Es ist Zeit, von Gott zu sprechen

Hirtenwort des Bischofs von Mainz, Peter Kohlgraf, zur Österlichen Bußzeit 2024

Hirtenwort Bischof Kohlgraf 2024 (c) Bistum Mainz | Museum Folkwang Essen - Artothek
Datum:
Sa. 17. Feb. 2024
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Es ist Zeit, von Gott zu sprechen. In Meditationen des Theologen und Widerstandkämpfers Alfred Delp aus dem Jahr 1944 finde ich folgenden Gedanken: „Wie haben wir den Herrgott in die Grenzen und Schranken unserer Nützlichkeit, unserer Eigenart, unseres Empfindens, unserer Selbstverwirklichung usw. eingesperrt… Gott wurde wie alles Höhere und Geistige und Heilige nur insoweit anerkannt, als er uns bestätigte und uns in unserem Eigensinn und Eigenwillen förderte.“[1] 

Ich gebe zu: Ich erschrecke ein wenig: 80 Jahre nach Entstehung dieses Textes erscheint die Grundannahme aktueller denn je. Es ist eine Tatsache: Gott und die Suche nach ihm spielen in unserer Zeit immer weniger eine Rolle. Vielleicht liegt ein Grund darin, dass es genügend andere Angebote gibt für vermeintlich Nützliches und die Ideen des Menschen Förderndes. Es braucht Gott wohl nicht, um mich und meine Ideen zu verwirklichen, um Glück zu finden, gesund zu bleiben. Auch in der Kirche unterliegen wir immer wieder der Gefahr, Gott nur zu brauchen, um unsere Ideen und Zielvorstellungen zu rechtfertigen. Das kann aber nicht der Gott sein, von dem die Bibel spricht und für den viele Menschen alles eingesetzt haben, bis hin zur Hingabe des eigenen Lebens. Einen nur nützlichen Gott brauchen wir nicht, er ist überflüssig geworden.

Es ist gut, dass auch in diesen Zeiten viele Menschen in Gott Halt, Trost und ein Fundament für ihr Leben finden. Sie engagieren sich in der Kirche, sie setzen sich vielfältig ein für andere, weil sie erfahren, dass man die bergende Erfahrung des Glaubens nicht für sich behalten kann. Der Blick auf die Lage der Welt macht Menschen einen Glauben an Gott, wie er in der Verkündigung oft dargestellt wird, aber auch schwierig. Wie kann ein guter Gott Krieg, Hass, Zerstörung, Krankheit und unendliches Leid in dieser Welt zulassen? Bis heute ist diese dunkle Realität der Welt der schlagkräftigste Einwand gegen die Existenz eines allmächtigen, guten und barmherzigen Gottes. Sicher kann man Kriege, Hass und Zerstörung mit dem Missbrauch der Freiheit des Menschen begründen. Wirklich zufriedenstellend ist diese Begründung aber für viele Menschen nicht. Es gibt zu viel Leid, das nicht auf irgendeine rationale Art zu erklären ist.

Diese Unsicherheit im Glauben ist der Bibel keineswegs fremd. Das am meisten verstörende Buch der Heiligen Schrift ist für mich das Buch Hiob. Die Rahmenerzählung schildert: Hiob ist ein gerechter Mann, der Gott achtet, Nächstenliebe übt und mit seiner Familie in Frieden lebt. Gott gibt dem Satan die Erlaubnis, Hiob zu versuchen. Nach und nach verliert Hiob alles: seine Familie, seinen Besitz, seine Gesundheit. Doch er bleibt bei seinem Gottesglauben. Daher findet die Geschichte ein Happy End. Gott belohnt Hiob für seine Treue im Glauben. Er bekommt alles vielfältig zurück: Besitz, Gesundheit, Familie. Man hat den Eindruck, dass der Autor des Buches Hiob die Anstößigkeit und Unerklärlichkeit des Verhaltens Gottes selbst nicht ausgehalten hat.

Besonders aufrüttelnd ist der lange Mittelteil des Buches. Hier ringt Hiob mit Gott und setzt sich mit seinen Freunden auseinander. Die Freunde bringen die klassischen Antworten, um ihn zu trösten. Sie wollen Leid erklären. Es müsse Gerechtigkeit sein, die dahintersteckt. Gott bestrafe das Böse, das Hiob einmal getan haben müsse. Sie wissen die Antwort für seine Lebenslage. Für die Vorgänge in der Welt und im Leben ihres Freundes haben sie eindeutige Erklärungen. Leid ist Strafe; der Mensch ist verantwortlich, Gott kann dafür nicht in Verantwortung genommen werden. Hiob jedoch gibt sich mit diesen Antworten nicht zufrieden. Die Frage nach dem Leid bleibt offen.

Gott ist nicht nützlich. Gott bietet keine einfache Antwort auf schwierige Fragen, die Menschen umtreiben, bis heute nicht. Es ist einfach, sich von Gott zu verabschieden, weil er mir nicht nützt. Den Fragen nach dem Bösen und dem Leid auszuweichen, scheint mir nicht ganz so leicht zu sein. Und es ist schon gar nicht leicht, meinen Gott, von dem ich mich getragen weiß, da herauszuhalten. Geradezu ratlos lässt mich die Antwort Gottes an Hiob zurück. Sinngemäß sagt Gott zu Hiob: Der kleine Mensch Hiob könne eben nicht erfassen, wozu der große Gott fähig sei. Der Mensch habe zu akzeptieren, Gott nicht durchschauen zu können. Auch als Problemlöser bietet sich Gott im Buch Hiob nicht an. Und selbst wenn ich ins Neue Testament schaue: Bei aller froh machenden Botschaft im Leben Jesu ist der Blick auf sein Ende am Kreuz, das als Willen des Vaters dargestellt wird, wahrlich keine einfache Lösung für ein wirkliches Verstehen des Willens Gottes. Auch Ostern ist nicht einfach ein Happy End des Karfreitags.

Es ist Zeit, von Gott zu sprechen. Und zwar in der Vielfalt der Glaubenserfahrungen, denn natürlich bleiben die Erfahrung der Liebe, des Verstehens, der Freundschaft und Nähe. Aber es gibt auch die Erfahrung, aushalten zu müssen, nicht zu verstehen, und dennoch in Treue im Glauben an ihm festzuhalten und im Letzten zu hoffen: Er meint es gut mit mir und der Welt. Manchem bleibt als Gebet nur die Klage gegen Gott, eine oft vergessene Gebetshaltung der Psalmen. Auch wenn Menschen nicht an Gott glauben, sei es, weil sie es nicht können oder es nicht wollen oder er gar keine Frage mehr für sie ist: Gott ist da. Gottes Existenz ist vom Glauben der Menschen nicht abhängig.

Für die Glaubenden gilt die Erfahrung des Hiob: Bei allen unterschiedlichen Glaubenszugängen zu Gott, er dient nicht als mein oder unser Instrument für menschliche Pläne. Wir dürfen es uns mit Gott nicht zu einfach machen. Vielleicht ist für Christen die beste Antwort auf die Frage nach dem Leid und der Rolle Gottes, dass wir uns in die Pflicht nehmen lassen, Leid, Hass, Krieg und vieles andere nach unseren Möglichkeiten aktiv zu verändern. Vielleicht hätten auch die Freunde Hiobs weniger über Gott diskutieren als aktiv helfen sollen. So muss unser Platz als Kirche immer an der Seite der Leidenden sein. Und das bleibt die Aufgabe jedes und jeder Einzelnen.

Es ist Zeit, von Gott zu sprechen. Vielleicht kann man es auch so wenden: Es ist Zeit, „Gott zu handeln“.

Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Fastenzeit.
 

Es segne uns
der allmächtige und dreieinige Gott,
der Vater und der Sohn und der Heilige Geist

+ Peter Kohlgraf
Bischof von Mainz
Mainz, am 1. Fastensonntag 2024

Anmerkung

[1] Alfred Delp, Meditationen „Gestalten der Weihnacht“. Roman Bleistein, Alfred Delp – Gesammelte Schriften. Bd. 4: Aus dem Gefängnis. Frankfurt am Main 1984, S. 200.