An diesem „Vorabend zum Tag der Arbeit“ sprechen wir über den Wert der beruflichen Ausbildung. Dazu fallen mir zunächst zwei Wahrnehmungen ein. Vielleicht ist es meine persönliche Beobachtung, dass gesellschaftlich immer mehr allein die akademische Ausbildung und Tätigkeit öffentliche Anerkennung erfährt. Der Applaus für die Pflegekräfte am Anfang der Corona-Pandemie war eher von mäßiger Nachhaltigkeit. Das ist ein erster Eindruck. Ein zweiter: Im Bistum Mainz haben wir in den letzten Jahren zwei Jugendsynoden durchgeführt, die gut gelungen sind. Dennoch war eine Wahrnehmung: Junge Menschen aus dem Handwerk und dem nicht-akademischen Umfeld sind erheblich unterrepräsentiert. Ich denke an Adolf Kolping und sein Bemühen um die Lehrlinge und Gesellen im Handwerk, denen er ein Begleiter und Helfer sein wollte. Es macht mich nicht glücklich, dass wir als Kirche diesen für unsere Gesellschaft so wichtigen Menschen kaum noch Ansprechpartnerin sind. Und nicht nur in dem Sinne, dass wir ihnen helfen, ins Leben zu gehen, sondern auch, dass ihre Sichtweisen für unsere Verkündigung und Arbeit so wichtig sein könnten. Sie könnten uns helfen, eine lebensnahe und realistische Sprache und Themensetzung zu finden, sie könnten uns „erden“ im besten Sinne. Denn es stimmt ja: Die Themen, die wir in der Kirche verhandeln, sind Themen für Insider, und oft verwenden wir eine Sprache, die normale Menschen nicht sprechen.
Es ist gut, wenn wir die Situation junger Menschen in der Ausbildung nicht nur heute thematisieren, sondern auch für unsere kirchliche Praxis im Blick behalten. Es ist wohl kein Zufall, dass die Lehre Jesu so gut verständlich war. Er kam aus einer Handwerkerfamilie, weder war er Schriftgelehrter noch Priester am Tempel. Seine Gleichnisse entnimmt er dem Alltag der „normalen Leute“, aus dem Leben der Menschen, den Erfahrungen der Landwirtschaft, des Handels, der alltäglichen Probleme und Verhaltensweisen. Seine Rede ist nicht abstrakte Belehrung, sondern sie speist sich aus der Kenntnis des Alltags der Menschen in seinem Land. Ich glaube: Dies wird oft nicht mehr mit der Kirche verbunden. Umso wichtiger ist ein solcher Tag, der aber seine Wirkung durch das ganze Jahr entfalten muss. Ich bin dankbar, dass etwa unsere Betriebsseelsorge immer wieder nahe an den Themen der Menschen im betrieblichen Alltag ist und ihnen zur Seite steht. Ich darf als Beispiel nennen die Begleitung und Unterstützung der streikenden LKW-Fahrer aus Polen, die Unterstützung fanden in ihrem Kampf um einigermaßen menschliche Arbeitsbedingungen. Da waren Seelsorgerinnen und Seelsorger auch aus dem Bistum Mainz an ihrer Seite. Die oft unmenschlichen Arbeitsbedingungen, die besonders Menschen aus Osteuropa treffen, dürfen der Kirche – in Deutschland wie in Polen – nicht gleichgültig sein.
Heute geht es um junge Menschen in der Ausbildung. Gerade fand die Woche für das Leben statt, in diesem Jahr unter dem Motto: „Generation Z(ukunft). Sinnsuche zwischen Angst und Perspektive.“ Diese Sinnsuche trifft ja auch die jungen Menschen in der Ausbildungssituation. Zum einen erleben sie, dass ihre Fachexpertise gebraucht wird, zum anderen leben sie in einer Welt, die bedroht ist von durchaus berechtigten Ängsten und Sorgen, um die Zukunft der Erde, um den Frieden, um den Zusammenhalt der Gesellschaft, um die Zukunft und Bildung der Kinder und Jugendlichen, um soziale Gerechtigkeit und die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Stadt und Land und den unterschiedlichen sozialen Bedingungen in den Regionen unseres Landes. Nach der Corona-Pandemie ist die Vernachlässigung und Geringschätzung gerade junger Menschen auch seitens der Politik selbstkritisch wahrgenommen worden. Beim Eröffnungsgottesdienst hat Annette Kurschus, die EKD-Ratsvorsitzende, folgendes gesagt: „Die Lebenswelt junger Menschen kommt in den Blick: Worüber denken sie nach, was beschäftigt sie? Wovor haben sie Angst, was macht ihnen Sorge? Woraus ziehen sie Kraft, was sind ihre Stärken? Wonach sehnen sie sich, was hoffen sie?“ Zu einem guten Aufwachsen gehörten nicht nur vielfältige soziale Kontakte, es brauche dafür auch positive Perspektiven, Zuversicht, ein hoffnungsvolles Morgen. „Die jungen Menschen der Generation Z kennen keine klare und einfache Welt; sie gehen mit Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit ganz selbstverständlich um. Sie tun nichts unhinterfragt, stellen die ‚Sinnfrage‘ in sämtlichen Lebensbezügen und setzen klare Prioritäten in ihrem Leben“, sagte die EKD-Ratssitzende. Sie wies zudem darauf hin, dass die Gefährdung der psychischen Gesundheit junger Menschen während der letzten Jahre deutlich zugenommen habe: „Existenzielle Krisen bis hin zu Suizidalität im Jugendalter sind keine Seltenheit. Auch dafür wollen wir mit der diesjährigen „Woche für das Leben“ ausdrücklich sensibilisieren.“ Kurschus betonte: „Wir werden genau hinhören, genau nachfragen und unsere kirchliche Unterstützung anbieten, wo sie gewünscht ist und gebraucht wird.“
Dazu kann ich am heutigen Abend nur ermutigen. Berufliche Ausbildung muss demnach mehr sein als ein Fitmachen für das Bestehen-Können auf dem oft brutalen Arbeitsmarkt. Vielleicht ist die in den letzten Jahren zunehmende Konzentration auf die ökonomische Bedeutung der Arbeit und des arbeitenden Menschen ein Mosaikstein des gesamten Problems der jungen Generation, wie Kurschus sie beschreibt. Immer nur zu erleben, dass man nach Leistung, Gelderwerb und Flexibilität bewertet wird, trägt auch zur seelischen Belastung bei. Das christliche Menschenbild und auch die katholische Soziallehre haben immer wieder auch dazu ermutigt zu betonen, was junge Menschen beitragen zum gesellschaftlichen Miteinander und zum Wohl aller jenseits der ökonomischen Fragen. Junge Menschen in der Ausbildung dürfen stolz sein auf das, was sie können und tun. Sie haben Bedeutung jenseits von Leistung und messbaren Ergebnissen. So hat Ausbildung immer auch mit der Ausbildung der Persönlichkeit zu tun, mit Orientierung, Begleitung, Wertschätzung, Herausforderung und Unterstützung von eigenem Denken und Kreativität. Ausbildung soll im Sinne von Annette Kurschus Lust auf das Morgen machen, das Gestalten von Perspektiven und der Freude an gemeinsamen Tun und dem Arbeiten mit anderen im Team und am Entwickeln gemeinsamer Ideen.
In den bischöflichen Visitationen ist immer auch ein Tag der Arbeitswelt eingeplant. Ich erinnere mich an diese Begegnungen gerne, in der Pandemie sind sie leider ausgefallen. Sie werden in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Beim letzten war ich in einem metallverarbeitenden Betrieb, der viele junge Menschen ausbildet. Mehr als durch kluge Texte habe ich zum Beispiel dort wahrgenommen, wie wirtschaftliche Betriebe genau in dem gerade angedeuteten Sinn junge Menschen fördern. Derartige Betriebe, die ausbilden, leisten einen erheblichen gesellschaftlichen Beitrag, nicht nur im wirtschaftlichen Sinn. Sie vermitteln Sinn und Zukunft. In einem bestimmten Sinn kann man sicher Papst Franziskus zustimmen, der die brutale Gewalt der Wirtschaftssysteme weltweit zusammenfasst: „Diese Wirtschaft tötet“, indem Menschen auf der Strecke bleiben. Es gibt aber auch die andere Seite. Junge Menschen werden gefördert und zur Eigenständigkeit ausgebildet. Den vielen Betrieben, die dies leisten, darf ich auch als Bischof herzlich danken, denn sie tragen bei zu Menschlichkeit und zur Förderung der Menschenwürde.
Es ist gut, dass wir an diesem „Vorabend zum Tag der Arbeit“ die jungen Menschen und ihre Ausbildung in den Mittelpunkt stellen. In den letzten Tagen gab es eine Begegnung zwischen Gewerkschaftsvertreterinnen und –vertretern und den katholischen hessischen Bischöfen sowie den evangelischen Kirchenleitungen. Mit Sorge wurde gerade im Hinblick auf die zu uns kommenden Geflüchteten festgestellt, dass manche aufgrund ihrer biographischen Erfahrungen den Wert der Ausbildung nicht verstehen und am Ende in prekären Hilfsarbeiterbedingungen landen. Auch dies bleibt eine politische und gesellschaftliche Herausforderung, denn am Ende geht es auch hier um die Würde von Menschen, die nicht ausgebeutet werden dürfen. Ausbildung ist eine wichtige Grundlage sozialer Gerechtigkeit, auf die die Päpste immer wieder hingewiesen haben. Denn eine gute Ausbildung ist die Grundlage für eine angemessene Entlohnung und eine Zukunftssicherung der Person, auf die bereits Papst Johannes Paul II. hingewiesen hat (Laborem exercens 8,6).
Warum mischt sich die Kirche in diese politischen Fragen ein? Diese Kritik wird möglicherweise kommen. Es ist ganz einfach: die katholische Soziallehre hat seit über 100 Jahren den arbeitenden Menschen in den Blick genommen, weil Arbeit, die sinnstiftend ist und angemessen geschätzt wird, den Menschen seine Würde erkennen lässt, die ihm von Gott seit Beginn der Schöpfung zugedacht ist. Der Mensch darf die Schöpfung mitgestalten. Ich wünsche mir, dass wir als Kirche Gesprächspartnerin bleiben, an diese Würde zu erinnern und diejenigen zu unterstützen, die in Politik, Gesellschaft und Arbeitswelt Bedingungen schaffen, dass junge Menschen durch Ausbildung und Begleitung eine gute Lebensperspektive bekommen. Wir alle profitieren davon, dass so ein Teil des Schöpfungsauftrags Gottes erfüllt wird. Allen, die dazu beitragen, wünsche ich Gottes Segen und gute Wege in die Zukunft.