Drehen wir die Lautstärke herunter, und gehen zuerst einmal selbst an die Krippe, bevor wir es von anderen fordern

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Pontifikalamt am Hochfest der Geburt des Herrn, 1. Weihnachtstag 2021 Dom zu Mainz, 25. Dezember 2021, 10.00 Uhr

Krippe im Mainzer Dom (c) Bistum Mainz
Datum:
Sa. 25. Dez. 2021
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Gott ist nicht dafür da, uns zu gefallen, wir dürfen auf seine Zuwendung antworten. Zu viele haben heute auch in der Kirche ihre eigene, oft gefühlte Wahrheit, und Gott muss da irgendwie hineinpassen. So kann es nicht gehen, denn selbstgestrickte Wahrheiten werden niemanden am Ende tragen.

„Ich steh an deiner Krippen hier, oh Jesu, du mein Leben.“ (GL 256)

Wir feiern Weihnachten in einer Zeit vieler verwundeter Seelen. Die einen waren selbst an Covid19 erkrankt, oder sie haben einen lieben Menschen durch den Tod verloren. Sicher trauern viele auch um einen Menschen aus anderen Gründen. Menschen sorgen sich weiter um ihre berufliche und existenzielle Zukunft. Die anderen fühlen sich verletzt durch ihnen nicht einsichtige Corona-Regeln, sie fühlen sich ausgegrenzt und herabgesetzt. Beide Seiten schonen sich nicht: Die Folgen sind laut wahrnehmbar, und eine Weihnachtspredigt soll verbinden, nicht neue Spaltungen hervorrufen oder vertiefen.

Daher will ich hier nicht näher auf Vernunftgründe eingehen, auf Verschwörungstheorien oder andere Unsicherheiten. Da sind wir nicht am Ende gesellschaftlicher Debatten. Ich halte das eingangs gesungene Lied von Paul Gerhardt von 1658 über den Beter und die Beterin an der Krippe für ein weihnachtliches Angebot, persönlichen Frieden zu suchen und zu finden. Und so auch Frieden mit dem Menschen, der in Kirche und Gesellschaft anders denkt und empfindet, so schwer es fallen mag, ihn zu verstehen. Das Lied führt in die Stille, in die so dringend notwendige Innerlichkeit, gerade in unseren lauten Zeiten. Jemand betet sehr persönlich, dieser Mensch hält dem Kind in der Krippe sein Leben hin, sein Innerstes. Jemand antwortet auf ein ganz persönliches Liebesangebot eines Gottes, der wirklich jeden Menschen von Urbeginn an erwählt, dann geschaffen und in seine Liebe geholt hat. Der Anblick des Kindes in der Krippe bewegt zu einer tiefen, leisen, inneren und doch starken und freudigen Antwort: diesem Kind darf ich mein Leben hinhalten. In der Seele ist viel Platz für das Licht dieses Kindes. Es soll alles Dunkel, allen Hass, allen Lärm vertreiben. Der betende Mensch, dem Paul Gerhardt eine Stimme gibt, sucht nach einer angemessenen Antwort auf die stille und unaufdringliche Liebe Gottes. Es ist eine weihnachtliche Übung, den Menschen, der mir Schwierigkeiten bereitet, mit an die Krippe zu stellen. Auch er wird angeschaut von diesem Kind. Tatsächlich ist es auch in der Kirche laut und teils unversöhnlich geworden. Corona ist die eine Seite. Die andere zeichnet sich auch ab in den Auseinandersetzungen über notwendige oder vermeintlich unverzichtbare Reformen. Wenn der Papst zur Synodalität aufruft, will er einen neuen Stil des Miteinanders in der Kirche, der stilbildend für die Gesellschaft sein könnte. Eine neue Kultur, die die Meinung des anderen zu verstehen sucht, ohne alles für gut zu halten, die eine Menschen respektiert, ohne ihn in eine bestimmte Schublade einzuordnen. Das Lied von Paul Gerhardt führt auch die Kirche in die Stille, in das gemeinsame persönliche Beten, in das Bewusstsein, dass wir alle erst einmal lauschen und still werden müssen, bevor wir uns mit lauten Forderungen und gegenseitigen Verdächtigungen und Vorwürfen konfrontieren. So notwendig die Suche nach glaubwürdigen Strukturen und Formen kirchlichen Lebens sind, so notwendig ist der gemeinsame Blick auf Christus, auf das Kind in der Krippe, das die unglaubliche Kraft hat, Spaltungen zu überwinden und Gemeinsamkeiten zu schaffen. Zu selten ist unsere Kirche für unsere Gläubigen erfahrbar als Schule persönlichen Betens, einer persönlichen Gottsuche und als Gemeinschaft, die zu diesem persönlichen Gebet vor dem Kind in der Krippe hinführt. Unsere Gottesdienste sind für viele Menschen trotz oder gerade in ihrer Suche nach geistlichen Quellen kein Angebot mehr, weil sie keinen Raum für persönliches Gebet oder für einen persönlichen Zugang zum Geheimnis des Glaubens finden. So wichtig eine verlässliche Form in der Liturgie und im Gottesdienst ist, so schädlich sind geistlose Routinen, Äußerlichkeit ohne die Möglichkeit einer persönlichen Antwort der Betenden oder irgendein äußerlicher Aktionismus. Auch unsere Gottesdienste sind oft laut und unruhig, ohne die Zeit, eine persönliche Antwort geben zu können auf das große Geschenk seiner Gegenwart. Im Letzten geht es im Glauben um eine persönliche Verbindung mit Christus, seine „Krippe“ zu werden, sein „Bethlehem“, in dem er Mensch werden, Fleisch annehmen kann. Es fällt auf, dass der Sänger oder die Sängerin des Liedes nicht vom kirchlichen „Wir“ spricht, sondern ganz persönlich von „ich“ spricht. So wichtig eine Glaubensgemeinschaft ist, in der je persönlichen Liebe und Glaubensantwort bin ich nicht zu ersetzen. Ich kann mich in meiner Hingabe an ihn nicht vertreten lassen. Das macht mich aber nicht klein, sondern „Ich“ werde Ich am „Du“, seine Liebe lässt mich groß werden. Er nimmt mich ernst, daher wird er Mensch. Und Paul Gerhardt erinnert daran, dass diese Liebe über den Tod hinausreicht. Er ist in der Todesnacht meine Sonne, heißt es in einer Strophe. Bei allen notwendigen Reformen: ohne die Erfahrung der Kirche als echte Schule des persönlichen Gebets und der Hilfe für den je eigenen Glaubensweg strampeln wir uns vergeblich ab.

Es lohnt sich, kurz die Biographie von Paul Gerhardt zu streifen. Er führt bis Mitte seiner 30er Jahre ein bettelarmes Leben. Als Aushilfslehrer und –prediger fristet er sein Dasein. Mit 48 Jahren erst heiratet er, seine Frau stirbt nach wenigen Jahren, von ihren fünf Kindern überlebt nur ein Sohn. Solch ein Lied ist nicht zu singen, ohne diesen Hintergrund zu kennen. Paul Gerhardt rettet sich nicht in die Klage, sondern in die Anbetung. Anbetung ist die Form des Gebets, die sich mit Gott verbindet, ohne etwas Konkretes von ihm zu wollen. Weihnachten ist die Einladung, in diesen Gott einzutauchen, ihm alles einfach hinzuhalten und ihm anzuvertrauen, was das Leben drückt. Es ist für mich ein tröstlicher Gedanke, in diesen Monaten ihm alles hinzuhalten und abzulegen, und einfach bei ihm sein zu können, der Licht und Zukunft verbreitet, ohne Parolen zu dreschen. Er wird uns weiter begleiten. Das ist der Trost des Kindes, sein Licht, seine Hoffnung.

Paul Gerhardt hinterlässt seinem einzig verbliebenen Sohn ein schlichtes Testament, kein großes materielles Erbe. Es scheint mir ein weihnachtliches Testament zu sein, auch für uns heute. Er ermahnt sein Kind: „Bleibe bei der reinen Lehre“. In unserem Lied hat er wohl zusammengefasst, was der Kern christlicher Botschaft ist: die Menschwerdung Gottes in Christus. Hier wird seine Liebe konkret. Es ist gut, sich an diese Hierarchie der Wahrheiten erinnern zu lassen. Zu oft drängen sich zweitrangige Themen in der Kirche an die erste Stelle. Ich staune immer wieder, was für viele unserer Gläubigen der eigentliche Kern des Katholischen ist. Paul Gerhardt stellt uns Christus vor Augen, um ihn geht es doch. „Bleibe bei der Lehre“, heißt nicht, Sätze zu wiederholen, sondern in der Beziehung mit ihm, dem lebendigen Wort zu bleiben. „Verfalle nicht irgendeinem Synkretismus“, das heißt, bastel dir deinen Gott nicht nach eigenem Gutdünken zurecht. Gott ist nicht dafür da, uns zu gefallen, wir dürfen auf seine Zuwendung antworten. Zu viele haben heute auch in der Kirche ihre eigene, oft gefühlte Wahrheit, und Gott muss da irgendwie hineinpassen. So kann es nicht gehen, denn selbstgestrickte Wahrheiten werden niemanden am Ende tragen. Paul Gerhardt warnt vor schnellem Zorn, was hätte er wohl zu Hass und Hetze auch in christlichen Netzwerken gesagt? Die Ruhe des Eintauchens in Gott kann nicht ohne Folgen für den mitmenschlichen Umgang bleiben. „Lasse dich nicht vom Geiz und den Begierden treiben“, sagt er seinem Sohn, sagt er uns. Behalte ein offenes Herz, so wie wir es an den offenen Händen des Kindes in der Krippe sehen. Bleibe genügsam in deinen Ansprüchen, so wie es das Kind in der Armut von Bethlehem war. Und: „Tue Gutes“ auch wo es keinen Dank zu erwarten gilt. Es ist ein weihnachtliches Testament, das zeigt, wie der Dichter die Weihnachtsbetrachtung in das konkrete Leben überträgt.

Heute sind wir zur stillen Anbetung, zur persönlichen Antwort eingeladen, in einer lauten und aufgeregten Zeit leise zu werden. Ich muss es auch lernen, erst zu hören und zu beten, bevor ich rede. Drehen wir die Lautstärke herunter, und gehen zuerst einmal selbst an die Krippe, bevor wir es von anderen fordern. Und gerne nehme ich heute nicht nur das Gebet Paul Gerhardts mit in das Fest, sondern auch sein geistliches Testament, das so einfach und doch so schwierig konkret ist. Baue auf ihn, lebe die Beziehung zu ihm, behandle jeden Menschen mit Anstand und gib, was du hast und der andere braucht. So sieht es aus, wenn Christus in mir geboren wird.

[1] Vgl. die Ausführungen von Guido Fuchs, Unsere Weihnachtslieder und ihre Geschichte, Freiburg, Basel, Wien² 2010, 104-112.