„Bei euch soll es nicht so sein“

Vom Umgang mit der Macht (Mk 10,32-45)

Datum:
Donnerstag, 22. September 2005

Vom Umgang mit der Macht (Mk 10,32-45)

Am gewaltsamen Tod der Koreanischen Märtyrer, die wir heute feiern, sehen wir das Ausmaß von Gewalt, die immer wieder auf die Christen eingebrochen ist. Heute geht es um den ersten koreanischen Priester Andreas Kim Taegon und den Laien Paul Chong Hasang. Wir wollen aber auch die 103 Gefährten nicht vergessen, die mit den Tod fanden. Auch hier hat sich die alte Einsicht bewahrheitet: sanguis martyrum – semen christianorum. Aus dem Blut der Märtyrer erwächst der Samen für die Christen. Macht und Ohnmacht bilden ein zunächst sehr verwirrendes Bild.

Das Evangelium aus dem zehnten Kapitel des Markus-Evangeliums ist hier wie ein schriller Schrei. Man mag am Anfang richtig erschrecken, denn mit großer Nüchternheit erzählt das Evangelium, dass es auch unter den Jüngern Jesu einen Rangstreit gegeben hat (vgl. schon Mk 9,33-37 und Lk 22,24-27). Die Bitte der beiden Zebedäus-Söhne um einen Platz an der Seite Jesu in seinem Reich (vgl. Mk 10,41-45; Mt 20,24-28) zeugt von dem Machtstreben und dem Geltungsdrang auch unter den Jüngern. Auch die Leidensankündigung Jesu (vgl. Mk 10,32-34) hat daran nichts geändert. Jakobus und Johannes sind ja außerdem frühberufene (vgl. Mk 1,18f.) und bevorzugte Jünger (vgl. 5,37; 9,2). Auch wenn die zehn anderen sich über das Vordrängen der beiden ärgern, so sind sie selbst immer wieder ähnlichen Versuchungen ausgesetzt.

Jesus hat die Jünger schon beim ersten Rangstreit gemahnt: „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.“ (9,35) Er beschämt sie durch ein Kind, das er in ihre Mitte stellt. Jetzt wird Jesus noch sehr viel energischer: „Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.“ (10,42f.) Es ist ein außerordentlich scharfer Kontrast, der die Jünger Jesu überaus klar und entschieden von den Herrschern dieser Welt und ihren Methoden unterscheidet, ja geradezu trennt. Dieses Wort ist Jesus und der Urkirche so wichtig, dass es in nur wenig abgeänderter Form in den Evangelien fünf Mal überliefert ist (vgl. Mk 10,44; 9,35; Mt 20,26; 23,11; Lk 22,26).

Dieses scharfe Wort Jesu könnte als ein grundsätzliches Verdikt über jede Herrschaft und alle Macht verstanden werden. So ist es auch oft gedeutet worden. Aber dies können wir nicht ohne weiteres unserem Text entnehmen. Da ist eher von „Missbrauch“ die Rede (Mk 10,42). Macht als innerster Kern von Herrschaft ist immer umstritten und umkämpft. Viele Menschen wollen Macht; andere genießen ihre Macht. Wieder andere leiden unter ihrer Ohnmacht. Menschen, die Macht ausüben, scheuen manchmal vor ihr zurück und empfinden sie als Last. Viele lassen sich korrumpieren und missbrauchen ihre Macht. Mancher will gar nicht wahrhaben, dass er Macht hat und auch ausübt. Einige verteufeln die Macht als Ausbund des Bösen; manche vergötzen sie geradezu. Durch Macht wird Leid zugefügt. Manchmal ist sie auch ein Segen. Sie ist zutiefst ambivalent.

Was ist Macht? Ursprünglich bedeutet das Wort in unserer Sprachgeschichte: „kneten, einen Teig machen“, dann aber auch „können“, „vermögen“. Wer einen Teig knetet macht ihn dadurch gleichartig und zwingt ihn auch oft in eine Form. Auf diese Eigenschaft hin hat Max Weber den neuzeitlichen Machtbegriff folgendermaßen bestimmt: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleich viel, worauf diese Chance beruht.“ Karl Rahner hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es viele Mittel gibt, Macht zu erwerben, zu sichern und zu steigern. Wer Macht ausübt, greift in der Regel in die Freiheitsrechte anderer ein. Aus seiner Freiheit zwingt er den Mitmenschen auf, was sie in vielen Fällen gar nicht wollen.

Entgegen manchem Anschein muss man jedoch sagen, dass Macht zunächst gut ist. Es ist anzuraten, Macht anzunehmen und sie auch auszuüben. Es ist nicht gut, Macht zu leugnen, wenn man sie hat, und es ist ganz schlecht, sie nicht auszuüben, wenn man dennoch die Verantwortung dafür hat. Mit Recht sagt darum P. Stefan Kiechle SJ zum Umgang mit Macht: „Nehmen Sie Ihre Macht an und üben Sie sie aus. Sie ist ein gutes Mittel, um Gutes zu tun. Sagen Sie ja zur Welt. Je mehr Macht Sie haben, desto mehr haben Sie Verantwortung für das Gute. Üben Sie Ihre Macht mit Mut und Vertrauen aus, mit Freude und Dank, aber auch mit Achtsamkeit und Respekt, mit Sorge und Furcht. Nehmen Sie auch Ihre Ohnmacht an, in Geduld und Demut, und akzeptieren Sie das Leiden, das aus ihr folgt. Tun Sie, was nötig und möglich ist: nicht mehr – Sie würden sich und andere überfordern –, aber auch nicht weniger – Sie würden Ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.“

Freilich wissen wir, wie subtil die Macht mit ihrer Gier und Lust und Leidenschaft in uns eindringt. Gerade weil sie im Grund auch zum Guten dient, kann sie uns erst recht verführen. Dabei geht es nicht nur um grobe Macht im Sinne der Gewalt, um technisch ausgeübte Gewalt, wo man nur auf den Knopf drückt und scheinbar saubere Hände behält; es gibt Gewalt auch als Gehirnwäsche. Sie kann auch mit Medikamenten und Drogen verbunden sein. Das vor allem auch mit dem Unbewussten, nicht zuletzt in Propaganda und Werbung, kann die Menschen abhängig machen und regelrecht knechten. Besonders schlimme Schleichwege der Macht, die sich nicht selten unter dem Mäntelchen des Guten verstecken, sind Intrigenspiel und Verleumdung.

Da fährt Jesus wiederum dazwischen: „Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein.“ (10,43) Es ist ein ganz entschiedenes Veto gegen jeden Missbrauch der Macht über die Menschen (vgl. 10,42). Mitten in dieser fundamentalen Kritik von Machtmissbrauch steht das Wort vom Dienen. Wir brauchen es manchmal ziemlich harmlos. Schon von Hegel her wissen wir aber, dass der Diener, wenn er seine Unentbehrlichkeit auszunützen versteht, rasch zum Herrn werden kann. Das Wort vom Dienen setzt an die Stelle des Verhältnisses von falscher Über- und Unterordnung das Verhältnis einer bereitwilligen Dienstbarkeit gegenüber den Schwestern und Brüdern auf freiwilliger Basis, auch wenn es deshalb nicht so etwas wie Gehorsam leugnet. Solches „Dienen“ ist nicht nur als eine moralische, innere Einstellung gemeint, sondern wird bei Jesus sehr konkret ernst genommen. Die Fußwaschung (vgl. Joh 13,1-20), bei der Jesus den Jüngern den Dreck der Straße abwäscht und so den letzten Dienst eines Sklaven tut, also am unteren Ende aller Karriere, ist eine anschauliche Schule dafür: „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.“ (Joh 13,15) Schließlich aber macht er mit diesem „Dienst“ in der „Hingabe“ seines Lebens bis in den Tod am Kreuz ernst. Alles findet schließlich seine letzte und tiefste Begründung in dem Rückgriff auf die prophetische Verkündigung bei Jesaja, die Jesus sich hier zu Eigen macht: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“ (Mk 10,45; vgl. Jes 53,10-12)

Sein Leben als „Lösegeld“ hinzugeben für viele, dies ist der Auftrag und die Sache Jesu. Dies kann er nur von sich meinen. Dieses Wort akzentuiert die Einmaligkeit des Dienstes und der Lebenshingabe Jesu. Hier gibt es einen uneinholbaren Abstand des Jüngers zu Jesus. Aber vorbildlich bleibt dieser Dienst für die Jünger in der Nachfolge. Es ist besonders Paulus, der diesen Dienst, die „diakonia“, zum Zentralbegriff gerade auch des Apostelamtes und damit aller Aufgaben gemacht hat. So fragt er die zerstrittenen Korinther: „Was ist denn Apollos? Und was ist Paulus? Ihr seid durch sie zum Glauben gekommen. Sie sind also Diener, jeder, wie der Herr es ihm gegeben hat.“ (1 Kor 3,5) Paulus beschreibt diesen Dienst recht unterschiedlich: Es ist Dienst am Evangelium, Dienst des Geistes, Dienst der Gerechtigkeit, Dienst der Befreiung und schließlich der Versöhnung (vgl. 2 Kor 5,17-20). Das Ziel dieses Dienstes ist der Aufbau und die Auferbauung der Gemeinde (vgl. 1 Kor 9,1-23; 14). Ein solcher Dienst will die Gemeinde und die Mitchristen nicht vom kirchlichen Amt abhängig machen, sondern sie zu ihrer eigenen Verantwortungsfähigkeit und zu ihrem Zeugniseinsatz führen. Nichts anderes will auch das Bild vom „Leib Christi“ (vgl. 1 Kor 12; Röm 12,4ff.). Es ist die große Leistung des hl. Paulus, dass er die Besonderheit der Geistesgaben in jeder Hinsicht anerkennt und auch für notwendig hält; dass er ihnen zugleich aber die egoistischen, interessengesteuerten Giftzähne zieht, indem er sie auf den „Nutzen“ und konstruktiven Aufbau der Gemeinde und der Kirche verweist. Es ist nicht zufällig, dass Papst Gregor der Große dem Papsttum in dieser Hinsicht den tiefsten Titel gegeben hat: „servus servorum Dei“ – Knecht der Knechte Gottes. Dieser Titel steht oft über dem Beginn besonders wichtiger päpstlicher Dokumente.

Diese Sorge um den rechten Umgang mit der Macht in der Kirche – auch Vollmacht ist Macht – hat auch die Urkirche weiterhin bewegt. Immer wieder geht es um die Abgrenzung zum weltlichen Machtstreben, jene bleibende Gefährdung, und um die radikale Bereitschaft der Jünger zum Dienen. So heißt es in 1 Petr 5,2f.: „Sorgt als Hirten für die euch anvertraute Herde Gottes, nicht aus Zwang, sondern freiwillig, wie Gott es will; auch nicht aus Gewinnsucht, sondern aus Neigung; seid nicht Beherrscher eurer Gemeinden, sondern Vorbilder für die Herde!“

Es ist aufschlussreich, wie Lukas dieses Wort vom Dienen in sein Evangelium aufnimmt. Bei ihm gehört dieses Wort nämlich mitten hinein in die Feier des Herrenmahles. Dadurch wird vieles noch herausfordernder und auch paradoxer: „Es entstand unter ihnen ein Streit darüber, wer von ihnen wohl der Größte sei. Da sagte Jesus: Die Könige herrschen über ihre Völker, und die Mächtigen lassen sich Wohltäter nennen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Größte unter euch soll werden wie der Kleinste, und der Führende soll werden wie der Dienende. Welcher von beiden ist größer: wer bei Tisch sitzt oder wer bedient? Natürlich der, der bei Tisch sitzt. Ich aber bin unter euch wie der, der bedient.“ (Lk 22,24-27) Lukas lässt deutlicher als Markus die Situation des Mahles und der Eucharistiefeier als „Sitz im Leben“ erkennen.

So üben wir alle in jeder Eucharistiefeier neu dieses Dienen im Geiste Jesu Christi ein. Wer Macht ausübt, der sollte an den Verrat des Judas denken, besonders aber an das einschneidende und zur Umkehr bewegende Wort Jesu, das gewiss im Kern von ihm selbst stammt: „Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein.“ Amen.

Hinweis:

Außer der exegetischen Literatur, vor allem der Kommentare zum Markus-Evangelium, waren hilfreich:

M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1921 u.ö.

R. Guardini, Die Macht, Würzburg 1952 u.ö.; auch in: Das Ende der Neuzeit. Die Macht = Werke, Mainz 1986, 97-186.

K. Rahner, Theologie der Macht, in: Schriften zur Theologie IV, Einsiedeln 1960, 485-507.

H. Arendt, Macht und Gewalt, München 1970 u.ö.

M. Hengel, Christus und die Macht, Stuttgart 1974.

„Macht in der Kirche“. Themenheft von „Concilium“, 24 (1988), Heft 3 (bes. die Artikel von J. Blank, K. Gabriel, W. Siebel).

H. Spaemann, Was macht die Kirche mit der Macht? Denkanstöße, Freiburg i. Br. 1993.

W. Reinhard, Glaube und Macht, Freiburg i. Br. 2004.

M. Foucault, Analytik der Macht (stw 1759), Frankfurt 2005.

St. Kiechle, Macht ausüben = Ignatianische Impulse 13, Würzburg 2005.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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