Es geht um aktive Friedensarbeit, im Großen wie im Kleinen.

Impuls von Bischof Peter Kohlgraf  beim pax christi-Friedensgebet „Nie wieder!?“ anlässlich des 75. Jahrestags des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki

St. Christoph (Mainz) (c) Bistum Mainz
Datum:
Do. 6. Aug. 2020
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Zu Jes 9, 1-6

„Frieden gabst du schon, Frieden muss noch werden.“ – So singen wir in einem geistlichen Lied. Auch unseren Lesungstext lesen wir zuerst als eine große, zukünftige Friedensvision1. Der Prophet Jesaja macht seinem Volk Mut: So wie Gott am Anfang das Licht geschaffen hat, wird er auch in den jetzt herrschenden, bedrängenden Zeiten dem Licht zum Durchbruch verhelfen.

Das Leben wird siegen, nicht der Tod, dem die Menschen durch Krieg und Vernichtung die Oberhand zu geben scheinen. Das Volk darf mutig in eine Zukunft des Friedens gehen – dem Augenschein zum Trotz. In dieser messianischen Vision wird endgültig abgerüstet: Der Stab und das unterdrückende Joch werden zerbrochen, der dröhnende Stiefel wird ein Fraß des Feuers (vgl. Jes 9, 4). Der messianische Frieden beruht nicht auf der abschreckenden Wirkung von Waffen und Kriegsmaterial, soviel kann man bereits vom Alten Testament her sagen. Tatsächlich leben wir in einer Welt, die uns deutlich zeigt: Die messianischen Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Aufrüstung und gegenseitige Bedrohung, das Säbelrasseln und das Muskelspiel von Machthaber und deren tödlichen Waffen im Hintergrund nehmen wohl eher zu. Umso dringender ist die Kraft biblischer Visionen: „Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht.“ (Jes 9, 1)

Bleiben die Visionen des Propheten weltfremde Bilder einer heilen Welt, die es niemals geben wird? Dann wären sie eher Ursache für Resignation. Oder Opium des Volkes, mit dem sich die Menschen in eine heile Welt träumen, während um sie herum die Waffen die eigentliche Realität darstellen.
Der niederländische Theologe Huub Oosterhuis geht in einem seiner Bücher genau auf diese Frage ein.2 Er versteht die Bibel als ein Buch unerbittlicher Hoffnung. Gott selbst steht auf Seiten der Opfer von Gewalt und gegen die Täter des Krieges. Er macht sich den Frieden zu seinem Anliegen. Er selbst stellt die Frage nach Recht und Gerechtigkeit, nach der Würde jedes einzelnen Menschen. Er selbst macht sich zum Anwalt des Menschen, der namenlos unter den vielen Toten von Gewalt und Krieg verbleibt. Und dann berichtet Huub Oosterhuis von einer konkreten Erfahrung: Er berichtet von zwei zwölfjährigen Kindern aus Bolivien, die in elenden Verhältnissen aufwachsen. Sie treten in einer Fernsehsendung auf mit dem Programm: „Wir kämpfen für eine gerechte Welt.“ Und der Autor fragt, wie es dazu kommen konnte, dass sich eine Vision in die Herzen dieser Kinder bahnt. „Diese Hoffnung war ihnen eingegeben“, sagt er und „sie strahlten diese unerbittliche Hoffnung aus.“ 3 Unser Prophetentext ist eine solche umfassende Vision einer unerbittlichen Hoffnung. Huub Oosterhuis schreibt dazu: „Diese Vision umspannt die ganze Weltpolitik, alle denkbaren Kriege und auch die zutiefst persönliche Aussöhnung von zwei Menschen miteinander. (…) Diese Vision ist von so großer Schönheit, weil sie viel mehr umfasst als nur dein eigenes Glück allein. (…) Sie ist jung wie der morgige Tag und alle Tage neu.“ 4 Vielleicht spüren wir plötzlich, dass ein Prophetentext keine berauschende Vertröstung ist, sondern eine Energie werden kann, die dazu hilft, selbst immer wieder neu zu werden, aufzubrechen in eine Welt des Friedens, im Kleinen wie im Großen. „Sie strahlten diese unerbittliche Hoffnung aus.“ Mögen die biblischen Visionen auch uns verändern und damit unsere Welt.

Vielleicht war Ihnen, liebe Schwestern und Brüder, beim Hören der Lesung weihnachtlich zumute. Tatsächlich hören wir als christliche Gemeinde diesen Lesungstext in jedem Jahr in der Christmette. „Ein Kind wurde uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt“, er ist „Fürst des Friedens“, er steht für die ewige Friedensherrschaft, die mit ihm begonnen hat (Jes 9, 5). So hören wir den Text nicht allein als Zukunftsvision: „Frieden gabst du schon, Frieden muss noch werden.“ Der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff, der vor kurzem verstorben ist und dessen wir dankbar gedenken, erinnert in einer Weihnachtsbetrachtung an die Novelle Heinrich Bölls mit dem Titel „Nicht nur zur Weihnachtszeit“. Die Erzählung handelt von einer alten Dame, die jeden Tag Weihnachten feiert, und damit ihr Umfeld in die schiere Verzweiflung treibt. Die Verwandtschaft ersetzt sich durch Wachspuppen. Am Ende bleibt nur ein Prälat, der jeden Tag mit ihr feiert. Schockenhoff zieht das Resümee: Die Weihnachtsbotschaft kann nur wahr sein, wenn sie sich jeden Tag vollzieht, und nicht nur an dem einen stimmungsvollen Tag im Dezember. Der „Urwunsch der Menschheit nach Frieden, Liebe und Geborgenheit ist kein unerfüllbarer Traum, sondern die Sehnsucht, die Gott in der Menschwerdung seines Sohnes verwirklichen will. Deshalb müssen alle (…) daran mitwirken, dass Gottes Traum in Erfüllung gehen kann.“5 Gott flehe geradezu drum, dass Menschen ihm helfen, seinen Frieden zu verwirklichen. „Frieden gabst du schon, Frieden muss noch werden.“

Das jährliche Weihnachtsevangelium nach Lukas macht deutlich, dass es um Größeres geht als den Frieden zwischen zwei Menschen. Lukas wird politisch: In der Geschichte tauchen die Großen der damaligen Zeit auf – der Kaiser Augustus, der Statthalter Quirinius, die Tetrarchen, somit die Vertreter der großen Weltpolitik. Dem politischen Glanz und den menschlichen Machtansprüchen stellt Lukas das Kind im Stall gegenüber. Das ist eine gehörige Provokation, denn es wird klar, wer der eigentliche Herrscher ist. Die Worthülsen des Kaisers, der sich Friedenskönig nennen lässt, werden als hohle politische Propaganda entlarvt, sein geradezu göttlicher Machtanspruch als Schmierentheater. Politiker aller Zeiten, besonders die Diktatoren und Kriegstreiber, haben den politischen Zündstoff dieser Geschichte verstanden. Dieses Kind wird später als erwachsener Mann in seiner Bergpredigt zur Nachfolge in seinen Spuren des Friedens aufrufen.

Wir erinnern an die Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki vor 75 Jahren und den Tod vieler Menschen. Wir erinnern an jeden einzelnen Menschen – und lassen uns in die Pflicht nehmen, aus der biblischen Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Es geht nicht nur um Verbote von Waffen. Es geht um aktive Friedensarbeit, im Großen wie im Kleinen. Es geht um das Teilen und das Leben der biblischen Vision vom Frieden und um die konkrete Nachfolge des Friedenskönigs. Wir nehmen die Einladung an, der Sehnsucht Gottes nach einer Welt des Friedens Raum zu geben. Und wir lassen uns auch die prophetische Aufgabe nicht nehmen, menschliche Machtdünkel anzufragen und an den wahren König des Friedens zu erinnern: in Wort und Tat. Dazu braucht es die Vision des Friedens im Herzen und dass viele Menschen spüren: „Sie strahlen diese unerbittliche Hoffnung aus.“

1 Gedanken dieser Predigt stützen sich auf Texte von Eberhard Schockenhoff, Frieden auf Erden. Weihnachten als Provokation, Freiburg i. Br. 2019.

2 Huub Oosterhuis, Im Anfang war die Hoffnung. Worte von Widerstand und Zuversicht, Stuttgart 2016, bes. 29-31.

3 S. 30.

4 Ebenda.

5 Schockenhoff, 109f.