Ansprache bei der Einweihung des neuen Zentrums und der neuen Geschäftsstelle des Diözesancaritasverbandes des Bistums Mainz am 14. März 2008 in Mainz-Bretzenheim

Datum:
Freitag, 14. März 2008

Christliches Leben besteht im Blick auf den Einzelnen, die Gemeinden mit allen Gruppierungen und Verbände und auch die Kirche im Ganzen in den drei Grundvollzügen: Verkündigung des Evangeliums und Glaubensunterweisung, Feier des Gottesdienstes mit Gebet und Sakramentenspendung, geschwisterliche Gemeinschaft in Solidarität und Nächstenliebe. Die drei Dimensionen des christlichen und kirchlichen Lebens gehören zusammen, ergänzen, korrigieren und durchdringen sich wechselseitig. Wenn eine Dimension versagt oder zu kurz kommt, leiden die anderen.

Die für heute ausgewählten liturgischen Texte aus den johanneischen Schriften (1 Joh 3,14-18 und Joh 15,12-17) zeigen, wie eng gerade die Hingabe für den Nächsten ein tiefes Erkennungszeichen derer ist, die sich nach Jesus Christus benennen. Dies gilt auch für das Ineinander und Miteinander von Gottes- und Nächstenliebe: „Daran haben wir die Liebe erkannt, dass Er sein Leben für uns hingegeben hat. So müssen auch wir für die Brüder das Leben hingeben. Wenn jemand Vermögen hat und sein Herz vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Gottesliebe in ihm bleiben?" (1 Joh 3,16 f.) Dies darf nicht ein Lippenbekenntnis sein, sondern muss „in Tat und Wahrheit" (1 Joh 3,18) geschehen. In kürzester Zusammenfassung sagt der Evangelist des Johannesevangeliums: „Die Wahrheit tun" (Joh 3,21: Wer die Wahrheit tut, kommt zum Licht, vgl. auch die Worte Jesu beim Weltgericht Mt 25,31-46). Darauf kommt es an!

Diese Nächstenliebe erfolgt auf vielerlei Weise. Wir können dies ansatzweise schon im Neuen Testament entdecken. Ich nenne in diesem Zusammenhang drei Stufen:

1. Die geschwisterliche Hilfe von Mensch zu Mensch bei konkreter Bedürftigkeit und in bestimmten Notlagen, wobei schon die Wahrnehmung des Leids eines Mitmenschen von fundamentaler Bedeutung ist (Biblisches Stichwort dafür: „Almosen").

2. Die Gemeinde muss als „Stadt auf dem Berg" und „Licht der Welt" eine Gemeinschaft der Dienstbereitschaft sein, wenn andere in Not sind. Dies gilt für die Kirche auf allen Ebenen, wie man besonders auch an der Kollekte der frühen Christen für die Jerusalemer Urgemeinde erkennen kann (Gal 2,10; 2 Kor 8, vgl. aber auch Ex 25,2 ff., Apg 4,34 f.).

3. Dies geht schon über zu einer Hilfe, die den Einzelnen, seine Hilfsmöglichkeiten und seine „fachlichen" Fähigkeiten überschreitet, in vielen Fällen auch die Möglichkeiten einer einzelnen Gemeinde. Deshalb braucht es hier nicht nur institutionelle Hilfen im allgemeinen Sinne, sondern auch eine organisatorische Kraft, die bis in schwer zugängliche Winkel reicht, und zugleich eine qualifizierte Befähigung, d.h. Bildung und Ausbildung, ja auch Fortbildung, die in besonders schwierigen Situationen wirkliche Hilfe bringen kann. Die moderne Wohlfahrtspflege kann darum auf entsprechende Institutionen und Hilfen nicht verzichten (vgl. z.B. das Beratungswesen).

Darum brauchen wir eine neue Geschäftsstelle und ein neues Zentrum für die Caritasarbeit im Bistum Mainz. Wir haben lange Zeit ein solches wirksames Zentrum in der Holzhofstraße 8 gehabt. Wir waren dankbar, das Caritaszentrum in der Altstadt bzw. an ihrem Rande beheimatet zu wissen. Aber der Raum wurde insgesamt angesichts der gestiegenen Aufgaben zu eng. Jeder weiß, wie schwer es war, einen Parkplatz in der Nähe zu finden. Deswegen haben wir uns entschlossen, das Gebäude des Provinzialates der Missionare von der Hl. Familie, die sich verkleinern wollten, aber - Gott sei Dank - in Mainz und auf diesem Gelände bleiben, für ein neues Caritaszentrum zu nützen. Heute können wir das bisherige Berthier-Haus nach einem Umbau für die neuen Zwecke endgültig übernehmen. Ich möchte den Mitbrüdern der Ordensgemeinschaft der Hl. Familie und dem Vorstand des Diözesancaritasverbandes mit Bischofsvikar Weihbischof Dr. W. Guballa und mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr herzlich danken, dass es zu dieser Konzeption und Lösung gekommen ist. Es fügt sich gut, dass fast auf den Tag genau vor 81 Jahren das eben genannte alte Caritashaus am Südbahnhof eingeweiht wurde. Wir werden Gelegenheit haben, nach der Einweihung des Hauses selbst die Räume zu besichtigen. Ich hoffe, dass der Umbau die Brauchbarkeit des Hauses für die neue Aufgabe noch steigern konnte.

Der Diözesancaritasverband hat beschlossen, das neue Caritaszentrum „Bischof Albert Stohr-Haus" zu nennen. Ich habe sofort diesen Vorschlag begrüßt und möchte auch dafür sehr herzlich danken. Damit haben wir, wenn ich recht sehe, zum ersten Mal eine größere Institution, die mit diesem Bischof (1935-1961) durch die Namensgebung eng verbunden ist. Wir haben Grund genug, das Gedächtnis an Bischof Albert Stohr lebendig zu halten. Er hat in schwierigster Zeit (Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, Nachkriegszeit, Wiederaufbau) das Bistum über viele Hindernisse und Hürden geleitet. Er war selbst, mehr als man gewöhnlich weiß, ein tapferer Zeuge im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Er hatte dabei seine eigene Form, eine Gegenposition darzustellen. In vielen Hirtenbriefen bemühte er sich, den Mitchristen Richtung und Halt zu geben. Die berühmte Enzyklika „Mit brennender Sorge" (1937) verlas er persönlich im Dom.

In der Deutschen Bischofskonferenz hat Bischof Stohr, damals jüngster Diözesanbischof, bald die Sorge übertragen bekommen für die Jugendseelsorge. 1941 bekam er mit dem Passauer Bischof K. S. Landersdorfer das Liturgiereferat. Stohr ging es fundamental um eine Erneuerung der Liturgie aus dem Geist der Seelsorge. Er hatte einen wichtigen Anteil an den liturgischen Erneuerungen jener Jahre (vgl. nur das deutsche Rituale des Jahres 1950). So wurde er zu einem wichtigen Vorbereiter der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils. An dieser Stelle darf auch das neue Mainzer Gebet- und Gesangbuch von 1953 genannt werden. Schließlich hatte Bischof Stohr auch einen wachen Sinn für ein neues Miteinander der getrennten Christen.

Aber es hat auch gute Gründe, wenn wir ihn als einen wichtigen und namhaften Bischof der Caritas bezeichnen.Zuerst musste er freilich schmerzlich und bitter erleben, wie die Tätigkeit des Caritasverbandes durch die Nationalsozialisten in seinen Wirkmöglichkeiten eingeengt worden ist. Die Caritas wurde in der Beschaffung der Mittel wie auch in ihrem Arbeitsgebiet in jeder Hinsicht gehemmt und begrenzt, eben zugunsten der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (= NSV). So wurde im Jahre 1935 die gesamte caritative Stellenvermittlung verboten. Die Kinder- und Müttererholung ging an den NSV. Die Bahnhofsmission wurde 1937 der Caritas entzogen. Hinzu kamen viele andere Behinderungen. Schließlich wurden die katholischen Kindergärten und Kinderhorte 1941 aufgehoben und von der NSV übernommen.

Bei allem Schmerz lies sich Bischof Stohr jedoch nicht beirren. Der Caritas - und dies war ihm wichtig - blieb die Sorge für die alten und sehr kranken Menschen sowie für die Familien in einer sozialen Notlage. Dies gilt besonders, wenn sie erblich belastet waren, denn sie galten in der Ideologie des Nationalsozialismus als lebensunwerte Glieder der Volksgemeinschaft. Trotz aller Gefahren setzte die Caritas sich auch für die Fremdarbeiter und rassisch Verfolgte ein. Die Caritas führte viele Sammlungen für Kleidung und Hausrat durch, vor allem für die Ausgebombten und Fliegergeschädigten (vgl. Pfr. Landvogt). Wenn man daran denkt, dass 80 Prozent der Bischofsstadt im Frühjahr 1945 in Schutt und Asche lag, dann ist auch deutlich, dass man einen völligen Neuanfang auch für den Caritasverband machen musste. Hier erwies sich Bischof Stohr als ein tatkräftiger, praktischer Bischof. So hat er z.B. auch nach dem Krieg bei der Neustrukturierung die Bezirkscaritasverbände geschaffen.

Aber dies darf man nicht isoliert sehen. Er nannte bereits 1945 die innere Sammlung und die erneute Aufrichtung und Vertiefung des religiösen Lebens, das Bekenntnis zum ungeteilten deutschen Vaterland und zu einem sozialen Rechtsstaat als Voraussetzungen einer neuen Zukunft. So besuchte er schon 1945 mehrere Kriegsgefangenenlager im Raum Mainz und bald (1947) auch in Frankreich. Die große Flut der Heimatvertriebenen, die damals in das Bistum kamen - es waren Hunderttausende -, brauchte eine ungewöhnliche Hilsbereitschaft in den oft kleinen Gemeinden. Bischof Stohr übernahm von 1948 bis 1951 selbst den Vorsitz des Caritasverbandes und führte die Neustrukturierung durch. Er hatte auch den Mut, wenige Wochen nach der Währungsreform im noch stark zerstörten Mainz vom 1. bis 5. September 1948 den wichtigen Katholikentag (180.000 Teilnehmer) zu veranstalten. Heute ist noch seine Rede wichtig, als er die Einstellung der Demontage, die Freilassung der Kriegsgefangenen und die Freiheit für die Schulen nach deutscher Tradition forderte. Die seelsorgliche Betreuung und kirchliche Eingliederung der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen war Stohr ein großes Anliegen. In kaum mehr als drei Jahren erhöhte sich die Zahl der Katholiken im Bistum von 450.000 im Jahre 1940 auf 620.000 im Jahr 1950. Diese Veränderung und die Zerstörung vieler kirchlicher Einrichtungen, besonders in der oberhessischen Diaspora (der Heimat Albert Stohrs, der aus Friedberg stammte), machte es notwendig, dass nach 1945 über 100 neue bzw. restaurierte Kirchen konsekriert und 92 Seelsorgestellen neu eingerichtet werden mussten. Intensiv hat er sich auch für die Schaffung des Berufs einer Gemeindereferentin eingesetzt.

Dies gibt wenigstens einen kleinen Einblick in die intensive Verantwortung von Bischof Albert Stohr in einer besonders bewegten Zeit. Der für das theologische Fach der Dogmatik ausgebildete Professor hat rasch die Zeichen der Zeit erkannt und ist in diesen wechselnden Situationen auch heute noch im Blick auf die hohe Einsatzbereitschaft, den Mut und die Hoffnungskraft des Glaubens ein leuchtendes Vorbild. Nicht zufällig hat er sich als Leitwort für seinen bischöflichen Dienst das zentrale Wort aus der Bibel gewählt: Dominus fortitudo - Der Herr ist meine Stärke.

So schaffen wir mit dem neuen Zentrum auch eine Brücke zur bisherigen Bleibe des Caritasverbandes. Bischof Stohr bleibt uns nahe. Vieles andere wäre noch zu nennen. Aber dies können wir ja nach und nach entdecken, wenn wir nun das Haus der Caritas in Mainz eng mit seinem Namen verbinden.

Eingangs sprachen wir von den Grundfunktionen des christlichen und kirchlichen Lebens und von der Notwendigkeit der institutionellen und qualifizierten Caritasarbeit, besonders heute. Dafür brauchen wir in ganz besonderer Weise Zeugen, lebende Garanten und Gewährsleute, dass die Caritas nicht eine unverbindliche Utopie bleibt. Mit Bischof  von Ketteler und vielen anderen danken wir Bischof Stohr für dieses Zeugnis. Es ist Ansporn und Mahnung für uns und den Weg der Kirche in die Zukunft. Amen

 

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz