Auf dem Weg in die Weite

Perspektiven für die Ökumene im 21. Jahrhundert

Datum:
Samstag, 24. Mai 2008

Perspektiven für die Ökumene im 21. Jahrhundert

Vortrag am 24. Mai 2008 in Osnabrück (Stadthalle) - Moderation: Frau Prof. Dr. Dorothea Sattler, Münster

I.

 

Das Leitwort des Osnabrücker Katholikentages „Du führst uns hinaus ins Weite" lässt sich auch gut anwenden und durchspielen für den Bereich des ökumenischen Verhältnisses der christlichen Kirchen untereinander. Dieses Wort aus Ps 18,20[1] kommt aus einer tiefen Bedrängnis des Menschen: „Er (der Herr) hüllte sich in Finsternis, in dunkles Wasser und dichtes Gewölk wie in ein Zelt ... Er griff aus der Höhe herab, umfasste mich, zog mich heraus aus gewaltigen Wassern. Er entriss mich meinen mächtigen Feinden, die stärker waren als ich und mich hassten. Sie überfielen mich am Tag meines Unheils, doch der Herr wurde mein Halt." Es ist ein Danklied für Rettung aus Not und für den Sieg.

 

Auch in der Geschichte der Kirchen untereinander und besonders auch der Religionen gibt es zunächst die Erfahrung gegenseitigen Misstrauens, der Ablehnung und der Angst voreinander, woraus Enge und Auswegslosigkeit entstehen. So versteht man dann das befreiende Wort: „Er führte mich hinaus ins Weite."

 

Seit einiger Zeit verbreitet sich bei uns die Meinung und wohl auch nicht selten die Erfahrung einer neuen Enge und sogar manchmal eines Rückschrittes im Verhältnis der Konfessionen zueinander. Man muss nicht gleich von der „Eiszeit" reden, aber nach dem guten Gelingen auf der Suche nach einem größeren Zueinander fürchten jetzt viele um einen Stillstand, um ein Treten auf der Stelle, ja eben auch um eine Rückkehr zu Positionen, die man überwunden glaubte. Dann versteht sich natürlich das Leitwort des Katholikentages gerade auch in der befreienden Wirkung auf die Ökumene.

 

Man muss jedoch nicht nur die jetzige Situation überprüfen, ob es wirklich so ist, wie manche empfinden. Man muss auch fragen, woher wir kommen und wohin wir gehen. Die Verheißung, dass wir in die Weite geführt werden, kann auch missverstanden werden. Es ist ja keine vage und unverbindliche Weite gemeint, die uns wie in einen unwirklichen Traum hinein entlässt. Es ist ein Weg, der auch bestimmt ist von dem, was war und ist. Auch wenn es manchmal wie ein bleiernes Gewicht aussieht, das uns nach unten zieht, so können wir doch nicht einfach unsere Geschichte und unsere Situation überspringen. Gleichwohl brauchen wir gerade auch für den Weg der Ökumene eine Hoffnung, die sich nicht zufrieden gibt mit dem, was wir bisher erreicht haben, sondern die uns wirklich nach vorne hin beflügelt und auch mutig macht. Wir wollen ausloten welche neuen Spielräume sich dafür in Zukunft für die Ökumene auftun.

 

II.

 

Wir stehen an einem eigentümlichen Ort: Wir haben viel erreicht in diesem neuen Zueinander, aber wir sorgen uns auch zugleich um den weiteren Weg, der uns wirklich nach vorne bringt. Es gibt ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten, das auch mit dem Bild umschrieben werden kann, dass uns wie bei einer eingestürzten oder zerstörten Brücke noch viele verlässliche Pfeiler stehen geblieben sind und uns mehr Gemeinsames verbindet als Trennendes hindert. Dennoch gibt es bei allen Erfolgen noch bestehende Hindernisse. Sie werden angesichts der wiedergewonnenen Gemeinsamkeit noch belastender. Es handelt sich hauptsächlich um drei Brennpunkte, die nicht zufällig zwischen Theorie und Praxis, Theologie und Alltag des Lebens angesiedelt sind: das Fehlen vollwertiger gemeinsamer Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen, die uneingeschränkt anerkannt werden; die kirchliche Anerkennung und seelsorgliche Begleitung konfessionsverschiedener Ehen; das Warten auf eine gegenseitige Einladung und Anerkennung im Blick auf das Herrenmahl. Die Tragik der Kirchenspaltung erweist gerade im Persönlichsten, wie es Ehe und Familie darstellen, ihre stärkste Macht. Hier erleben viele Menschen die jahrhundertelange Entfremdung furchtbarer als im öffentlichen Verhältnis der Konfessionen selbst. Dies muss ein wichtiger Motor unseres ökumenischen Einsatzes bleiben. Dies hat nachhaltig bis heute mein eigenes ökumenisches Engagement bestimmt.

 

Eine solche Situation ist schwierig. Der erste große Aufbruch scheint sich erschöpft zu haben. Die Hoffnung scheint nicht mehr weiter zu tragen. Das Verhältnis der Kirchen zueinander erscheint trotz einiger Rückschläge in grundlegenden Fragen als entschärft. Ökumene ist auf allen Veranstaltungen und Ebenen hoffähig geworden. Wir spüren aber auch, dass dieses Klima nicht ungefährlich ist. Schwerwiegende Differenzen, über die noch zu reden sein wird, werden eher zurückgestellt. Sie stören und sind lästig. Man geht ihnen aus dem Weg.

 

Hier gab es gewiss auch manchmal eine falsche Höflichkeit. Wir sind manchen unangenehmen Wahrheiten, die uns drängen, aus dem Weg gegangen. Wir haben das gemeinsam Erarbeitete nicht energisch umgesetzt. Man hat sich dann in dem, was erreicht worden ist, recht und schlecht eingerichtet. Aber der notwendige Schwung ist lahmer geworden. Es lässt sich nicht leugnen: Je geringer die Differenzen geworden sind, umso schwieriger kann der Dialog werden. Es besteht die Gefahr, dass immer weitere Unterschiede beigebracht werden, welche vielleicht keinen entscheidenden Rang haben, aber eben als beinahe unüberwindbar angesehen werden. So erscheint plötzlich der Ablass viele trennende Aspekte aufzuweisen, dass man dies - manchmal ohne es zu wollen - gegen die Grundvereinbarung in der Rechtfertigungslehre vom 31. Oktober 1999 wendet, ohne im Übrigen die wichtigen neueren theologischen Interpretationen zum Ablass zur Kenntnis zu nehmen. Selbst wenn in diesem Bereich noch einiges aufgearbeitet werden muss,[2] so dürfen wir doch nicht diese große Vereinbarung vor bald zehn Jahren dahinwelken lassen.

 

Diese objektiv heikle Situation kann leicht zu falschen Grundeinstellungen führen. Man verfällt in Resignation, weil der ökumenische Frühling vorüber sei. Vielleicht hat man da und dort auch zu sehr und auch zu unreflektiert auf irreale Hoffnungen gesetzt. Viele sehen nur noch einen Stillstand auf dem Weg zur Einheit; der offizielle Ökumenismus bestätige nur sich selbst; darum sei der Rückzug auf kleine, lebendige Basisgruppen der Ökumene die einzige Rettung; die etablierten Kirchen seien letztlich reformunfähig und unbußfertig; eine Stärkung dieses Ökumenismus sei - so heißt es - sogar unerwünscht, weil er nur die konservativen Kräfte in den Kirchen stütze. So wird der Aufruf zum eigenen, nur aus dem ökumenischen Gewissen geborenen Handeln verständlich, das in antizipatorischer Zivilcourage das tun soll, was ohnehin längst geboten, aber formell (noch) nicht erlaubt sei. Andere erblicken in dem angeblichen Stillstand erste Anzeichen einer innerkirchlichen Beruhigung. Sie sind ohnehin der Meinung, dass die Ökumenische Bewegung am Ende den Kirchen nur schade, denn sie begünstige einen Identitätsverfall der einzelnen Konfessionen, der in der Zeit der schleichenden oder offenen Erosion religiöser Kräfte ohnehin drohe, oder begünstige den Indifferentismus sowie die Bildung einer „Dritten Konfession", nämlich die von Christen ohne Kirche.

 

Es gehört zur Nüchternheit und auch Glaubwürdigkeit der ökumenischen Arbeit, dass man sich des bleibenden Wegcharakters bewusst sein muss. Dabei werden Enttäuschungen und auch manchmal rückläufige Tendenzen unvermeidlich sein. Es gibt im Leben des Geistes und des Glaubens nie bloß breite Königs-Straßen ohne verschlungene Pfade, Umwege und Holzwege, Abwege und Irrwege. Dennoch wäre es fatal, wenn eine resignierende Grundstimmung sich gegen ihre letzte Absicht daran beteiligen würde, das immer noch brennende ökumenische Feuer löschen zu helfen. Wer die gewachsenen Differenzen in ihrer Tiefenwirkung zu gering schätzt und auf ihre ernsthafte Aufarbeitung meint verzichten zu können, wird nur Scheinerfolge erreichen können. Nach meiner Erfahrung sind jedoch nicht gedeckte Schecks in der Ökumene besonders gefährlich, weil nach ihrer Entlarvung die Enttäuschung entsprechend groß ist. Dies darf uns nicht überraschen, denn das Leid und der Schmerz der Ökumene verlangen nach einer gediegenen Überwindung, die sich bewährt. Ökumene braucht den langen Atem. Sonst kann es geschehen, dass Resignation und Revolte sehr dicht beieinander wohnen. Wehe, wenn wir dies durch Unbeweglichkeit oder blinden Übereifer begünstigen.

 

III.

 

Der Dialog unterscheidet sich von Unterhaltung und Gespräch durch eine spezifische Zielsetzung[3]. Er ist von Hause aus auf das Erreichen eines Konsenses ausgerichtet. Das Ziel ist eine theologische Übereinstimmung um der kirchlichen Einheit willen. Die Übereinstimmung muss freilich nicht alle Verschiedenheiten aufheben, sondern will nur jene überwinden, die kirchliche Gemeinschaft verhindern. Wir sprechen so von kirchentrennenden Differenzen. Bei der Konsensbildung bilden darum Divergenzen und Konvergenzen eine entscheidende Rolle. Auch wenn nämlich ein hoher Konsens erreicht wird, muss es noch längst kein Maximal- oder gar ein Totalkonsens sein. Entscheidendes Kriterium ist die Frage, ob eine Divergenz kirchentrennenden Charakter hat. In den letzten Jahrzehnten ist die Hermeneutik des Ökumenischen Gespräches gerade in dieser Hinsicht intensiv entwickelt worden. Ich sehe keine grundlegende Alternative zu ihr. Wenn diese Methode nicht sorgfältig, sondern oberflächlich angewendet worden wäre, dann ist dies noch kein Argument gegen die Wahl dieses methodischen Instruments. Dies hält man nicht immer genügend gut auseinander.[4]

 

Unter diesen Voraussetzungen bezieht sich der evangelisch-katholische Dialog vor allem auf die folgenden drei Gebiete, die ich hier freilich nur nennen kann: Eucharistie, Kirchesein, Amt.

 

Es lässt sich nicht übersehen, dass diese und andere Fragen, vor allem auch der Marien- und Heiligenverehrung, durch die am 31. Oktober 1999 unterzeichnete Vereinbarung zwischen dem Lutherischen Weltbund und dem so genannten „Einheitsrat" in Rom für die Katholische Kirche zur Rechtfertigung eine ganz neue Dimension erhalten haben.[5] Es kommt mir darauf an, dass hier im Zentrum der inneren und äußeren Genese der Reformation ein Einvernehmen gefunden worden ist, und dass trotz verbleibender Unterschiede im Einzelnen in Grundwahrheiten des Rechtfertigungsverständnisses keine kirchentrennenden Hindernisse gegeben sind. Dies ist ein Mark- und Meilenstein in der ökumenischen Gesprächsserie. Die Diskussion darüber und auch die bleibende Ablehnung nicht weniger evangelischer Theologen bis heute zeigen aber deutlich, wie manches noch tiefer geklärt und fortgeführt werden muss. Dies geschah und geschieht z.B. im Ökumenischen Arbeitskreis katholischer und evangelischer Theologen[6].

 

Inhaltlich wird die Weiterarbeit nicht zuletzt darin bestehen, dass im Zusammenhang der Rechtfertigungsbotschaft die gemeinsamen Fundamente für das Verständnis der Kirche und des Kircheseins bedacht werden müssen. Die Frage nach den Sakramenten und dem Amt kann dadurch auch leichter und besser gelöst werden, wenn man sie in diesen größeren Kontext der Kirchenfrage einbezieht. Dies ist, so bin ich überzeugt, ein Unterschied gegenüber der früheren Erörterung der Ämterfrage. Gewiss macht die Erweiterung ihres Kontextes mit den Themen von Kirche und Sakramenten die Sache nicht einfacher, aber sie kann auch zu einer gewissen Entkrampfung der Ämterfrage führen, die dann wieder den Blick auf eine Lösung der Probleme erleichtern kann. Schließlich will ich darauf hinweisen, dass bei der Aufarbeitung der „Lehrverurteilungen" das umfangreiche Stück „Sakramente" bis heute noch weitgehend ungenutzt ist[7].

 

Man muss auch nüchtern betrachten, dass es in der Bearbeitung ökumenischer Probleme manchmal auch eine Ungleichzeitigkeit gibt. Manche Themen nehmen für Jahre viel Zeit in Anspruch, wie dies z.B. beim Projekt „Lehrverurteilungen" zwischen 1980 und 1986 der Fall war. Größere Untersuchungen, die in der Zeit vorher unternommen worden sind, lagen dann eher etwas brach und wurden nicht mehr mit größerer Aufmerksamkeit verfolgt. Dies ist kein Zeichen der Missachtung oder des Desinteresses, sondern es ist ein Zeichen dafür, dass die Umsetzung gewisse Ergebnisse auf allen Ebenen ihre Kapazitätsgrenzen hat. Als ein wichtiges Beispiel dafür nenne ich die Gemeinsame Untersuchung lutherischer und katholischer Theologen zum Augsburgischen Bekenntnis aus dem Jahr 1980, die viel zu wenig Beachtung gefunden hat.[8] Auch darf man die wichtigen Aussagen zur Person Martin Luthers im Zusammenhang des 500. Geburtstages im Jahr 1983 nicht vergessen.[9] Persönlich bin ich auch der Meinung, dass wir an verschiedener Stelle in den 70er Jahren im Blick auf die Thematik unterschiedlicher Konzeptionen der Ämter schon manche Studien durchgeführt haben, die man damals nicht weiter verfolgt hat (z.B. über Ordination, Presbyterat-Episkopat), weil eben ganz andere Themen auf die Tagesordnung kamen.

 

In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals daran erinnern, dass wir besonders in unserem Land im Lauf der letzten 30 Jahre nicht nur beträchtliche Fortschritte im Bereich der Glaubenslehre und damit der klassischen Kontroversthemen erreichen konnten, sondern dass wir auch mit der Übereinstimmung in Fragen der ethisch verantworteten Gestaltung unserer Gesellschaft eine zweite wichtige Säule geschaffen haben.[10] Sie umgreift ca. 25-30 Texte. Hier ist wirklich viel gemeinsames Profil geschaffen worden, das freilich in seiner Bedeutung meines Erachtens nicht genügend beachtet worden ist. Dazu gehören nicht nur die wichtigsten Studien zur Transplantation (Ethik der Transplantation, Xenotransplantation), sondern eine Reihe von grundlegenden Themen für unsere Gesellschaft: Staat und Kirche im Blick auf die europäische Union (1995), Die Herausforderungen durch Migration und Flucht (1997), Chancen und Risiken der Mediengesellschaft (1997), Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland (Sozialhirtenbrief, 1997), Gemeinsame Erklärung zur Reform der Alterssicherung (2000). In diesem Zusammenhang darf als letztes größere Dokument das Wort „Demokratie braucht Tugenden. Zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens" (2006) genannt werden.

 

Unter diesen Verlautbarungen darf die Gemeinsamkeit in Fragen der Bioethik nicht ungenannt bleiben. Dabei hat uns gewiss die Einführung der „Woche für das Leben" geholfen, die wir seit 1990 gemeinsam durchführen (vorher allein auf katholischer Seite). Ein Grunddokument für diesen gemeinsamen Einsatz zugunsten eines ungeteilten Schutzes des Lebens, besonders des menschlichen Lebens, war die gemeinsame Schrift „Gott ist ein Freund des Lebens", eine Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der DBK in Verbindung mit der ACK.[11] Dazu kommen zahlreiche Aussagen über die Sterbebegleitung in Auseinandersetzung mit Tendenzen zu einer aktiven Sterbehilfe, eine Stellungnahme zu den Chancen und Risiken der pränatalen und prädiktiven Diagnostik sowie der Präimplantationsdiagnostik.[12] Schließlich ist an dieser Stelle die Handreichung „Christliche Patientenverfügung" zu nennen, die seit 1999 eine Auflage von 1,6 Mio. Exemplaren hatte und in überarbeiteter Form vorliegt. In diesem Zusammenhang ist auch ein umfangreiches Dokument „Neuorientierung für eine nachhaltige Landwirtschaft" (2003) zu nennen.

 

Es darf freilich hier nicht verschiegen werden, dass wir in letzter Zeit im Blick auf diese Gemeinsamkeit in den bioethischen Verlautbarungen einen Riss verzeichnen müssen. Der Dissens betrifft vor allem die Haltung zur embryonalen Stammzellforschung und besonders zur Frage der Verlegung eines Stichtages. Ich kann diese Frage hier nicht ausführlicher behandeln. Wir sind und bleiben darüber in einem intensiven Gespräch.[13] Dabei ist nicht zu übersehen, dass es dabei auch beträchtliche Unterschiede und verschiedene Stimmen unter den evangelischen Kirchenleitungen gibt.[14] Angesichts der vielen Gemeinsamkeiten habe ich jedoch die Hoffnung, dass wir manche Missverständnisse beseitigen können. Es ist freilich möglich, dass es in der Frage der Kriterien einer christlichen Ethik noch zu weiteren Untersuchungen kommen muss. Es zeigt sich schon längere Zeit, dass die theologisch-wissenschaftliche Erörterung auf evangelischer Seite hier mehr Differenzen betont, als dies in der Zwischenzeit allgemein wahrgenommen worden ist. Dafür werden wir uns Zeit nehmen müssen. Die Gemeinsamkeit in der Bioethik ist zwar manchen ein Dorn im Auge, aber ein kostbarer Schatz, der gehütet und weiter entfaltet werden muss (dies gilt etwa auch für Einzelfragen zur Patientenverfügung).

 

Wir vergessen ja auch immer wieder schnell, was wir in der Zwischenzeit erreicht haben. Dies gilt z.B. für die Feier der Tauferneuerung und die Unterzeichnung der wechselseitigen Anerkennung der Taufe im Jahr 2007 im Dom zu Magdeburg, wo der älteste Taufstein nördlich der Alpen steht. Auch hier wird es nun darauf ankommen, dass wir diese Gemeinsamkeit stärker zur Vertiefung des Christseins nutzen und missionarisch zur Gewinnung neuer Christen einsetzen.

 

IV.

 

Ich komme noch einmal kurz auf die erwähnte neuerliche leichte Trübung des Verhältnisses zwischen der Evangelischen Kirche unseres Landes und der katholischen Kirche zu sprechen. Es kann hier gewiss nicht darum gehen, dass wir uns gegenseitig „Sündenregister" vorlegen, wenn sie überhaupt solche sind. Es ist freilich notwendig, sich die Frage zu stellen, was hinter einem gewissen Wandel der Grundstimmung stehen könnte, der sich für mich ungefähr bald nach der Jahrtausendwende bemerkbar gemacht hat (vgl. die Bevorzugung der „Lutherübersetzung" in ökumenischen Gottesdiensten sowie das Erscheinen von „Dominus Iesus"). Diese Grundstimmung ist nach dem Erscheinen der Erklärung der Glaubenskongregation zum Verständnis der Lehre über die Kirche vom 29. Juni 2007 - veröffentlicht am 10. Juli 2007 - (vor allem zum „subsistit" in LG 8) auf einen Tiefpunkt gefallen. Ich kann in diesem Zusammenhang nicht näher darauf eingehen.[15] Einige weitere Irritationen entstanden durch die Veröffentlichungen des Heiligen Stuhls zum erweiterten Gebrauch der vorkonziliaren Liturgie und zur Neufassung des Karfreitagsgebetes für die Juden innerhalb dieser Gemeinschaften. Hier hat es zweifellos neben Missverständnissen und Ungeschicklichkeit unsererseits auch manche Fehlinterpretationen gegeben. Umso gründlicher muss den Ursachen eines gewissen Stimmungswandels nachgegangen werden.

 

Ich sehe gewisse Probleme im Zusammenhang der Identität und des eigenen Profils, das jede Kirche hat. Wenn in der ökumenischen Arbeit und auf dem Weg zur Einheit der Kirche immer mehr Gemeinsames erkennbar und gewonnen wird, wird auch stärker - solange die Kirchen getrennt sind - die Frage auftauchen, ob denn das eigene Profil nach innen und nach außen genügend gewahrt und wahrnehmbar bleibt. Es ist ein legitimes Anliegen, das Proprium und das eigene Profil zur Geltung zu bringen. Das Identitätsproblem ist auch in anderer Hinsicht eine legitime Frage: Man muss zweifellos auch aufmerksam sein, dass die notwendige Gemeinsamkeit nicht wie ein kleinster gemeinsamer Nenner erscheint, der am Ende alle ärmer macht, weil er die jeweiligen Reichtümer der einen oder anderen Konfession in den Hintergrund drängt. Solange keine wirkliche Einheit gefunden ist, lässt sich wohl auch irgendeine Form von Konkurrenz zwischen den Kirchen nicht völlig vermeiden. Es kann auch durchaus unter den Konfessionen eine Art friedlichen Wettbewerbs geben, wenn dies dem Wachsen des Christlichen in unserer Gesellschaft dient.

 

Aber es ist auch hermeneutisch, zumal in einer Mediengesellschaft, nicht so leicht, das gemeinsam Erworbene festzuhalten und zugleich die eigene Identität zu profilieren. Dies geht erfahrungsgemäß nicht selten auf Kosten der Gemeinsamkeit. Man sieht dies ja auch sehr deutlich bei der Identitätsstärkung junger Menschen, die letztlich auch nicht ohne Konflikte im Sinne einer Abhebung von der Mit- und Umwelt erfolgt. Nun befindet sich natürlich die Ökumene nicht in einem notwendigen Stadium der Pubertät, aber sie muss die Frage, wie sich diese Profilierung vollzieht, selbstkritisch reflektieren. Die Identitätssuche geht nämlich leicht im Stil einer Abgrenzung gegenüber den anderen Partnern vor sich und ist immer auch in Gefahr, zu einer gewissen Überhöhung der eigenen Reichtümer und Schätze zu werden. Wie man das Gemeinsame bewahrt und zugleich das unverwechselbar Eigene hervorheben und gar steigern kann, ist doch recht schwierig. Darauf habe ich schon vor einiger Zeit aufmerksam gemacht.[16] Und wenn dies im Stil von Wettbewerb und Konkurrenz - dazu noch in unserer Mediengesellschaft - geschieht, dann braucht man eine differenzierte und sensible Spiritualität und Hermeneutik ökumenischer Beziehungen, damit es nicht zu problematischen Formen kommt, z.B. des Verdrängens des anderen und der Selbstüberschätzung.

 

Ich möchte nicht missverstanden werden: Jedes institutionelle Gebilde braucht Identität und muss sie bezeugen, entfalten und auch, wenn nötig, verteidigen. Dies gilt erst recht im Glauben. Aber es kommt darauf an, wie man dies tut. Wir müssen miteinander und voneinander lernen, wie dies geschehen könnte. Hier möchte ich einige Probleme kurz skizzieren, die angesprochen werden müssen, aber in diesem Vortrag nicht tiefer behandelt werden können.

 

In der Ökumene ist die ökumenische Methode wichtig. Darüber muss immer wieder auch generell und im konkreten Arbeitsvorgang reflektiert und diskutiert werden. So dürfen wir m.E. die Suche nach einem „differenzierten Konsens" nicht preisgeben. Es gab und gibt gewiss Beispiele, wie diese Suche vielleicht nicht immer streng genug verfolgt worden ist. Aber die jahrelange Polemik einiger Leute gegen die so genannte „Konsensökumene" hat ja nicht zu besseren Instrumenten und Verfahren geführt. Dies gilt auch und gerade für das neuerdings propagierte „Differenz-Modell"[17]. Wir haben mit der Suche nach einem „differenzierten Konsens" vieles Gemeinsame wiederentdeckt. Auch die Feststellung von Teilkonsensen und von Konvergenzen ist und bleibt m.E. auf dem Weg zu einer verantwortlichen Erkenntnis bisher unersetzbar. Dies gilt gerade auch angesichts des Umgangs mit den Lehrverurteilungen[18]. Offensichtlich ist das, was „Differenz-Modell" genannt wird, noch nicht ausreichend geklärt, vor allem auch im Kontext der jahrelangen Diskussion um eine so genannte „Grunddifferenz", ein Gedanke, den schon sehr früh G. Ebeling aufgegriffen hatte.
 

Ich habe trotz einer immer noch umfassenden ökumenischen Literatur den Einruck, dass die Ergebnisse der Ökumenischen Theologie, aber auch der Ökumenischen Gesprächskreise, gerade wenn sie differenziert sind, weniger Beachtung finden. Vielleicht existierten auch einmal überzogene Erwartungen, besonders im Blick auf die Möglichkeiten der Befassung in den Gemeinden. Aber auch viele Verantwortliche in den Kirchenleitungen haben aus manchen Gründen die Entwicklung der Ökumenischen Theologie und der Gesprächsergebnisse faktisch wenig verfolgt oder gar ignoriert. Dies gilt auch für viele Fachkollegen, sofern sie nicht eigens Ökumenische Theologie treiben. Die Situation nach der Rechtfertigungsvereinbarung von 1999 hat dafür die Augen öffnen können.
 

Wir sind nicht selten heute in Gefahr, eine Ökumene ohne theologischen Tiefgang zu betreiben. Dann belässt man es auch leicht bei den üblichen Forderungen an den ökumenischen Partner. Man hat dann selbstverständlich auch das Gefühl, es herrsche ein Stillstand, obgleich dies gar nicht so ist.

 

Damit hängt eng zusammen, dass ich oft das Gefühl habe, wir verharrten in einer ökumenischen Immobilität. Gerade der geistliche Ökumenismus, etwa der Gruppe von Dombes und von Taizé, erinnert uns immer daran, dass wir auf dem Weg der Ökumene umkehren müssen und wirklich auch nach vorne hin je auf unsere Weise und gemeinsam spirituell wachsen. Dies kann und wird gewöhnlich auch in kleinen Schritten geschehen.[19] Wir haben aber nach meiner Einschätzung eine abnehmende Veränderungsbereitschaft. Es ist notwendig, gerade angesichts der Erinnerung an die Einführung der Gebetswoche für die Einheit der Christen vor 100 Jahren daran zu erinnern. Hier ist und bleibt die Gruppe von Dombes vorbildlich und exemplarisch.[20] Man fordert immer stärker eine wechselseitige Anerkennung, die eine sofortige Beendigung aller Trennungen verlangt. Es ist eine gewisse spirituelle Weigerung: „Du musst mich so annehmen, wie ich bin." Das ist gewiss wichtig für die Ausgangssituation, wo nur Gleiche mit Gleichen, die sich auch so anerkennen, miteinander in einen Dialog kommen können. Aber dann ist auch klar, dass man auf diesem Weg und in diesem Prozess durch den anderen und mit ihm lernen kann und muss. Mit dem Theologieverlust und dem Schwächerwerden der ökumenischen Impulse gibt es auch eine abnehmende Veränderungsbereitschaft.
 

Wenn diese Feststellungen stimmen, geben sie zu denken. Dann müssen wir uns auch fragen, ob wir auch von Amtswegen eine genügende ökumenische Dynamik schaffen oder uns kräftig einsetzen, damit die Suche nach mehr Einheit lebendig bleibt. Vielleicht finden die immer wiederholten Vorwürfe, die Ökumene leide am meisten unter den untätigen Kirchenleitungen, hier ein Körnchen Wahrheit. Wenn die Spannung überdehnt oder gar nicht genützt wird, verläuft sie im Flachen. Im Übrigen gibt es auch einen Kairos der ökumenischen Arbeit. Es ist nicht sicher, dass einmalige Situationen, die uns geschenkt werden, jederzeit wieder herbeigerufen werden können. Wir leben immer noch in einem solchen günstigen Augenblick. „Kauft die Zeit aus", gilt auch hier.

 

Auch wenn man diese momentanen Probleme aufrichtig beim Namen nennen muss, so darf dies keine ökumenische Missstimmung hervorrufen oder, wenn sie schon da ist, legitimieren. Wir werden auch diese Probleme Schritt für Schritt abzubauen versuchen und ehrlich, auch wenn es länger dauert, einer Lösung entgegenführen. Es gibt keine Alternative vor allem zu dem Gebot des Herrn, dass wir mit allen Kräften Trennungen, wo es notwendig und möglich ist, überwinden und die zerbrochene Einheit wieder suchen und finden.[21]

 

V.

 

Wir haben zwar einen weiten Radius abgeschritten, haben aber noch keine großen Schritte ins Weite gemacht. Bevor man dies tut, muss man aber im Sinne des eingangs Gesagten den eigenen Standort kennen. Es wäre ja sehr unfruchtbar, wenn wir bereits Erworbenes durch Vergessen preisgeben oder wenigstens verdrängen würden. Das Gute liegt auch hier so nahe, dass wir nicht einfach in die Ferne schweifen dürfen. Dies meint der Psalmist und damit natürlich auch das Leitwort des Katholikentags nicht. Vieles, was erarbeitet worden ist, ist noch nicht rezipiert. Es gehört also auch zu unserer Zukunft, dass wir es uns aneignen.

 

Doch wollen wir selbstverständlich in die nähere Zukunft blicken und uns damit auch in die Weite führen lassen. Dafür gibt es in der Tat wichtige Schritte und Daten, die uns auch tiefer in die Ökumene hineinführen können. Zuerst denke ich dabei an den Zweiten Ökumenischen Kirchentag 2010 in München. Dieser Osnabrücker Katholikentag ist mit dem kommenden Evangelischen Kirchentag in Bremen so etwas wie eine Brücke in das Morgen hinein. Am Horizont steht aber auch ein Thema, das uns von nun an intensiver beschäftigen wird, nämlich die 500. Wiederkehr des Ausbruchs der Reformation 1517/2017. Vielleicht werden wir Katholiken zum ersten Mal in der - von der Ökumene her gesehen - gewiss nicht so einfachen Abfolge dieser Reformationsjubiläen dabei eine wichtige Rolle mitübernehmen, auch wenn wir nicht Veranstalter sind. Dann könnte auch ein solches Jubiläum ökumenisch sehr viel weiterführen. Wir sind bereits in Gesprächen, wie wir uns beteiligen könnten.

 

Eine wichtige Grundfrage wird sein, wie wir die Reformation überhaupt und im besonderen auch die Person Luthers und der anderen Reformatoren einschätzen. Wir kennen natürlich eine gerade in die Moderne immer wieder mit Vorrang behandelte Perspektive, dass nämlich gerade der Ausbruch der Reformation als die Morgenröte einer neuen Zeit und als Geburt wahrer Freiheit verstanden wird. Wenn über die Reformation gesprochen wird, ist dies bis heute ein Hauptthema der Rede über die Reformation. Ich will diese Perspektive selbstverständlich weder leugnen noch geringschätzen. Aber es kann eine Hilfe sein, wenn in neuerer Zeit andere thematische Schwerpunkte die bisherige Sicht grundlegend ergänzen. Dabei geht es auch darum, dass Luther heute auch sehr viel stärker im Gesamtkontext der spätmittelalterlichen Geschichte und Kirche gesehen wird. Dies gilt z.B. besonders für die Mystik, aber auch für das Verhältnis zum monastischen Erbe, ja auch zur spätmittelalterlichen Theologie.[22] Dabei geht es jedoch grundlegend um das Verhältnis Luthers und der reformatorischen Kirchen zur umfassenden einen Kirche durch die Jahrhunderte. Dies ist insgesamt eine erstaunlich wenig behandelte Frage.[23] Es genügt nicht nur der Blick, der in der Reformation die Initialzündung zur Moderne sieht, auch nicht nur eine elementare und ursprüngliche Wiederentdeckung des Paulinismus erblickt, sondern es geht um diese Einfügung in die ganze Kirche mit ihrer vollen Tiefe und Breite. Mehr als eine Andeutung kann dies freilich nicht sein. Im Übrigen können eine stärkere Beschäftigung mit der Gemeinsamkeit in der Auffassung der Grundlegung des christlichen Lebens in Glaube und Taufe und ein stärkeres Bemühen um den Gottesdienst, einschließlich des Sonntags und der Sonntagsheiligung (mit Gottesdienstbesuch!) wichtige Elemente und Konsequenzen dieses Weges in die Zukunft sein.[24]

 

VI.

 

Wie soll es weitergehen? Zunächst einmal müssen wir offen und aufrichtig die Situation bedenken. Ökumenische Gewissenserforschung tut Not. Aber dann müssten wir auch endlich intensiver die Themen angehen, die wir schon seit längerer Zeit immer wieder umgehen, wenngleich durchaus in der Ökumenischen Theologie einiges geschieht. Die Bewegungsform des Fortschritts in der Ökumene muss auch mehr Beachtung finden. Wenn bestimmte Einsichten in anderen Kontexten und Regionen bestätigt werden können, ist dies kein Leerlauf oder ein Stillstand, sondern es ist eine wichtige Form der Vergewisserung und der größeren Konsensfindung. Dazu gehören eben nun auch einmal Kirche und Kirchesein, in diesem Kontext auch die Ämter und die Sakramente, das Verhältnis von Offenbarung bzw. Kirche und Recht, besonders Kirche und Rechtfertigung. Es wird aber auch Zeit - ich habe dies schon gesagt und wiederhole es -, dass wir uns mit einem zentralen Thema beschäftigen, das am Anfang unserer Existenz steht, und das wir gemeinsam sträflich vernachlässigen, nämlich Christwerden durch Glauben und vor allem auch Taufe. Dieses Thema hat viele Aspekte, die heute ganz besonders dringend sind. Die erwähnte Feier der Taufanerkennung vom 29. April 2007 in Magdeburg ist dabei eine große Hilfe.

 

Im Lauf der letzten Jahre ist mir immer wieder ein wichtiges Grundgesetz des ökumenischen Miteinanders in den Sinn gekommen. Gerade wenn man das eigene Profil stärker betont, wie es auch z.B. durch die Hervorhebung der Luther-Übersetzung der Bibel geschieht, gibt es ein gutes Kriterium, nämlich ob wir uns freuen können an der Stärke des anderen, nicht nur an Bach, sondern am Wiedererstehen der Frauenkirche in Dresden. Aus dieser Anerkennung des anderen und vielleicht zuerst oder manchmal auch auf längere Strecke Fremden, wird echte und nachhaltige Gemeinschaft, die uns im Geist Jesu Christi enger zusammenführt.[25] Für mich ist eine ernsthafte Fortsetzung des Austausches zwischen uns das Gebot der Stunde, nicht allein die „Ökumene der Profile". Es gibt aber auch große gemeinsame Gestalten, die uns auf dem Weg begleiten, wie z.B. Roger Schutz, dessen tragischer Tod uns nicht von seinen bleibenden Impulsen trennen darf. In diesem Zusammenhang möchte ich auch das große ökumenische Vermächtnis der beiden großen Blutzeugen unserer Kirchen aus nationalsozialistischer Zeit in Erinnerung bringen, nämlich Dietrich Bonhoeffer und Alfred Delp.[26]

 

Es bleibt das Gebet für die Einheit. Nichts ist wichtiger als die gemeinsame Fürbitte an den Herrn. Der einstige Generalsekretär der Bewegung für Glaube und Kirchenverfassung, Oliver Tomkins, hat es einmal so formuliert: „Selbst angesichts der tiefen Spaltungen ... finden die Herzen vieler Christen ihre tiefste Gewissheit, dass der Pfad zur Einheit nicht für immer verschlossen sein wird, in der Tatsache, dass das ernste Gebet in diesem Geiste bereits ein wachsendes Heer in allen Konfessionen vereinigt. Andere Waffen mögen stumpf werden, aber niemand kann die Wirksamkeit dieser Waffe des selbstverleugnenden Gebetes bezweifeln, auch wenn wir ihre Wirkung nicht ermessen können."

 

Dies gilt aber nicht nur für feierliche, seltene ökumenische Gottesdienste, sondern für den Alltag und die Normalität unseres Lebens. Es gibt vieles, was wir sofort könnten und was nicht verboten ist. Ich denke an eine gemeinsame Lesung der Heiligen Schrift, gerade auch im Blick auf den Alltag des Glaubens. Warum schweifen wir oft in die Weite, wo das Gute doch so nahe liegt? Warum nutzen wir nicht auch das, was sofort und ohne Konflikt angepackt werden kann. Ökumene ist nichts Extravagantes, sondern muss intensiv den Alltag beherrschen.

 

Am Schluss mag noch eine kleine Überlegung stehen, die mich immer wieder beschäftigt, auch wenn ich sie selten oder gar nicht öffentlich ausgesprochen habe. Ich habe in den Jahrzehnten seit dem Konzil und seit einer intensiveren Beschäftigung mit ökumenischen Fragen, nämlich seit 40 Jahren, bei nicht wenigen großen Lehrern und Freunden aus der eigenen Kirche und der Ökumene die Klage vernommen, warum es denn nicht zu ihren Lebzeiten möglich sei, die Einheit der Kirche zu verwirklichen. Sie haben viele Schuldige für diese Verzögerung gesucht. Ich muss gestehen, dass ich diese „Naherwartung" nicht hatte, auch wenn ich den Einsatz für das Zusammenwachsen der Kirchen für eine ganz vordringliche Aufgabe halte. Ich habe dann immer wieder gesucht und gefragt, ob ich nicht zu träge bin oder nicht mehr genügend Schwung der Hoffnung habe. Beim Nachdenken bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass es verschiedene Stile und Gestalten ökumenischer Hoffnung gibt. Darum bin ich auch überzeugt, dass man diese Pluralität der verschiedenen Hoffnungsformen achten muss. Dabei denke ich vor allem an die Gestalt des Mose, der dem verheißenen, gelobten Land entgegenwandert. Er hat für sein Volk alles getan, um es zur Erfüllung dieser Verheißung zu führen. Aber er konnte dieses gelobte Land nicht mehr betreten. Vorher zeigte ihm der Herr das verheißene Land vom Gipfel des Nebo her: „Ich habe es dich mit deinen Augen schauen lassen. Hinüberziehen wirst du nicht. Danach starb Mose, der Knecht des Herrn." (Dtn 34,3 f.). Dies ist gewiss auch in der Zeit des neuen Bundes und der Kirche eine wichtige Gestalt der Hoffnung und der Einlösung der Verheißungen.

 

(c) Karl Kardinal Lehmann
 


 

[1] Vgl. auch Ps 31,9: „Du hast mich nicht preisgegeben der Gewalt meines Feindes, hast meinen Füßen freien Raum geschenkt."

[2] Vgl. dazu das Buch von R. Brandt, Lasst ab vom Ablass, Göttingen 2008; zur Sache immer noch D. Sattler, Aufgebrochen. Theologische Beiträge, Mainz 2001, 111-137, auch in: Catholica 54 (2000), 14-38 (Ablass-Streit in neuer Zeit).

[3] Dazu K. Lehmann, Zuversicht aus dem Glauben, Freiburg i. Br. 2006, 205-219.

[4] Vgl. auch in dieser Hinsicht das später noch zu nennende Buch von U. Kühn, Anm. 21.

[5] Vgl. K. Lehmann, Einig im Verständnis der Rechtfertigungsbotschaft? Erfahrungen und Lehren im Blick auf die gegenwärtige ökumenische Situation = Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz 19, Bonn 1999 (im Anhang auch Texte und Literatur); jetzt auch in: K. Lehmann, Zuversicht aus dem Glauben, 289-312.

[6] Beispielhaft neu durchgearbeitet wurde die Formel „Gerecht und Sünder zugleich", vgl. Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische Klärungen, hrsg. von Th. Schneider und G. Wenz = Dialog der Kirche 11, Freiburg i. Br./Göttingen 2001, vgl. dazu den Abschlussbericht: 400-456. Ein ähnliches Beispiel, das noch stärker aufgearbeitet werden muss, ist die Frage nach der „Heilsgewissheit", die durchaus auch und gerade in Zusammenhang der Grundfrage „Kirche und Rechtfertigung" noch Zündstoff enthält. Vgl. dazu J. Rahner, Rechtfertigung und Kirche, Freiburg i. Br. 2005.

[7] Lehrverurteilung - kirchentrennend? I. Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, hrsg. von K. Lehmann/W. Pannenberg = Dialog der Kirchen 4, Freiburg i. Br. 1986 u.ö., 77-156.

[8] H. Meyer/H. Schütte (Hg.), Confessio Augustana. Bekenntnis des einen Glaubens. Gemeinsame Untersuchung lutherischer und katholischer Theologen, Paderborn/Frankfurt 1980.

[9] Vgl. z.B. Gemeinsame römisch-katholische/evangelisch-lutherische Kommission, Einheit vor uns, Paderborn 1985, 86 ff.

[10] Vgl. dazu K. Lehmann, Ökumenische Sozialethik? Ein Werkstattbericht aus der Kooperation der Kirchen, in: Ökumene wohin? Bischöfe und Theologen entwickeln Perspektiven, hrsg. v. B. J. Hilberath und J. Moltmann, Tübingen/Basel 2000, 123-133. - Die Texte sind, von den ersten gemeinsamen Erklärungen abgesehen, erschienen in einer eigenen gemeinsamen Reihe von EKD und DBK „Gemeinsame Texte", bisher Nr. 1-19.

[11] In verschiedenen Auflagen Gütersloh/Trier 1989 u.ö., Sonderausgabe 2000 aus Anlass zehn Jahre Woche für das Leben.

[12] Gemeinsame Texte 11, Hannover/Bonn 1997.

[13] Vgl. dazu die epd-Dokumentation „Stammzellforschung" Nr. 7 vom 12. Februar 2008.

[14] Zur Darstellung der katholischen Position vgl. K. Lehmann, Im Zweifel für das Leben. Embryonenschutz ist keine Frage des Stichtags, in: Die Zeit 63 (2008) Nr. 4 v. 17. Januar 2008, 10; italienisch: Nel dubbio scelgliere sempre la vita, in: Liberal, 13 (2008) Nr. 66 v. 11. April 2008, 20.

[15] Vgl. dazu: Zum Selbstverständnis des Katholischen. Zur theologischen Rede von Kirche. Eröffnungs-Referat bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 24. September 2007 in Fulda (im Druck).

[16] Vgl. K. Lehmann, Was bedeutet Ökumene der Profile?, in: epd-Dokumentation Nr. 24/2006, v. 13. Juni 2006, Frankfurt a.M., 11-16; auch als Internetpublikation der Melanchton-Akademie: http://www.melanchthon-akademie.de/fileadmin/download/Vortraege/06Lehmann.pdf, auch mit dem Titel „Ökumene wohin?", in: KNA Dokumente, August 2006, Bonn, 4-8 (der Vortrag gehört ursprünglich in ein Symposion der Evangelischen Kirche im Rheinland zwischen Bischof Dr. Wolfgang Huber und mir am 29. Mai 2006 in Düsseldorf).

[17] Vgl. U. H. J. Körtner, Wohin steuert die Ökumene? Vom Konsens- zum Differenzmodell, Göttingen 2005.

[18] Vgl. dazu die Darlegungen von W. Pannenberg, K. Lehmann, R. Schaeffler, G. Wenz, H. H. Esser und E. Iserloh im Kapitel „Zur Neubewertung der Lehrverurteilungen", in: Lehrverurteilungen - Kirchentrennend? Materialien zu den Lehrverurteilungen und zur Theologie der Rechtfertigung, hrsg. von K. Lehmann = Dialog der Kirchen 5, Freiburg i. Br./Göttingen 1989, 17-170, darin mein Beitrag 32-58.

[19] Diese heute zentrale Dimension kann hier nur gestreift werden, vgl. dazu P. Th. Camelot, La spiritualité du baptême, 2. Auflage, Paris 1993. P.-W. Scheele, Ein Leib - ein Geist. Einführung in den geistlichen Ökumenismus, Paderborn 2006, 78 ff.; W. Kard. Kasper, Wegweiser Ökumene und Spiritualität, Freiburg i. Br. 2007, 49 ff.; M. Campatelli, Il battesimo, Roma 2007.

[20] Vgl. nur Groupe des Dombes. „Un seul Maître" (Mt 23,8), Paris 2005. Pour la communion des Églises. L´apport du Groupe des Dombes (1937-1987), Paris 1988; Pour la conversion des Églises, Paris 1991. Vgl. ganz besonders die Ausführungen des Vaters der Gebetswoche für die Einheit P. Couturier, Prière et unité Chrétienne, Testament oecuménique, Paris 2003.

[21] In dieser Situation finde ich in dem kleinen Buch von U. Kühn, Zum evangelisch-katholischen Dialog. Grundfragen einer ökumenischen Verständigung = Forum ThLZ.F 15, Leipzig 2005, eine ausgezeichnete Hilfe für alle angesprochenen Fragen.

[22] Vgl. dazu B. Hamm/V. Leppin (Hg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther = Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 36, Tübingen 2007; Chr. Bultmann/V. Leppin und A. Lindner (Hg.), Luther und das monastische Erbe = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 39, Tübingen 2007; V. Leppin, Martin Luther, Darmstadt 2006. Ich verweise auf die gewiss noch nicht abgeschlossene Diskussion zu diesem für die Zukunft des ökumenischen Verständnisses von Martin Luther wichtigen Buch, vgl. auch A. Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 19 ff., 36 ff., 482 ff.

[23] Vgl. dazu meinen in Anm. 15 genannten Beitrag, der freilich nur vorläufig sein kann.

[24] Für eine erste Konkretisierung vgl. mein Grußwort beim EKD-Zukunftskongress am 25. Januar 2007 in Wittenberg, das freilich in dieser Hinsicht so gut wie kein Echo fand.

[25] Dazu auch U. Kühn, Zum evangelisch-katholischen Dialog, 77 ff.

[26] Zu A. Delp vgl. K. Lehmann/M. Kißener, Das letzte Wort haben die Zeugen. Alfred Delp (1907-1945), Mainzer Perspektiven, Orientierungen 6, Mainz 2007 (Lit.).

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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