„Das ist der König der Juden“ – in diesem Schild am Kreuz auf Golgotha ist die ganze Verachtung für diesen Jesus aus Nazareth ausgedrückt. Eine Kreuzigung kann man sich in der Phantasie nicht grausam genug vorstellen, und dabei dem Spott und der Verachtung ausgesetzt zu sein, war Teil des Geschehens. Für Christen ist diese jedoch die Zusammenfassung ihres Glaubens: Dieser Gekreuzigte ist der König der Juden, der Sohn Gottes, der Erlöser. Paulus fasst die Erfahrung zusammen, die wir bis heute erfahren können. Entweder man glaubt dies, und dann bleibt es nicht ohne Folgen für das eigene Leben, oder man hält dies für Dummheit oder ein Ärgernis. Gewöhnen dürfte man sich an das Kreuz oder besser: den Gekreuzigten nicht.
Wie oft ist diese Szene künstlerisch dargestellt worden. Der leidende und sterbende Christus, mit der Krone auf dem Haupt, die ihn als König der Welt ausweist. Und dann die offenen Arme, die die ganze Welt zu umfangen scheinen, auch mich, der ich das Kreuz betrachte. Im Lukasevangelium antwortet der Gekreuzigte auf den Hohn und die Verachtung mit der Bitte um Vergebung für seine Mörder („Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk23, 34), und mit dem Versprechen an den Verbrecher neben ihm, in das Paradies zu kommen (Lk 23, 43). Als Jesus gefangen genommen wird, und Petrus das Schwert zieht, weist ihn Jesus scharf zurecht: Lass es! Nicht weiter! Und er heilt den Soldaten, der ihn fesseln soll (Lk 22,51). Gewaltlos, vergebungsbereit, die Arme offen, in der eigenen tiefen Not ein Auge für das Heil des anderen, so wird im Lukasevangelium der sterbende König der Welt gezeichnet.
Ich betrachte dieses Bild in einer Zeit, in der wir in der Kirche viel über Macht sprechen und um die Macht ringen. Bischöfen wird vorgeworfen, ihnen gehe es um den eigenen Machterhalt, andere kämpfen dafür, an der Macht teilhaben zu können. Alle Glieder der Kirche sollten sich daran erinnern, wie dieser König seine Macht ausgeübt hat. Und dass er wiederholt seine Jünger davor gewarnt hat, nicht zu sein wie die Herrscher dieser Welt, die sich über ihre Macht definieren. Gehen wir davon aus, dass Jesus das ernst gemeint hat und ernst meint: Achtet darauf, dass ihr nicht an eure eigene Macht denkt. Macht korrumpiert den Menschen nicht selten, und es ist ein Alarmsignal, wenn es in der Kirche zu sehr um diese Frage geht – von allen Seiten. Wir beginnen in Deutschland am kommenden 1. Advent den „Synodalen Weg“, der vor dem Hintergrund der Missbrauchsstudie auch das Thema der Macht in der Kirche in den Blick nimmt. Manche warnen, das sei eine oberflächliche Strukturdebatte, die geistlich und inhaltlich nichts bewirke. Ich kann diesen Einwand nicht akzeptieren. Es geht ja nicht um die Frage der Farbe der bischöflichen Kleidung oder die Höhe der Mitra auf dem Kopf des Bischofs. Es geht um die Frage, mit welcher Haltung Leitung in der Kirche ausgeübt wird. Ob wir bei dem Bild vor dem letzten Konzil stehen bleiben, dass es in der Kirche Regierende und Regierte gebe, oder ob der Bischof und der Priester sich als Teil des Gottesvolkes auf dem Weg verstehen. Der Theologe Yves Congar hat die Entwicklung des Papstamtes einmal so beschrieben: Am Anfang stand Petrus, irgendwann wurde Petrus verdrängt durch Konstantin. D.h. am Anfang leitete ein Fischer, ein Jünger, ein einfacher Mann, daraus wurde ein im Grunde genommen ein weltliches Amt, behängt mit Zeichen weltlicher und äußerer Macht. Das gilt für Papst und Bischöfe zugleich. Können wir uns vorstellen, daran zu arbeiten, dass die Bischöfe wieder mehr zu „Petrus“ werden, zu den Aposteln des Anfangs? was bedeutet das dann konkret für die Ausgestaltung des Amtes und die Einbindung der Gläubigen in die gemeinsame Verantwortung für den Verkündigungsauftrag der Kirche? Gelingt es uns, eine Gestalt der Kirche in unserer Zeit zu leben, die sich von der Hingabebereitschaft Christi des Königs bestimmen lässt – und nicht das eigene Machtgebaren und die eigenen politischen und kirchlichen Ziele in den Vordergrund rückt? Darum geht es. Um nicht mehr und nicht weniger. Die Öffentlichkeit wird das Gelingen des synodalen Weges wohl allein an zwei oder drei Entscheidungen festmachen: Zölibat, die Rolle der Frau sowie die Haltung der Kirche zu homosexuellen Menschen. Ich glaube, ohne diese Themen kleinreden zu wollen, dass es um mehr und um Tieferes geht: eine Selbstevangelisierung der Kirche, indem sie den armen und leidenden Christus neu zum Maßstab nimmt in allen ihren Lebensvollzügen. Und dieses Bemühen darf auch am Ende des synodalen Weges nicht abgeschlossen sein. Ich bitte Sie, den beginnenden Weg mit Ihrem Gebet zu begleiten.
Ich sehe die offenen Arme Jesu in einer Zeit der kleiner werdenden Kirche. Nicht selten nehme ich die Versuchung wahr, sich frustriert im Blick auf die scheinbar guten alten Zeiten zurückzuziehen und einzuigeln. Als Kirche müssen wir sozusagen diese offenen Arme Jesu für alle Menschen darstellen und verwirklichen. Er ist das Heil für alle Menschen. Diese Botschaft dürfen wir nicht in kleine Gruppen einschließen. Wenn der Verbrecher in das Paradies gekommen ist, darf ich auch für mich und für alle Menschen hoffen.
Ich höre Jesu Gebet für seine Feinde. Die Feindesliebe ist der Ernstfall der Liebe im Evangelium. Seine Freunde zu lieben ist keine große Kunst. Aber für die Feinde zu beten, ihnen Achtung entgegenzubringen, ist der Kern der Liebesbotschaft Jesu. Als Osama Bin Ladin in einem Militäreinsatz zu Tode gekommen ist, betonte der Vatikan damals, dass ein solches Sterben kein Grund zum Jubeln sein könne. Als pax-christi Präsident habe ich diese Einschätzung vor einigen Wochen wiederholt, als der selbsternannte Kalif des „IS“ sich mit seinen Kindern in die Luft gesprengt hatte. Ein Grund zum Jubeln kann das nicht sein. Es gab wenige, mehrheitlich gehässige Kommentare im Internet dazu. Einer schrieb: Feindesliebe kann auch krankhaft werden. Wie ernst nehme ich Jesus am Kreuz? War er naiv? Dumm? Ich versetze mich in die Szene und halte ihm unsere Zeit hin mit dem vielen Hass und der zunehmenden Hetze gegen Andersdenkende und Minderheiten.
Ich bewundere Jesu Gewaltlosigkeit. Ich tue dies in einer Zeit der weltweiten Aufrüstung, des wachsenden Waffenhandels. Ich sehe Papst Franziskus gestern und heute in Nagasaki und Hiroshima, wo 1945 Hunderttausende durch den Abwurf der Atombomben zu Tode gekommen sind und andere noch Jahrzehnte später unter den Folgen leiden. War Jesus pathologisch naiv, als er zum Frieden und zur Gewaltlosigkeit aufrief?
Von Anfang an, 1925, war Christkönig ein politisches Fest. Zunächst war es ein Bekenntnis gegen die demokratischen Bewegungen in Europa. Hieran sieht man, wie sich kirchliches Denken verändern kann. Später war es ein deutlicher Bekenntnistag gegen den Nationalsozialismus und den Führerkult, für ein Reich des Friedens gegen das Reich des Hasses und der Gewalt. Mir scheint die Botschaft des Christkönigsfestes nicht überholt zu sein. Am Ende steht jeder Mensch vor der Frage: Von wem lasse ich mich in meinem Denken, Reden und Tun bestimmen?