„Sucht die Nähe Gottes, dann wird er sich euch nähern.“

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf bei der Priesterweihe 2023 Hoher Dom zu Mainz, Samstag, 15. Juli 2023, 9.30 Uhr

Bischof Kohlgraf (c) Bistum Mainz
Datum:
Sa. 15. Juli 2023
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Die Bedeutung, die Gott im Leben eines gläubigen Menschen einnimmt, wird besonders durch die alltäglichen Verhaltensweisen sichtbar. Am Ende sollte das Leben selbst eine überzeugende Predigt darstellen. Jede einzelne Christin und jeder einzelne Christ ist in diesen Zeiten womöglich die einzige Bibel, die Menschen noch lesen wollen oder die sie lesen und verstehen können. 

Lieber Weihekandidat Jens Ginkel, liebe Festgemeinde!

„Sucht die Nähe Gottes, dann wird er sich euch nähern.“ (Jak 4,8). Diesen Satz aus dem Jakobusbrief haben Sie sich als Weihespruch ausgewählt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass in der Auswahl eines Bibelverses viel Arbeit steckt. Ein solcher Vers kann jedoch immer wieder Kraft spenden und Orientierung bieten. Im Jakobusbrief steht dieser Vers im Zusammenhang eines Kapitels, das deutlich macht, wie Glauben und Leben miteinander in Verbindung stehen. Der Apostel macht die Beobachtung, wie Begehren, Neid, Streit und Selbstbezogenheit das Leben der Gemeinde prägt und deren Glaubwürdigkeit in Frage stellt. Gott sieht den Menschen als ein Geschöpf mit zwei Seelen. Einerseits will der Mensch glauben und dem ihm von Gott zugewiesenen Anspruch gerecht werden. Andererseits nehmen immer wieder andere Dinge und Haltungen den Platz Gottes ein, sodass der Mensch nicht immer den Wegen Gottes folgen kann. Diese Aussage, dass Glaube und Leben zusammengehören, ist meiner Meinung nach auch für einen Priester von zentraler Relevanz. Die Bedeutung, die Gott im Leben eines gläubigen Menschen einnimmt, wird besonders durch die alltäglichen Verhaltensweisen sichtbar. Am Ende sollte das Leben selbst eine überzeugende Predigt darstellen. Jede einzelne Christin und jeder einzelne Christ ist in diesen Zeiten womöglich die einzige Bibel, die Menschen noch lesen wollen oder die sie lesen und verstehen können. Gemäß dem Jakobusbrief erfordert das priesterliche Leben zunächst keine extremen asketischen Leistungen. Es geht vielmehr darum, den Glauben das tägliche Leben prägen zu lassen, insbesondere durch die Beachtung und Umsetzung in den kleinen, alltäglichen Dingen und Verhaltensweisen. Welche Seele prägt den Alltag? Selbstbezogenheit oder Aufmerksamkeit gegenüber den Bedürfnissen, Freuden, Hoffnungen, Leiden und Fragen des anderen Menschen? Jakobus erinnert an den Wert und die spirituelle Bedeutung des Alltags und des täglichen Miteinanders. Es ist kein Trost für mich als Bischof, dass bereits zu Zeiten des Apostels immer wieder die andere Seele die Gemeinde und die Welt prägte. Sie, lieber Weihekandidat, sind in eine Kirche und in eine Welt gesandt, die Menschen brauchen, die Brücken bauen, die an den Wert der Nächstenliebe erinnern und diese leben, die Frieden säen statt Hass, die Aufmerksamkeit und Wertschätzung gegen Egoismus starkmachen. Auch die Kirche ist oft mehr von Spaltung als von Gemeinschaft geprägt. Es wird auch Ihre Aufgabe sein, Menschen zu motivieren, Brückenbauerinnen und Brückenbauer zu sein. Dazu braucht es den Blick Jesu auf alle Menschen. Dazu gehören ebenso diejenigen, die ihnen selbst schwierig erscheinen. Priester, Christin oder Christ kann man nicht sein, ohne Menschen nah sein zu wollen. Die Gottsuche, von der Jakobus spricht, vollzieht sich also in diesem alltäglichen Bemühen, Welt und Menschen lieben zu lernen. In ihren Fragen und Hoffnungen spricht Gott zu uns und wir werden immer wieder lernen müssen, in ihnen die Herrschaft Gottes zu entdecken, die uns nahegekommen ist in Jesus Christus, der bei uns bleibt und durch uns und andere Menschen sprechen will. Lieben Sie den Alltag als den Ort der Gottsuche und der Erfahrung, dass Gott sich Ihnen nähert. Gestalten Sie eine Kirche mit, die von diesem Interesse an den Menschen geprägt ist und keinen Zwiespalt setzt zwischen Gott und den Menschen, die ihr anvertraut sind. Die Suche nach Gott besteht nicht allein in philosophischer Spekulation, auch wenn die Vernunft des Menschen ein gottgegebenes Mittel ist, ihm näher zu kommen. Der Kirchenvater Augustinus beschäftigt sich ein Leben lang mit der Gottsuche des Menschen. Auslöser ist die Unruhe der Seele und des Herzens, das erst Ruhe findet in Gott selbst. Im Menschen, so seine Erfahrung, ist eine innere Bewegung angelegt, Gott zu suchen, um zu Ruhe und Erkenntnis kommen zu können. Endgültig wird dies erst im Himmel der Fall sein. Auf Erden ist der Mensch getrieben, sich zu übersteigen. Gottsuche ereignet sich im vernünftigen Nachdenken und Reflektieren: „Es ist ausgeschlossen, dass unser Glaube den Verzicht auf vernunftgemäße Erklärung oder vernunftgemäßes Forschen fordert; denn wir könnten ja gar nicht glauben, wenn wir nicht vernunftbegabte Seelen hätten.“[1] Glaube ist die Voraussetzung des Suchens nach Gott und einer immer größeren Wahrheit. Die Vernunft lehrt, dass es immer etwas Größeres gibt als die eigene Einsicht. Sobald man in seiner Suche nach Gott vorankommt, wird man unaufhörlich weitersuchen und Fragen stellen müssen, denn die Wirklichkeit Gottes findet niemals ein Ende, das mit unseren eigenen Erfahrungen übereinstimmt. In Ihrem Interview in der Kirchenzeitung, lieber Herr Diakon Ginkel, bildet sich etwas von dieser augustinischen Unruhe ab. Sie haben beschrieben, wie Sie um Ihre Berufung ringen, sie erst gar nicht annehmen wollten, sich schließlich aber ergreifen lassen für diesen Weg, auf den Gott Sie führen will. Ich fürchte, auf dem Weg der Gottsuche werden Sie auch als Priester – zumindest Augustinus zufolge – nicht zur Ruhe kommen. Je näher Sie ihm kommen, desto stärker wird die Sehnsucht werden, weiterzusuchen. Ihre Berufungserfahrungen zeigen darüber hinaus, dass Gott selbst auf der Suche nach uns Menschen ist. Menschlich gesprochen hat er auch ein unruhiges Herz, weil er ebenfalls auf der Suche ist und um uns wirbt. Als jemand, der ein anderes "vernünftiges" Fach studiert hat, ist ihnen der Gedanke vertraut, einen Glauben zu praktizieren, der mit rationaler Untersuchung vereinbar ist, und den Menschen einen Glauben anzubieten, der einer vernünftigen Erforschung standhält. Wenn manche in der Kirche einfache Antworten auf komplexe Fragen anbieten, hätte der heilige Augustinus deutlich widersprochen. Dies verdeutlich die Notwendigkeit, vor allem in Bezug auf aktuelle und relevante Themen mit unterschiedlichen Fachwissenschaften ins Gespräch zu gehen, und keineswegs lediglich Antworten vergangener Jahrhunderte anzubieten. Lieber Herr Diakon Ginkel, ermöglichen Sie Menschen eine vernünftige Gottsuche in unseren Zeiten. Gottsuche hat einen weiteren Aspekt neben Alltag und theologischen Nachforschungen. Am Ende tauchen Sie im Gebet, in der Schriftbetrachtung und in der Feier der Sakramente immer wieder in seine Gegenwart ein. Im Gebet begegnen sich Gott und Mensch. Der Mensch strebt nach Gottes Nähe und Gott tritt in die Nähe des Menschen. Wir mussten und müssen uns in der Kirche mit dem Phänomen befassen, dass auch Priester nach manchen Jahren des Dienstes geistlich ausgedörrt sind. Sie missbrauchten ihre Macht über Menschen, um sich selbst zu bestätigen. Die Gefahr ist nicht gering, nicht mehr aus der Quelle Gottes zu leben, sondern aus den „Zisternen“, die man sich selbst gräbt, die aber am Ende austrocknen (Jer 2,12). Auch Menschen in der Kirche könnte man auf verschiedenen Ebenen den Spiegel vorhalten, wie es der Prophet Jeremia dem Gottesvolk gegenüber tut: „Denn mein Volk hat doppeltes Unrecht verübt: Mich hat es verlassen, den Quell des lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten.“ (Jer 2,13) Daher ermutige ich Sie mit der Gottsuche und dem Streben nach der eigentlichen Quelle des Lebens nicht aufzuhören. Nicht nur ihretwegen, sondern auch der Menschen wegen, die andere als Zeuginnen und Zeugen brauchen, welche die Freude des Glaubens und das Leben in Gott ausstrahlen. Menschen brauchen dieses Wasser des Lebens und als Priester dürfen Sie sie an die Quellen des Lebens führen. Lieber Weihekandidat, ich wünsche Ihnen, dass Sie weiterhin nach Gott suchen, im Alltag, im Denken, in der Verkündigung, im Gebet und im persönlichen Zeugnis. Gott jedenfalls sucht auch Sie jeden Tag neu, so wie uns alle. Für Ihren Dienst als Priester wünsche ich Ihnen die Erfahrung, dass Gott Sie trägt und begleitet.

 

[1] Ep. 120,3 (BKV² 29,464).