Menschen der Gewaltfreiheit in Reden, Denken und Tun zu werden, Versöhnung zu üben, Unrecht zu sehen und zu benennen

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf zum Aschermittwoch 2023

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Datum:
Mi. 22. Feb. 2023
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Gerechtigkeit ist das Kennzeichen der Jüngerinnen und Jünger Jesu. Gerechtigkeit bildet das Tor in die kommenden vierzig Tage der Österlichen Bußzeit. Es ist ein vielschichtiger Begriff. Gott selbst ist gerecht. Er verschafft Recht, denen, die in dieser Welt rechtlos sind. Er hat einen Blick besonders für die Kleinen und die Armen, die in dieser Welt keine Gerechtigkeit finden. Für die anderen bedeutet Gottes Gerechtigkeit eine Anfrage an ihren Lebensstil, ihre Glaubens- und Lebenspraxis. In vielen Gebeten der Bibel vertrauen Menschen auf diese göttliche Gerechtigkeit, die sie für ihre eigene Situation erhoffen. Und: Die Gerechtigkeit Gottes hat eine politische Dimension: Als Richter wird er Gerechtigkeit schaffen, den Armen und Unterdrückten zum Recht verhelfen sowie die Täter des Bösen zur Rechenschaft ziehen.

Wenn wir diesen Gott bekennen, sind wir selbst eingeladen, Menschen der Gerechtigkeit zu werden. Es sprengt den Rahmen einer Predigt, alle Aspekte zu benennen. Einer dieser vielen Aspekte ist mir in den letzten Monaten besonders wichtig geworden, und damit will ich beginnen. Vor einem Jahr hat der Krieg Russlands gegen die Ukraine begonnen. Dieser Krieg hat viele scheinbare Sicherheiten infrage gestellt. Gilt der Aufruf Jesu zur Gewaltlosigkeit in der Bergpredigt nicht mehr? Gewöhnen wir uns an Gewalt und Gegengewalt? Gibt es nicht die klare Aufforderung Jesu zur Gewaltfreiheit auch bei erfahrenem Unrecht? Auch in den christlichen Friedensbewegungen werden diese Themen derzeit heftig diskutiert. In einer Predigt zum Weltfriedenstag in Worms im Januar dieses Jahres habe ich über die Perspektive der Versöhnung gesprochen. Wollen wir uns eine Welt vorstellen, die nur noch von Vergeltung und Rache bestimmt ist? Dabei ging es gar nicht darum, gegenüber den Menschen in der Ukraine den moralischen Zeigefinder zu erheben und sie zur Vergebungsbereitschaft zu verpflichten. Es ging vielmehr um die Frage: Wie sehr können Hass und Groll das eigene Leben vergiften? Ich habe auf Beispiele verwiesen, in denen Menschen aus Liebe zu sich selbst vergeben haben, um sich das eigene Leben nicht vergiften zu lassen. Fordern kann man diese Vergebung nicht, schon gar nicht aus der relativ sicheren Position hierzulande. Dennoch bleibt die Frage wichtig: Wie können wir die zukünftige Welt gestalten, wenn der Versöhnung darin keinen Raum hat? In der aktuellen Lage zwischen Ukraine und Russland etwa ist diese Frage wahrscheinlich noch nicht akut, aber irgendwann wird sie sich stellen.

Und hier kommen wir zur Gerechtigkeit. Christliche Versöhnung heißt ja nicht Vertuschung und den Mantel des Schweigens decken über das Unrecht. Gerechtigkeit heißt, Unrecht klar zu benennen, Täter zur Verantwortung zu ziehen, den Opfern von Gewalt und Terror menschenmöglich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Bibel beschreibt so immer wieder das Gericht Gottes. Gott ist barmherzig, das gehört zur biblischen Botschaft. Aber Barmherzigkeit ist nicht Wegschauen und Ignorieren des Unrechts, sondern Gottes Fähigkeit, Tätern und Opfern der Geschichte gleichermaßen gerecht zu werden. Gott zeigt uns: Zur Gerechtigkeit gehört, Unrecht zu benennen und die Betroffenen des Unrechts in den Blick zu nehmen. Das gilt für Unrecht im Großen und im Persönlichen. Josef, der Mann Marias, wird im Evangelium gerecht genannt (Mt 1,19). Er fühlt sich von Maria, die ein Kind erwartet, betrogen. Er versteht Gerechtigkeit nicht so, dass Maria die ihr vom Gesetz auferlegte Strafe erleidet, sondern er schützt seine Verlobte. Gerechtigkeit bedeutet für ihn offenbar, das Wohl der Schwächeren in den Blick zu nehmen und nicht kühl auf sein Recht zu pochen. Auch der Mensch, der mich verletzt, hat Würde. Josef sieht keinen Widerspruch zwischen seiner Liebe zu Maria und den Fragen, die ihn plagen und umtreiben. Das ist seine persönliche Entscheidung, die wir heute noch bewundern können. Seine Gerechtigkeit besteht darin, dass er den Worten des Engels glaubt und Gott das Unmögliche zutraut.

Man könnte andere Beispiele aus der Heiligen Schrift nennen. Vielleicht sind wir auch einmal vor diese Gerechtigkeitsfrage gestellt, die wir in unserem Gewissen beantworten müssen. Gerechtigkeit hört dann auf, Theorie zu sein. Pochen wir nur auf unser Recht – oder versuchen wir auch den anderen Menschen in seiner Würde zu schützen, auch den, der uns Gegner ist, der uns verletzt hat? Haben wir den Mut, Unrecht zu benennen und Betroffene von Leid und Armut zu schützen? In seinem Buch „Wie aus Hülsen Worte werden“ (2018) denkt der Jesuit Klaus Mertes über Gerechtigkeit nach. Das Kapitel ist überschrieben mit: „Warum Gerechtigkeit mehr ist als Almosen verteilen.“ Er schildert ein alltägliches Beispiel aus dem Schulbetrieb. Die steigenden Kosten der Klassenfahrten lassen kostspieligere Unternehmungen nicht mehr zu, es müssen kleinere Fahrten geplant werden. Der Grund besteht darin, dass Fahrten für alle Familien erschwinglich sein sollten. Fahrten müssen abgesagt werden. Die Elternreaktion ist heftig, es kommt zu starken Auseinandersetzungen in den Elternversammlungen. Er zitiert dann einen Vater: „Sie benachteiligen die Besserverdienenden! Warum muss die Mehrheit derjenigen, die es sich leisten kann, darunter leiden, dass eine Minderheit es sich nicht leisten kann?“ (S. 83).

Aus 30jähriger pastoraler Tätigkeit auch im Schulbereich scheint mir diese Geschichte nicht aus der Luft gegriffen zu sein. Menschen auch in der Kirche sehen irgendwann nur ihr Recht, zumindest so, wie sie es verstehen. Dieses wird lautstark eingefordert. Dass es berechtigte andere Perspektiven geben könnte, gerät aus dem Blick. Gerechtigkeit bedeutet dann, die Perspektive eines anderen Menschen einnehmen zu können und damit im Verständnis und der Wertschätzung anderer zu wachsen. Jesus fordert im Evangelium sogar die „größere Gerechtigkeit“ (Mt 5,20). Es geht um mehr im Glauben als ein Abhaken äußerlich befolgter Vorschriften. Vielmehr sollen die Menschen in der Nachfolge Jesu lernen, ein „radikales, vom Herzen kommendes Bedachtsein auf das Wohl des Mitmenschen“ (Helmut Merklein) zu lernen und zu leben. Das ist die größere Gerechtigkeit im Reich Gottes. Die Österliche Bußzeit lädt uns zur Gerechtigkeit ein, zu einer größeren Gerechtigkeit.

Nur wenige Aspekte habe ich benannt: Menschen der Gewaltfreiheit in Reden, Denken und Tun zu werden, Versöhnung zu üben, Unrecht zu sehen und zu benennen, und nach Möglichkeit zu verändern, das Kreisen um sich selbst zu beenden und die Perspektive eines anderen Menschen schätzen zu lernen. Christus selbst ist uns ein gutes Vorbild und ein guter Wegbegleiter auf diesem Weg der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist nicht bequem, denn sie zwingt Menschen, sich der ungerechten Wirklichkeit zu stellen. Sie fordert Umkehr und Veränderung.

Das sage ich heute bewusst im Hinblick auch auf unser Bistum Mainz. Am 3. März 2023 wird Rechtsanwalt Ulrich Weber die Studie zum Missbrauch an Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen im Bistum Mainz veröffentlichen. Auch als Bischof und als Leitung des Bistums werden wir die Ergebnisse erst am 3. März zur Kenntnis bekommen. Am 8. März werden wir dazu Stellung nehmen, weil wir den umfangreichen Text lesen müssen. Es ist ein Schritt der Aufarbeitung massiven Unrechts. Viele Menschen haben eine Seite der Kirche erlebt, die unerträglich ist. Leben und Glauben wurden zerstört. Gerechtigkeit heißt für sie: Wir stellen uns ihren Erfahrungen. Die Studie ist bewusst keine juristische. Rechtsanwalt Weber hat vorwiegend mit Betroffenen gesprochen und mit Menschen, die etwas wissen. Unrecht ist auf verschiedenen Ebenen geschehen, das es jetzt endlich anzuschauen gilt. Für uns im Bistum bedeutet dies Umkehr. Es bedeutet konkrete, konsequente und transparente Schritte der Aufarbeitung und Veränderung, der Intervention und Prävention. Da sind wir bereits wichtige Schritte gegangen und werden weitergehen.

Es gab bereits in den letzten Jahren verschiedene Stimmen dazu. Die einen trauen der Kirche eine Veränderung nicht zu, ihnen gebe ich nicht Recht. Andere sagen: Lasst es gut sein, es ist doch so lange her. Auch hier muss ich ein deutliches Nein setzen. Es ist nicht gut. Und es kann auch nicht sein, dass manchmal Beschuldigte und Täter selbst zum Opfer stilisiert werden. Gerechtigkeit heißt für mich als Bischof und für die Bistumsleitung, diese Gerechtigkeit einzufordern und dafür einzustehen. Diesen Weg werden wir weitergehen.

Die Österliche Bußzeit ist keine seelische Wellnessveranstaltung. Besonders in diesem Jahr wird mir dies deutlich. Kirche wird sich nur erneuern, wenn wir Gerechtigkeit zulassen und gestalten, in der Kirche, in der Gesellschaft und im eigenen Leben. Ich vertraue darauf, dass uns das mit Gottes Hilfe gelingen kann.