Predigt von Bischof Peter Kohlgraf in der Feier vom Leiden und Sterben Christi („Karfreitagsliturgie“) Dom zu Mainz, Karfreitag, 15. April 2022, 15.00 Uhr

Kreuz (c) Bistum Mainz
Datum:
Fr. 15. Apr. 2022
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Das Evangelium richtet den Blick auf den geschundenen Jesus, der gewaltsam sterben muss. Jesus selbst hat sein Leben und Sterben wohl nicht betrachtet als ein vom Schicksal anderer Menschen isoliertes Geschehen. Er hat es gedeutet als ein Dasein und Sterben für andere und mit anderen. 

Die Passionsgeschichte – auch eine Studie über den Menschen

Tatsächlich ist die Leidensgeschichte Jesu, die wir in jedem Jahr hören, auch eine Studie über den Menschen. Pilatus lässt den geschundenen und als König kostümierten Jesus herausführen. Verächtlicher kann man einen Menschen nicht machen. Die Szene zeigt aber auch die grundsätzliche Menschenverachtung des Herrschenden. Selbst angesichts des Todes macht er sein Opfer zum Objekt seines Spotts. Wer das Evangelium genau hört, spürt dennoch, wer dort eigentlich der souveräne Herrscher ist. Gegenüber dem Verhalten Jesu wirkt Pilatus geradezu lächerlich schwach: Er sucht allein den eigenen Machterhalt; Jesus hingegen ist überzeugt: Gott, sein Vater, wird am Ende Sieger sein. Ostern wird sein Vertrauen bestätigen, auf eine nicht zu erwartende Art und Weise. Geschichtsschreibung ist in der Regel eine Geschichte der Sieger und Starken, nicht der Geschändeten, Gefolterten, Ermordeten und Gescheiterten. Das ist in den Evangelien anders. Sie entlarven die lächerliche Fassade menschlicher Macht angesichts göttlicher Macht. Göttliche Macht verhindert das Leid nicht, sie verwandelt das Leid in Leben.  
Die Passionsgeschichte – auch eine Studie über die Menschen. Das Evangelium richtet den Blick auf den geschundenen Jesus, der gewaltsam sterben muss. Jesus selbst hat sein Leben und Sterben wohl nicht betrachtet als ein vom Schicksal anderer Menschen isoliertes Geschehen. Er hat es gedeutet als ein Dasein und Sterben für andere und mit anderen. Während die Herrscher spotten und versuchen, dem Leidenden die Würde zu nehmen, macht Jesus die Opfer groß. Die lächerlichen Figuren sind die Herrschenden, die sich aufblasen. Ja, sie haben Macht über Leben und Tod. Aber am Ende werden sie selbst Rechenschaft geben müssen über den Gebrauch ihrer Macht. Dann steht auch der König nackt und bloß da, seine prächtigen Kleider entpuppen sich als Illusion. Er selbst ist eine lächerliche Figur. 
„Seht, den Menschen“. In diesen Tagen schauen wir erneut auf die vielen geschundenen Menschen, im Krieg, auf der Flucht, auf die Trauernden, die Toten. Wir erleben, wie der Tod scheinbar den Sieg erringt. Groß sind die, die Macht haben, die das Geld beherrschen, die andere erniedrigen, die lügen, um eigene Macht zu beweisen. Sie werden am Ende in der Bewertung der Geschichte nackt dastehen. Das gilt für weltliche und auch die kirchlichen Fürsten, die sich auf die Seite der Unterdrücker und Despoten schlagen. 
Die Passionsgeschichte – auch eine Studie über den Menschen. Die Mächtigen, auch zur Zeit Jesu, leben von den Schmeichlern, den Feigen und denen, die in Abhängigkeit um ihre eigene Macht die Römer fürchten. Herodes ist ein klassisches Beispiel. Er ist Machthaber von Roms Gnaden. Sicher käme er nicht auf die Idee, Pilatus zu kritisieren, denn natürlich geht es um sein Ansehen. Da macht der ein oder andere Tote kein Problem. Despoten bis in unsere Zeit leben von ihrem Umfeld, das sie bestätigt und ihnen schmeichelt. Auch das ist der Mensch. Er entblößt sich, indem er sich im Glanz anderer sonnt, und keine eigene Position bezieht. Das Gewissen wird entweder ignoriert, oder es ist so verkommen, dass es sich nicht mehr meldet. 
Wir sehen die Menge der Menschen, die das Schicksal Jesu als Schauspiel genießt oder längst zur verfügbaren Masse der gewissenlos Herrschenden geworden ist. Ich denke an Bilder aus der nationalsozialistischen Zeit, in der Menschen mit Hitlergruß am Straßenrand standen, ich denke an andere Diktaturen, in denen die Mächtigen die Menschen „gleichschalten“ konnten. Der einzelne zählt nicht mehr, er wird zum „Stimmvieh“, zur Nummer, austauschbar, am Ende verzichtbar. Ich hoffe, dass wir Christinnen und Christen in dieser Gesellschaft Selbstdenkende bleiben. Diese unterscheiden sich allerdings deutlich von „Querdenkenden“. Denn sie orientieren ihr Gewissen am Wort Gottes und an der Liebe zu Gott und dem Nächsten, nicht am eigenen Ego und an selbstkonstruierten Weltbildern. 
In der Studie über den Menschen begegnen uns die Entmutigten und Mutlosen. Die Jünger sind längst weggelaufen. Der Einsatz für Jesus ist ihnen peinlich. Judas verrät Jesus, wohl deshalb, weil er seinem Bild und seinen Erwartungen nicht mehr entspricht. Petrus schämt sich für seine Freundschaft mit Jesus. Von anderen ist nichts mehr zu hören, aber durch besonderen Mut zeichnen sie sich nun auch nicht aus. Wunden lecken, abtauchen, ohne Verantwortung zu übernehmen, keine Farbe bekennen, wenn es um die Rechte anderer geht, nicht auffallen wollen, eigene Nachteile vermeiden, Ruhe haben, die eigene Existenz sichern – auch das ist menschlich. 
Wir begegnen in dieser Studie der Menschlichkeit den vielen Gesichtern derer, die Böses tun, Gutes unterlassen, auch denen, die einfach Durchschnitt sind und nicht auffallen wollen – wie Menschen eben sind. Nach der Zeit des Nationalsozialismus wurde viel darüber geschrieben, wie das sein konnte. Wohl genau deswegen, weil die Menschen genau so sind wie zur Zeit Jesu, und sie sind heute ebenfalls so. Hannah Arendt hat von der „Banalität des Bösen“ gesprochen. In den vielen Zusammenhängen der Geschichte, auch im Hinblick auf die Despoten und Mitläufer reden wir nicht über Monster. Wir reden über Menschen, in deren Geheimnis wir nicht hineinschauen. Schnell wird gefragt, ob die Brutalität von Folterknechten und Diktatoren krankhaft war oder ist. Vermutlich ist sie es nicht. Diese Menschen sind eher böse, gleichgültig, ängstlich, feige, um sich selbst besorgt; so banal kann das Böse sein. So ist der Mensch.
So ist der Mensch auch – und er kann anders sein. Da sind die wenigen, die ausharren, die beim Kreuz stehen, nicht zuletzt Johannes und Maria. Es gibt die Menschen, die nicht wegschauen, die nicht weglaufen und dem Leid anderer nicht ausweichen. Vielleicht sind sie keine Helden, aber sie sind keine Nummer in der Masse anderer. Auch sie gibt es in der Passionsgeschichte Jesu. Sie tragen das Leid anderer Menschen mit, sie laufen nicht davon. Sie helfen, wo sie helfen können, aber sie halten auch die Ohnmacht aus. Diese Menschen sind es bis heute, die unsere Welt menschlich machen. Sie sind ganz nah an Jesus und seinem Lebensbeispiel. Ich glaube, dass diese Menschen bis heute in der Mehrzahl sind. Daher bleibt unsere Welt liebenswert. Und daher habe ich Hoffnung, weil sie das Reich Gottes leben, oft ohne große Worte. In ihnen zeigt sich Gottes Stärke. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Despoten dieser Welt vor diesen Menschen Angst haben. Es ist doch lächerlich, dass Menschen in Russland in eine mehrjährige Haftstrafe gehen, weil sie sich zum Frieden bekennen. Es war ebenso lächerlich, dass eine Sophie und ein Hans Scholl hingerichtet wurden, weil sie Flugblätter verteilten. Wenn daran an „tausendjähriges Reich“ scheitern könnte, zeigt das die Lächerlichkeit menschlicher Machtansprüche. 
„Ecce Homo – seht, da ist der Mensch“. Zu welchen Menschentypen wollen wir gehören? Wie schreiben wir persönlich Menschheits- und Zeitgeschichte? Die Passion zeigt, dass dies keine theoretische Frage ist. Und sie zeigt, dass wir uns nicht wegducken können. Wenn andere auf uns schauen, welchen Menschen sehen sie?