Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (c) Bistum Mainz (Ersteller: Bistum Mainz)

200. Geburtstag von Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler

Datum:
Sonntag, 25. Dezember 2011

Predigt von Kardinal Lehmann am Hochfest zu Weihnachten am 25. Dezember 2011 im Mainzer Dom

„Wenn Jesus Christus sich durch die Größe unseres Elendes nicht abhalten ließ, sich vom Himmel zu uns herabzulassen, so sollen auch wir, wenn wir Christen sind, dort hineilen, wo die Not am größten ist." (Bischof Ketteler) - In den ersten Worten ist das zentrale Geheimnis von Weihnachten eindrucksvoll zusammengefasst. Gott bleibt nicht starr und unbeweglich in sich selbst. - Der biblische Gott ist ganz anders: er geht mit seinem Volk.

Lesungen: Jes 52,7-10; Hebr 1,1-6; Joh 1,1-18

Verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Heute am Weihnachtsfeiertag begehen wir zugleich auch den 200. Geburtstag des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler, der von 1850 bis 1877 unser Bistum leitete. Wir wollen heute nicht im Einzelnen über sein Leben und Wirken sprechen. Dies haben wir bei der großen Tagung unserer Akademie im Erbacher Hof am 25./26. November getan. Die Adventspredigten hier im Dom zu seinen berühmten Ansprachen im November/Dezember 1848 „Die großen sozialen Fragen der Gegenwart" erinnerten uns an sein großes Auftreten in Mainz. Zu gleicher Zeit erschien auch eine Neubearbeitung seiner Hirtenworte im Rahmen der Ausgabe „Sämtliche Werke und Briefe" (Band I,6; Mainz 2011).

Dennoch wollen wir auch heute seine Stimme hören. Kurze Zeit, bevor er nach Mainz kam, hat er beim einzigen Weihnachtsfest, das er in Berlin als Propst mitfeiern konnte, am 9. Dezember 1849 in einer Adventspredigt gesagt:

„Wenn Jesus Christus sich durch die Größe unseres Elendes nicht abhalten ließ,
sich vom Himmel zu uns herabzulassen, so sollen auch wir, wenn wir Christen sind,
dort hineilen, wo die Not am größten ist."

Wenn wir diese Worte bedenken, dann sind wir ganz nahe am Sinn des Weihnachtsfestes. Wir können dann zugleich in das Herz des großen Bischofs schauen und dürfen an den Gründen für sein begeistertes Christsein teilhaben, und uns so durch sein Zeugnis ermutigen lassen.

In den ersten Worten ist das zentrale Geheimnis von Weihnachten eindrucksvoll zusammengefasst. Gott bleibt nicht starr und unbeweglich in sich selbst. Wir erinnern uns, dass viele Religionen vor und außerhalb der biblischen Offenbarung sich Gott schweigend und welterhaben vorstellten. Er war gerade dadurch Gott, dass er mit dem geschichtlichen Leben unserer Welt nichts zu tun hatte. Der biblische Gott ist ganz anders: er geht mit seinem Volk; er schafft frei und ohne jeden Zwang unsere Welt; er spricht zu uns; er schickt uns immer wieder weltliche und religiöse Führer, ja besonders die Propheten, um sein lebendiges und heilbringendes Wirken in der Welt neu auszurichten. Gott bricht auf. Er kommt uns immer näher: in der Schöpfung, in seinem Wort, in seinen Geboten und Weisungen für unser Leben, in großen Frauen und Männern. An der Schwelle stehen Johannes der Täufer und vor allem Maria, die Mutter Jesu, des Sohnes vom ewigen Vater. Unsere Welt ist Gott nicht gleichgültig. Er kommt zu uns.

Er macht sich auf den Weg. Ein erstes Wunder besteht darin, dass Gott sich auch „durch die Größe unseres Elendes nicht abhalten ließ", wie Bischof von Ketteler sagt. Die Unwahrheit und die Gewalt unserer Welt fürchtet er nicht. Zugleich verbindet er damit auch die Hoffnung, dass wir dieses Elend besiegen können. Und wenn die Not noch so groß ist, Gott bleibt seinem Vorhaben treu. Er denkt ganz anders als wir Menschen. Wir stellen uns das Kommen der höchsten Macht so vor, dass sie alle Widerstände bricht, jedes Übel beseitigt und nur Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe bringt. Dies wäre ein Traum, eine Vision. Er möchte aber wirklich in unsere reale, täglich gelebte Welt mit ihren Zerrissenheiten und Gefahren kommen.

Da fällt ein wichtiges Wort: Er will „sich vom Himmel zu uns herablassen". Wir haben gesehen, dass dieser Gott der Bibel nicht einfach selig bei sich selbst verharrt, sondern dass er wirklich immer stärker zu uns herabsteigt. Er kommt uns durch seine Worte und Zeichen immer näher. Er kommt vom Himmel herab. Es ist wirklich ein ganz unwahrscheinlicher Aufbruch, den wir uns gar nicht vorstellen können, dass jemand die Geborgenheit und Seligkeit, auf immer, das Gottsein beim Vater verlässt und einen wirklichen Abstieg vollzieht. Wir wollen ja immer nur aufsteigen, mehr sein und mehr haben. Gott aber verlässt den Himmel. In einem der ältesten Lieder des Neuen Testamentes heißt es im Brief des hl. Paulus an die Philipper: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz." (2,6-8)

Jesus kommt nicht ins Paradies, wenn er zu uns kommt. Er spielt nicht einfach einige Stunden oder Tage Mensch. Er zieht nicht nur für kurze Zeit unsere Uniform an, sondern er - und jetzt kommt ein wichtiges Wort - entäußert sich, ja er hält seine Herrlichkeit, die Gottes ist, nicht krampfhaft fest, er erniedrigt sich. An einer anderen Stelle sagt Paulus: „Denn ihr wisst, was Jesus Christus, unser Herr, in seiner Liebe getan hat: Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen." (2 Kor 8,9) Deswegen sprechen wir an Weihnachten von der Menschwerdung Jesu, die sich aber mitten in unserem Elend vollzieht: geboren unterwegs, auf die Welt gekommen im Stall, verfolgt von König Herodes, auf der Flucht nach Ägypten in ein fernes Land. Da ist nicht viel von Glitzer und Flitter.

Bischof von Ketteler muss nicht viel reden, warum Gott aufbricht und sich auf den Weg zu uns macht. Wenn er schon irgendwelche „Macht" besitzt, so kommt er, um uns zu befreien. Darauf hatte das ganze Volk Israel mehr als ein Jahrtausend gewartet. Er hat freilich in Israel - wie wir auch heute - andere Formen dieser Befreiung erhofft: von militärischer Bedrückung, von Hunger und von Armut. Jesus aber hat sich schon von der ersten Stunde seiner Ankunft bei uns auf die Seite der Erniedrigten und Armen, der Hoffnungslosen und der Verachteten gestellt. Jetzt erkennen wir, wie tief der Abstieg vom Himmel wirklich ist. Er lässt nichts aus, was Menschen zustoßen kann. Er lernt auch die tiefen Abgründe des Menschen kennen, wie wir an der Passion und an seinem Tod erkennen können. Er erniedrigt sich wirklich.

Bischof von Ketteler sagt in aller Deutlichkeit, wozu Jesus kommt: „So sollen auch wir, wenn wir Christen sind, dort hineilen, wo die Not am größten ist." Wenn Gott zu uns kommt, gerade auch in die Untiefen unserer Welt, möchte er uns auf dem Weg der Befreiung und Erlösung mitnehmen. Aber nicht nur passiv. „So sollen auch wir, wenn wir Christen sind ..." Bischof von Ketteler weiß, wie träge wir geistlich sind und wie sehr wir bei den Fleischtöpfen Ägyptens bleiben möchten. Er ruft uns deshalb auf, dass wir mit unserem Christsein ernst machen. Dies ist nicht selbstverständlich, da wir uns immer wieder bei unserer Müdigkeit und unserem Versagen ertappen.

Ketteler treibt uns an, wenn er sagt: „So sollen auch wir dort hineilen, wo die Not am größten ist." Wir sollten uns so rasch wie möglich aufmachen, nicht auf irgendeinen anderen Retter warten. Wir sollten auch nicht die Wege bequemer Hilfe auswählen, um möglichst wenig mit dem Schmutz und Dreck unserer Erde in Berührung zu kommen. Nein, wo die Not am größten ist, da ist unser Platz. Wie rasch gelingt Bischof von Ketteler die Verbindung von Jesu Kommen in unsere Welt, der Menschwerdung, die wir so oft für ein fernes Märchen halten zu unserer ganz realen Welt, zu den größten Nöten!

Man könnte nun leicht diesen Abstieg Jesu, wie er uns auch im Symbol der Fußwaschung vor seinem Leiden begegnet, vertiefen. Sein Hinabsteigen zu den Kranken und aus der menschlichen Gemeinschaft Ausgeschlossenen, den Zöllnern und Sündern. Aber dies würde uns auch über seinen Tod hinaus noch eine weitere Dimension des Abstiegs in die Untiefen der Welt offenbaren, nämlich abgestiegen in das Reich des Todes. Er hat den Schlüssel zum Leben und zum Tod.

Wir haben am Anfang gesagt, durch diese wenigen Sätze aus der Berliner Predigt Kettelers im Advent 1849 können wir seine tiefsten Motive erkennen. Wir dürfen nicht, wie dies oft geschieht, in Bischof Ketteler „nur" seinen Kampf für die sozialen Nöte seiner Zeit und für die Freiheit der Kirche sehen, sondern wir müssen die innigste Verbindung immer wieder bewusst machen zwischen unserem Glauben und dem Eintreten für eine wahrhaft bessere Welt. Dabei wissen wir genau, dass wir in dieser Zeit nie das Paradies erbauen werden. Wir können auch nicht einfach den Tod vertreiben. Aber wir können helfen, ihn erträglich zu machen. In diesem Zusammenhang verstehen wir wirklich das, was Bischof von Ketteler wollte, wenn er z. B. sagt: „Unsere Religion ist nicht wahrhaft katholisch, wenn sie nicht wahrhaft sozial ist ... Nur dann, wenn unsere Kirche eine wahrhaft soziale Kirche ist, ist sie eine wahrhaft katholische Kirche". „Wollen wir die Zeit erkennen, so müssen wir die soziale Frage zu ergründen suchen. Wer sie begreift, der erkennt die Gegenwart, wer sie nicht begreift, dem ist Gegenwart und Zukunft ein Rätsel ... Der fromme Glaube genügt aber nicht in dieser Zeit, er muss seine Wahrheit durch Taten beweisen."

Verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn, dies ist Weihnachten, dies ist Kirche, dies ist Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler, dies müssen - „wenn wir Christen sind" - auch wir sein. Weihnachten und Bischof Ketteler gehören zusammen. Er hat in einzigartiger Weise, freilich wie so viele im Lauf der Geschichte, Jesus verstanden. Wäre dies nicht auch die größte Ermutigung, das wertvollste Geschenk für uns an diesem Weihnachten. Wir reden, auch in der Kirche von heute, viel von Aufbruch. Wohin? Hier geschieht der wichtigste Aufbruch, nämlich hin zum Evangelium. Amen.


(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

Weitere Infos zu Bischof Ketteler im "Ketteler-Portal": www.bistum-mainz.de/ketteler

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz