„Aufklärung" und „Vertuschung"

Zu zwei Schlüsselworten der gegenwärtigen Missbrauchsdebatte

Datum:
Samstag, 6. März 2010

Zu zwei Schlüsselworten der gegenwärtigen Missbrauchsdebatte

Gastkommentar „Auf ein Wort", in: Glaube und Leben, Kirchenzeitung für das Bistum Mainz 66 (2010) Nr. 10 v. 7. März 2010, 9

Um von vornherein Klarheit zu schaffen: Jeder Missbrauch gegenüber Kindern und Jugendlichen ist, wo immer er geschieht, ohne Wenn und Aber zu verabscheuen, er ist wirklich ein Verbrechen, ein schweres Vergehen, in diesem Sinne auch eine schwere Sünde. Dadurch, dass ein solches Vergehen völlig unvereinbar ist mit Kirche, der in ganz besonderer Weise junge Menschen anvertraut werden, schadet es zusätzlich ihrer Glaubwürdigkeit nach innen und nach außen.

Unter dieser Voraussetzung möchte ich im Blick auf die Debatte der letzten Wochen zwei Stichworte herausgreifen, die einer Klarstellung bedürfen: Der Wille der Kirche zur „Aufklärung" und der Vorwurf eines sogar systematischen „Vertuschens".

Wille zur Aufklärung: Seitdem die Wissenschaft die „Pädophilie" klar von anderen Verhaltensweisen im sexuellen Bereich abgegrenzt und in sich selbst zu erfassen gelernt hat, weiß man besser, dass es bei entsprechenden Vergehen nicht um einmalige moralische „Ausrutscher" geht, sondern dass dahinter eine schwer aufklärbare und schwierig zu therapierende Verhaltensweise steht. Man muss sie viel ernster nehmen, als es früher möglich war. Darum ist auch ein bloßes „Versetzen" von Tätern schlechterdings nicht erlaubt.

Die katholische Kirche gerade auch unseres Landes hat sich seit mehr als 20 Jahren immer wieder um diese Aufklärung bemüht. Sie hat einen von weltweit anerkannten Experten veranstalteten Kongress zur Pädophilie, wie er erstmals stattfand, und zwar im April 2003 im Vatikan, gefördert und auch die Veröffentlichung der Akten in englischer Sprache unterstützt. Als erste gesellschaftliche Gruppe haben wir „Leitlinien" für den Umgang mit Opfern und Tätern formuliert (2002) und sie mit Experten nach den ersten Erfahrungen zweimal überprüft (2005 und 2008). Dabei ergaben sich nur geringfügige Änderungen. Dies schließt freilich eine regelmäßige Revision nicht aus.

Es ist also barer Unsinn zu behaupten, die katholische Kirche habe keinen überzeugenden Willen zur Aufklärung.

Vertuschen: Wer uns eine mangelnde Aufklärung vorwirft, ist nicht selten auch rasch bereit, der Kirche „Vertuschen" vorzuwerfen. Wenn damit gemeint ist, dass man absichtlich Unrecht zudeckt und verbirgt, muss man den Beweis dafür erbringen. Früher hat es vielleicht, auch durch Unkenntnis und Unterschätzung, eine Verharmlosung oder gar Verniedlichung in ein-zelnen Fällen gegeben. Von heute aus mag dies als eine Form des unverantwortlichen Umgangs mit solchen Vergehen erscheinen. Heute, wo wir in vieler Hinsicht mehr wissen, ist dies in jedem Einzelfall unerlaubt. Es muss ohne Ansehen der Person eine lückenlose Aufklärung erfolgen.

Ganz besonders schlimm finde ich aber nun den Vorwurf, der in den letzten Wochen öfter erging, es handele sich beim Verhalten der Kirche um ein geradezu systemisches bzw. systematisches „Vertuschen". Dies ist eine ganz und gar unberechtigte Unterstellung, weil sie nicht nur den Unwillen zu einer Aufklärung annimmt, sondern weil sie auch ein regelrechtes Unterdrücken erkannten Unrechts voraussetzt. Dies steht in eklatantem Gegensatz zu dem, was wir an Aufklärung theoretisch und praktisch beigetragen haben. Ein solcher Vorwurf erfüllt den Tatbestand der Verleumdung. Dabei kommen dann auch manche ungeprüften Vorurteile an den Tag, nicht zuletzt die Beurteilung des Verhältnisses von Kirche und Sexualität, Zölibat und Sexualität.

Leider wird in diesem Zusammenhang, obgleich wir es immer wieder gesagt haben, etwas verschwiegen, was in Wirklichkeit ein großes Gewicht hat: Die Verantwortlichen in der Kirche tappen gegenüber Vermutungen und Gerüchten oft über lange Zeit im Dunkeln. Ich weiß nach bald 27 Jahren der Verantwortung als Bischof, wovon ich rede. Es ist mir in einigen Fällen trotz vielfacher Versuche meiner Mitarbeiter und von mir selbst, auch bei sehr eindringlichen Gesprächen mit möglicherweise Betroffenen, nicht gelungen, zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen. Ich habe auch früh von Experten zur Kenntnis genommen, dass im Bereich der Pädophilie eine extrem lang dauernde Leugnung von Vergehen zum Symptom gehört. Trotz aller Bemühung fehlte lange Zeit die nötige Klarheit.

Schließlich muss man in einer solchen Situation, gerade auch wenn man in amtlicher Verantwortung steht, einem Menschen bei allen Verdachtsmomenten bis zum Beweis des Gegenteils Glauben und Vertrauen schenken. Dies ist etwas völlig anderes als „Vertuschen". Ich bin auch ethisch und rechtlich gehalten, niemanden nach innen und nach außen zu verurteilen, wenn ich keine Schuld erkennen kann. Dies wird sehr oft vergessen. Dieser Schutz der Person gilt auch im Umgang mit Behörden, nicht zuletzt den Staatsanwaltschaften.

Dennoch sind wir auch bei dieser Unsicherheit nicht untätig, naiv und blauäugig geblieben. Ich habe z.B. jemandem, dem ich nicht ganz trauen konnte, keinen Zugang zur Schule gewährt, weil ich in den Grenzen des Möglichen auch jede Gefahr von Kontakten vermeiden wollte.

Diese Dinge sind nicht neu. Ich jedenfalls habe sie seit vielen Jahren immer wieder, auch öffentlich, zum Ausdruck gebracht. Ich bin überrascht, warum nicht wenige diese schlichten Tatsachen nicht zur Kenntnis nehmen. Es macht mich in diesen Wochen manchmal traurig, wie viel Unwillen zu wahrer Aufklärung in diesem Bereich existiert und welche alten, manchmal sogar feindseligen Vorurteile ein zähes Leben haben.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz