Lange schon vor Corona war die Überlastung des Klinikpersonals bekannt. Auf Maßnahmen, die zu einer grundlegenden Veränderung der Situation führen könnten, warten wir immer noch… und HOFFNUNG schwindet.Klinikseelsorger Norbert Nitchell in einem persönlichen Text zur Situation.
„Bis zu meinem Sturz war noch alles in Ordnung, jetzt weiß ich nicht einmal, ob meine Tochter mich besuchen darf“, sagt mir die über 90-jährige Patientin – dabei fließen ihr Tränen aus den Augen. „Sie versucht alles, aber das ist so schlimm mit dem Besuchsverbot, so allein zu sein! Schon zweimal wurde meine OP verschoben, immer musste ich nüchtern bleiben – und heute weiß ich auch noch nicht, ob es klappt“, sagt sie mir weiter mit sorgenvollen Augen, die mich fast flehentlich anschauen. HOFFNUNG ist (noch) da, aber sie schwindet mit jedem Tag, an dem sie nach ihrem Schulterbruch länger warten muss. Als ich sie nach dem frage, was ihr Kraft geben könnte, erzählt sie mir, - und wieder steigen ihr die Tränen in die Augen -, dass sie früher gern und viel in die Kirche zum Gottesdienst gegangen ist, aber mit der Sexualmoral der Kirche war sie nicht einverstanden und hat sich abgewendet und seitdem das mit dem Missbrauch bekannt geworden ist, hat sie allen Bezug verloren. Ich spüre die Sehnsucht nach dieser einstmals vertrauten Beziehung zu Gott, die ihr immer Kraft und HOFFNUNG gegeben hatte – und frage sie, ob sie möchte, dass ich das nächste Mal mit der Kommunion komme. Mit warmen Augen, die sich mit zunehmendem Gespräch verändert haben, schaut sie mich lange an und wir vereinbaren, dass ich zwei Tage später mit der Kommunion wieder komme. Ich spüre die Dankbarkeit über unser Gespräch, in dem sie als „Meenzer Mädsche“ vom Aufwachsen in der Neustadt erzählte und vom Glauben, der ihr einmal viel bedeutete. Körperlich hat sich ihre Situation nicht verändert, aber ihre Seele konnte „aufatmen“ – dankbar schaut sie mir nach, bis sich unsere Augen zum Abschied nochmals treffen und ich ihr ermutigend zunicke.
„Wir sind für den Körper da, für die Seele sind andere zuständig“, sagt die Oberärztin während der Visite in der Kinderklinik zu einer jungen Patientin. Als ich mit der Patientin ins Gespräch komme, offenbart sie mir die Gründe, warum sie in diese Situation gekommen ist, was sie der Ärztin und auch ihrer Mutter nicht sagen wollte – und ich staune, wie gut sie sich selbstkritisch reflektieren kann. Als ich sie tags drauf erneut besuche, strahlt sie mich an und ich spüre, dass in ihr etwas in Gang gekommen ist, was sie zuversichtlich weitergehen lässt: HOFFNUNG in verzweifelter Situation ist gewachsen – und ein weiteres Mal erlebe ich ganz konkret, wie „Reden hilft und heilt“.
Zwei Beispiele von unzähligen, die ich in diesen Tagen in unserer Unimedizin erlebe angesichts von Besuchsverbot, zunehmenden Ängsten und überlastetem Pflegepersonal, (u.a. aufgrund des sich immer stärker zuspitzenden Personalmangels), das aber trotzdem immer noch mit viel „Herzblut“ seinen Dienst tut. „Es ist nicht die Anzahl der Corona-Patienten, die ist nicht so groß, sondern die Hilflosigkeit, die wir angesichts der Verläufe bei manchen Menschen spüren, was wir so bisher nicht gekannt haben - und die lange Zeit, die nun schon hinter uns liegt“, sagt mir der Oberarzt einer Intensivstation, die mich über unsere 24h-Rufbereitschaft für die Begleitung einer Familie gerufen hatte. „Unsere Seele ist müde geworden! Kolleg:innen haben gekündigt, weil sie ausgebrannt sind – und die Wartezeit für eine Behandlung ihrer posttraumatischen Belastungsstörungen beim Psychologen beträgt ein Jahr“, sagt mir die Pflegerin nach dem Sterbesegen für einen Patienten, zu dem sie mich gerufen hatte. Lange schon vor Corona war die Überlastung des Klinikpersonals bekannt. Auf Maßnahmen, die zu einer grundlegenden Veränderung der Situation führen könnten, warten wir immer noch und HOFFNUNG schwindet. Die Situation in unseren Kliniken ist leider nur ein Beispiel dafür, wie krank unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht geworden ist. Ob Politik, Gesellschaft und jede:r Einzelne von uns noch rechtzeitig „das Ruder herumreißen können“? Ich will und kann die HOFFNUNG nicht aufgeben, denn „in der Mitte der Nacht liegt der Anfang eines neuen Tags und in ihrer dunklen Erde blüht die HOFFNUNG“, wie uns eines der Neuen Geistlichen Lieder erzählt.