Es geht darum, das Reich Gottes nach der Zeitenwende der Menschwerdung Jesu zu leben, es geht darum, den Kairos, den rechten Zeitpunkt zum Handeln und zur Umkehr zu erkennen.
Ich bin dankbar für die Zeitenwende, die uns eine Perspektive und eine Vision zum Frieden vorlegt, die sich nicht mit der Kriegsfähigkeit abfindet. Ich bin dankbar für den Kairos dieser Tage, der uns die Chance gibt, zu gestalten und in die Zukunft zu gehen. Dazu möge uns Gott segnen, an diesem Tag, der uns hinüberführt zu einem neuen Jahr, nach Christi Geburt.
„Lobpreiset all zu dieser Zeit, wo Sonn‘ und Jahr sich wendet“, heißt es in einem Lied zum Jahreswechsel (GL 258). Wie in manchen Texten und Liedern, die wir auch heute Abend beten und singen, wird ausgedrückt, dass Zeit mehr ist als das Ticken der Uhr, oder das Zählen der Tage.
Zeit empfinden wir in manchen Augenblicken als gefüllte Zeit, die uns zum Nachdenken anregt, zu Veränderungen, zur Dankbarkeit, zum Rückblick und zur Vorausschau. Wir haben den Jahresrückblick gehört, und vielleicht haben Sie auch persönliche Rückschau gehalten, nachgedacht über persönliche Erlebnisse, Veränderungen, Chancen und verpasste Gelegenheiten, schöne Erfahrungen sowie Themen für die Zukunft.
Gerade der Jahreswechsel ist mehr als eine rein kalendarische Veränderung.
Wort des Jahres 2022 war der Begriff „Zeitenwende“. Bundeskanzler Olaf Scholz gebrauchte ihn nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Er sagte in seiner Rede am 24. Februar 2022: „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. (…) Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wir die Welt davor.“
Daraus ergaben sich für die Bundesregierung fünf konkrete Aufträge: Die Unterstützung der Ukraine, das Bemühen, Putin vom Kriegskurs abzubringen, zu verhindern, dass der Krieg auf andere Länder Europas übergreift, die Sicherstellung der eigenen Verteidigungsfähigkeit sowie eine Zäsur in der Außenpolitik. Konkret wurden 100 Milliarden Euro zugesagt für das Erreichen dieser Ziele.
Zeitenwende kann man hier beschreiben als das Ende einer vermeintlich friedlichen Ära, der Beginn einer neuen Zeit, in der man aus Verteidigungsgründen hochrüstet, weil die früheren Ideen einer gerechten Welt- und Friedensordnung nicht mehr tragen, bzw. sich als Illusion herausgestellt haben.
Die Zeitenwende beinhaltet im Wesentlichen, Menschen wieder kriegs- und verteidigungsfähig zu machen. Diese Debatten haben uns gesellschaftlich bewegt, und sie werden uns mit ihren Konsequenzen weiterbewegen.
Ich bestreite nicht, dass es Aufgabe einer Regierung ist, hier nach ihrer Übernahme von Verantwortung zu fragen. Heute Abend will ich thematisieren, dass die Regierung einen eigentlich theologisch-christlich-biblischen Begriff besetzt, der inhaltlich völlig anders gefüllt ist.
Jenseits der konkreten politischen Fragen werden wir in ein neues Jahr gehen, 2025 nach Christi Geburt. Seine Geburt ist die eigentliche Zeitenwende.
Hat das eigentlich noch eine Bedeutung für uns als zunehmend säkulare Gesellschaft, dass wir unsere Jahre „nach Christus“ zählen? Es ändert ja nichts, einfach das „nach Christus“ auszuwechseln durch „nach unserer Zeitrechnung.“ Zwar wird der Bezug auf die christliche Religion vermieden, aber spätestens nach einer Nachfrage muss jemand erklären, was oder wer denn die Zeitrechnung verändert hat.
Die Geburt Christi bringt eine neue Zeit, ein neues Verständnis der Zeit, in der wir leben. Im Neuen Testament ist die neue Zeit nach Christus eine Zeit des Heils, in der Gott uns Menschen eine neue Freundschaft anbietet, in der wir leben dürfen. In manchen neutestamentlichen Schriften wird dieser Gedanke vertieft. Besonders markant im Galaterbrief (4,4f.): „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft (Gotteskindschaft, P.K.) erlangen.“
In der Fülle der Zeit wird Gott in seinem Sohn Mensch, damit wir in eine neue Beziehung zu Gott als seine Kinder eintreten können.
Die eigentliche Zeitenwende ist das Angebot des Friedens, das Gott den Menschen macht, Frieden mit ihm und Frieden untereinander. Es ist tragisch aktuell, wenn der Epheserbrief die Zeitenwende als Grundlage für den Frieden zwischen dem Judentum und den Andersglaubenden nennt.
Wir sind derzeit anscheinend weit von diesem Ideal entfernt.
Zwei Konzepte von Zeitenwende stoßen derzeit aufeinander, die Frage ist, wer die Deutungshoheit über diesen Begriff haben soll. Zumindest bekommen wir alle den Auftrag mit, dass wir uns nicht damit abfinden, dass am Ende die Waffen und der Unfriede, die Spaltung und der Krieg die Zeitenwende markieren, sondern dass die Zeitenwende in der Geburt Jesu, dem Friedensfürsten, bereits da ist, und es in unserem Auftrag ist, sie zu gestalten und zu leben.
Es scheint mir wichtig zu sein, auf die religiöse Dimension politischer Sprache aufmerksam zu machen. Zeit ist biblisch mehr als das Ticken der Uhr, das Zählen von Tagen, Stunden und Minuten. Die Bibel nennt Zeit immer wieder einen „Kairos“, das heißt einen Zeitpunkt, dessen Chance nicht verpasst werden darf. Zeit ist immer auch der Anspruch, zu erkennen, was jetzt getan werden muss, und es kann sein, dass eine bestimmte Chance nicht wiederkommt. Im Evangelium ist von den Zeichen der Zeit die Rede, die es zu erkennen gilt. Wenn wir sie erkennen, drängen sie zum Handeln.
Die Missbrauchsfälle haben zum Handeln gezwungen und sind weiter Thema, sie müssen uns zwingen zu einer neuen Kultur in der Kirche. Der sogenannte synodale Weg in Deutschland, der sich den systemischen Ursachen stellt, geht weiter. Die Suche nach synodalen Formen in der Kirche ist ein Zeichen der Zeit.
Die Weltsynode hat uns entsprechende Hausaufgaben gestellt, die uns zeigen, dass wir nicht über deutsche Themen reden. Die Frage von Kirchenbindung, Weitergabe des Glaubens und die Zukunft von Kirche und unseren Gemeinden beschäftigen uns und mich.
Es kann auch geschehen, dass ein Kairos verpasst wird; das kann heute auch den Kirchen passieren. Die Kirchen haben in einer Welt, in der Bindungsbereitschaft nachlässt, den Wert der Gemeinschaft zu leben, so dass andere glauben können. Einsamkeit scheint mir ein Zeichen der Zeit zu sein, auf das wir als Kirchen reagieren müssen. Wir nehmen die neue Versuchung des Nationalismus wahr, nachdem wir in Europa jahrelang nach Einheit gesucht haben und sie auch leben konnten. Leider sind auch die Kriege ein Zeichen der Zeit.
Und jede und jeder hat in seinem Leben derartige Punkte eines Kairos, die es zu erkennen und dann zu handeln gilt. Immer ruft Gott auch zur Umkehr, zu einem neuen Denken, im eigenen Leben, in Kirche und Gesellschaft.
Wir werden weiter nach guten Wegen in die Zukunft suchen, die kein „Weiter-So“ ausdrücken dürfen.
Zeit ist mehr als das Ticken der Uhr. Es geht darum, das Reich Gottes nach der Zeitenwende der Menschwerdung Jesu zu leben, es geht darum, den Kairos, den rechten Zeitpunkt zum Handeln und zur Umkehr zu erkennen.
Ich bin dankbar für die Zeitenwende, die uns eine Perspektive und eine Vision zum Frieden vorlegt, die sich nicht mit der Kriegsfähigkeit abfindet.
Ich bin dankbar für den Kairos dieser Tage, der uns die Chance gibt, zu gestalten und in die Zukunft zu gehen. Dazu möge uns Gott segnen, an diesem Tag, der uns hinüberführt zu einem neuen Jahr, nach Christi Geburt.