dieser angespannten Lage als „unverzichtbare, absolute Bereicherung“, würde sie fehlen, wäre das eine Katastrophe, sagt er. Zugleich nimmt er wahr, dass in den letzten Jahren die Zahl der Ehrenamtlichen, die sich für Besuchsdienste engagieren, zurückgegangen ist. Auch dass sich die Kirche sukzessive aus dem Krankenhausbereich zurückzieht, bedauert der Oberarzt. Kampmann, seit 27 Jahren Leiter der Kinderkardiologie, sieht die Klinikseelsorge gerade in dieser angespannten Lage als „unverzichtbare, absolute Bereicherung“, würde sie fehlen, wäre das eine Katastrophe, sagt er. Zugleich nimmt er wahr, dass in den letzten Jahren die Zahl der Ehrenamtlichen, die sich für Besuchsdienste engagieren, zurückgegangen ist. Auch dass sich die Kirche sukzessive aus dem Krankenhausbereich zurückzieht, bedauert der Oberarzt.

Hier ist viel Vertrauen gewachsen

An den Rahmenbedingungen können Seelsorger wenig ändern, sagt Norbert Nichell, der außer für Patienten und Angehörige auch für das Personal ansprechbar ist. „Wir können für eine gute Atmosphäre sorgen. Hier ist viel Vertrauen über die Jahre gewachsen.“ Nicht nur Gesprächsmöglichkeiten entlasten das Krankenhauspersonal. „Auch wenn Pflegende und Ärzte wissen, dass Seelsorger bei den Patienten sind, nimmt das ihnen den Druck.“ Veränderungen in den Strukturen der Krankenhauswelt sieht Nichell bisher nicht. „Es gibt Häppchen von Veränderung. Aber Corona macht deutlich, dass viel im Argen liegt. Die Pandemie ist für mich ein Appell zu einer anderen Sicht auf das, was ist.“

Diesen Artikel und noch viel mehr lesen Sie in der neuesten Ausgabe von Glaube und Leben vom 16. Januar 2022. Gibt's was Neues bei Ihnen, lassen Sie es uns wissen! Anruf - 06131/28755-0 - oder E-Mail: info@kirchenzeitung.de

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