Bleibender schöpferischer Zugewinn. Neuer Mut zum gemeinsamen jüdisch-christlichen Menschenbild

Festvortrag im Rahmen der „Woche der Brüderlichkeit" der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit am 14. März 2010 im Landtag in Wiesbaden

Datum:
Donnerstag, 14. Oktober 2010

Festvortrag im Rahmen der „Woche der Brüderlichkeit" der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit am 14. März 2010 im Landtag in Wiesbaden

I.

Ich bin dankbar für das vorgegebene Thema mit dem Jahresmotto: Verlorene Maßstäbe. In der Tat diskutieren wir seit dem Neubeginn nach dem Kriegsende 1945 in verschiedenen Phasen, welche ethisch-spirituellen Grundkräfte wir wiedergewinnen müssen. Nicht zufällig wird diese Diskussion immer wieder im Kontext wirtschaftlicher Höhen und Krisen geführt: Verpflichtung auf Soziale Marktwirtschaft, Währungsreform und „Wirtschaftswunder", die Auseinandersetzungen in den 68er-Jahren, Rezession und „Grenzen des Wachstums" in den 70er-Jahren, die jüngste Wirtschafts-, Finanz- und Bankenkrise.

Ernster und tiefgreifender gab es diese Diskussion in der so genannten Grundwerte-Debatte um die Mitte der 70er-Jahre, angestoßen durch H. Schmidt, H. Kohl und W. Maihofer. Verschärft wurde die Diskussion durch die stärker gewordene Einsicht, dass in einem zunehmend pluralistisch strukturierten Gemeinwesen zwar die individuelle Wahl von geistigen, ethischen und religiösen Überzeugungen wächst, aber ihre Gemeinsamkeit immer mehr schwindet, mindestens abbröckelt. Daran kann auch der Staat nicht viel ändern, weil nach einem berühmten Wort von E.-W. Böckenförde der Staat von Voraussetzungen lebt, d.h. auf sie angewiesen ist, die er aber nicht selbst schaffen oder durchsetzen kann.

Die Frage nach verlorenen Maßstäben blieb in diesem Dilemma stecken. Das Thema wurde immer wieder aufgegriffen, weil es sich als „Not" auferlegte, dennoch ist nicht zu übersehen, dass die Weiterverfolgung des Problems immer wieder stockte und nicht grundsätzlich sowie kontinuierlich auf breiter Front und konsequent fortgesetzt wurde. Das Thema blieb Fragment, Aperçu und Torso - und dies auch, als Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert unter dem etwas präzisieren, aber auch enger geführten Begriff „Leitkultur" die Sache weiter bedachte. Das Thema gelangte mehr und mehr in eine Sackgasse. Gleichwohl war die Sache damit nicht erledigt.

II.

Darum können und müssen wir das Thema genauer wieder aufgreifen, aber unter Beachtung gewonnener Erkenntnisse, die nicht nur positiv waren, sondern auch zum Scheitern führten.

Das gemeinsame Ethos entsteht immer wieder durch den Dialog der einzelnen Partner im gesellschaftlichen Diskurs. Das muss aber nicht heißen, dass dies nur von einem neutralen Boden aus mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner geschehen kann. Es ist auch denkbar, dass man mit mehreren Partnern in einen Dialog eintritt und dann gemeinsam ein größeres Forum anspricht. In der Ökumene versuchen wir dies schon längst. In den Begegnungen der christlichen Kirchen mit der jüdischen Rabbinerkonferenz setzen wir in den letzten Jahren diese Gespräche fort. Der Dialog der so genannten abrahamitischen Religionen ist zwar noch spärlich ausgebildet, muss hier aber wenigstens erwähnt werden.

Es scheint mir aber, dass eine stärker gemeinsame Initiative des Jüdischen und des Christlichen, ja gerade auch im katholischen Sinn (ohne neuen ökumenischen Zwist!), besondere Möglichkeiten eröffnet, um „verlorene Maßstäbe" wiederzuentdecken und neu zu gewinnen.

Ich möchte zunächst begründen, warum ich hier eine neue Chance sehe. Er hängt mit dem Wandel unserer Beziehungen zusammen. Wir können die Gemeinsamkeit neu zur Sprache bringen, ohne deshalb Unterschiede einzuebnen. Wir sehen unsere Herkunft und unsere Wurzeln wieder ursprünglicher.

Heute ist uns klarer geworden, dass Christen ihre eigene Identität nur hinreichend verstehen im Horizont der Juden. Unsere Theologie hat sich oft dahingehend einseitig entwickelt, dass wir einer - im Einzelnen gewiss differenzierteren - Tradition folgten, für die Israel jedoch weitgehend als verworfener Teil galt. Mindestens wurde die Gegenwart des Jüdischen im Christlichen nicht ausdrücklich entfaltet, ja manchmal auch geradezu verschwiegen. Israel war eine Stimme, die eher stumm blieb, obgleich wir unsere eigene Identität gar nicht ohne die Glaubensgeschichte des jüdischen Volkes verstehen können. Es musste unseren eigenen Traditionen mühsam abgerungen werden, dass Israel als bleibende Wurzel des Christlichen begriffen werden muss.

Da uns dies vielfach geistig nicht mehr oder nicht ausreichend genug bewusst blieb, waren wir wie gelähmt, als Israel dafür einen geschichtlich wohl einmaligen bitteren Preis zahlen musste, der uns auch heute und künftig - keine Generation kommt daran vorbei - tief beschämt. Wir müssen dafür endlich die Sperre überwinden, die uns den Blick auf das jüdische Erbe im Christentum getrübt hat und oft noch heute trübt.

Wir verstehen uns also selber besser, wenn wir uns neu diesen jüdischen Wurzeln zuwenden. Wir begreifen dadurch unseren eigenen Glauben in seinem weiten Reichtum neu. Dies wollen wir nun beispielhaft an einigen Themen darlegen, wobei wir im Rahmen eines Vortrags gleichsam nur den Ton anschlagen können.

III.

Zu den gemeinsamen Maßstäben dürfen meines Erachtens nicht nur gesellschaftspolitisch und ethisch strukturierte Themen zählen, deren Wichtigkeit ich nicht übersehe, wie z.B. Lebensschutz und Überwindung von Gewalt, Förderung der Menschenrechte und einer Friedensethik, Armut und Reichtum in ihrem Verhältnis, Ökonomie und soziale Gerechtigkeit, Asyl- und Fremdenrecht, Entwicklung und Globalisierung, Eintreten für den Schutz von Sonn- und Feiertagen. Eine solche Aufzählung zeigt immerhin, wie viel wir gemeinsam zur Sprache bringen können.

Wir dürfen nämlich die religiösen und spirituellen, ja auch ethischen Fundamente nicht ausklammern oder an den Rand drängen, auf denen die notwendigen Verhaltensweisen ruhen und stets wieder motiviert werden. Ich sehe schon länger eine gewisse Gefahr, dass die jüdisch-christliche Begegnung diese gemeinsamen Grundlagen in ihren Äußerungen vernachlässigt. Entsprechend habe ich die folgende Auswahl getroffen, die dieses Defizit ausgleichen möchte. Auf diesem Boden erhalten dann die genannten ethischen Forderungen ein größeres Gewicht und können nachhaltiger immer wieder ins Spiel gebracht und verteidigt werden.


1. Der personale Gott in seiner Zuwendung zur Geschichte und zum Menschen

Das Gottesverständnis ist keineswegs fraglos. Ja, in der Bibel zeigt sich eine Revolution im Verständnis von Gott. Er ist nicht der selig in sich lebende Gott, der jenseits von Welt und Geschichte in sich und für sich selbst thront. Er lässt sich nicht mit unseren Bedürfnissen verrechnen und darf nicht instrumentalisiert werden durch unsere Wünsche und Projektionen. Er ist nicht zu fassen mit unseren theoretischen, psychologischen, ökonomischen und evtl. sexuellen Kategorien. Er ist heilig und trotzt unseren Plänen, auch noch Gott in unsere Händel einzubeziehen. Er bleibt unbegreiflich. „Meine Wege sind nicht eure Wege." (Jes 55,8)

Dennoch zieht der biblische Gott sich nicht in seine Seligkeit zurück. Er öffnet sich ohne jeden inneren und äußeren Zwang zur Welt und zur Geschichte hin. Aber nicht nur das: Er wandert in stetiger Allgegenwart mit seinem Volk. Er verlässt es nicht in der Wüste, sondern zieht mit durch die Zeiten und die verschiedenen geschichtlichen Aufenthalte. Deshalb ist sein Name auch: Ich bin der Ich-bin-da, der immer Gegenwärtige und ewig Seiende (vgl. Ex 3,14).

Dieser Gott tritt aus sich heraus. Er lebt nicht im Raunen des Mythos. Er erschließt sich vor allem durch sein Wort. Es ist kein Wort über etwas, das schon existiert, sondern wenn Gott spricht, entsteht überhaupt etwas. Gott redet - und die Welt wird aus Nichts. Gott spricht aber auch die Menschen an. Ihm liegt am Zwiegespräch mit den Menschen, und zwar in vielen Weisen und Formen. Es gibt die Ermutigung und den Anruf, die Ermahnung und die Forderung. Sie reichen in unseren Alltag hinein. Der Mensch ist die lebendige Antwort auf den Ruf Gottes. In den zahlreichen Vollzugsweisen zumal des Gebetes offenbart sich dieses personale Verhältnis, z.B. im Lob und im Dank, in der Bitte und in der Klage, in den Sprichwörtern aus der Erfahrung der Menschen und im vielfältigen Kunstwerk der Sprache.

Gott offenbart sich nicht nur im Wort. Er bekundet sich auch in vielen Weisen, direkt und indirekt. Wir können dies in der Bibel gut beobachten: Er kommt in die Schöpfung, durch sein allmächtiges Wort, durch seine ethischen Weisungen und Gebote, durch seine Führer, wie z.B. Mose, durch seine vielgestaltigen Propheten, durch die Tafeln des Bundes sowie des Gesetzes und die Bundeslade. Gott lässt sich, ohne seine tiefe Geheimnishaftigkeit zu verlieren, herab und begibt sich so in die Nähe der Menschen. Dieser Herabstieg Gottes in unsere Niedrigkeit ist gerade auch für das Verständnis des Christentums von großer Bedeutung.

2. Zur Begründung der Unantastbarkeit der Würde des Menschen

Es gibt einen Maßstab, der eigentlich „unverlierbar" ist, dennoch aber in letzter Zeit in Frage gestellt worden ist. Nichts soll nämlich über die Würde des einzelnen Menschen gehen. Das Recht auf Freiheit, auf Selbstbestimmung und auf Achtung seiner Würde darf keinem Zweck geopfert werden. Freilich hat es immer einen Preis, wenn wir nach ethischen Grundsätzen handeln.

Dies ist uns auch vom Grundgesetz aufgegeben, besonders von dem in Artikel 1 über alles gestellten Leitsatz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar." Die jüngste Diskussion zeigt jedoch, dass der kategorische Würdeanspruch nicht mehr fraglos angenommen wird. Die Unantastbarkeit der Person, ihrer Individualität und Freiheit scheint nur auf den ersten Blick verlässliche Orientierung zu geben, denn Maß und Raum der Freiheit des Menschen seien - so sagt man - nicht definiert. Matthias Herdegen hat in der Neukommentierung des Art. 1 GG in dem klassischen Grundgesetzkommentar von Th. Maunz/G. Dürig die These vertreten, Art und Maß des Würdeschutzes seien für Differenzierungen offen. Es gebe eine Mehrzahl miteinander konkurrierender Begründungen. Dabei sind alle Begründungsmodelle abhängig von Menschenbildern. Andere Juristen haben daraus z.B. eine Abstufung der Notwendigkeit des Lebensschutzes bei Embryonen gefolgert, und zwar vom Verständnis der Menschenwürde her. Die Auseinandersetzung, hauptsächlich geführt von Ernst-Wolfgang Böckenförde, hat hier nicht zu Unrecht einen „Epochenbruch" festgestellt und eine energische Diskussion verlangt. Auch schon früher war klar, dass in der Mitte der Auseinandersetzung die unantastbare Menschenwürde steht. Ist sie nicht für manche eine unhaltbare Illusion geworden?

Der Begriff der Menschenwürde steht in enger Verbindung mit Freiheit und Leben. Sie haben als Grundnormen einen absoluten Wert und fließen in alle Grundrechte als Geltungskriterien ein. Sie sind eine elementare Legitimationsbasis. In diesem Sinne hat der Begriff der Menschenwürde auch eine Nähe zum klassischen Personbegriff. Der Person wird dabei häufig eine unbedingte Bedeutung oder ein absoluter Wert zugeschrieben. Besonders Kant hat in der Selbstzweckformel seines kategorischen Imperativs dieser Grundüberzeugung Ausdruck verliehen: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person jedes anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst."

Es soll jetzt kurz aufgezeigt werden, dass für das Verständnis der Menschenwürde die biblische Anthropologie eine ganz besondere Bedeutung hat. Selbstverständlich ist sie nicht der einzige Ursprung. Vielleicht ist es jedoch notwendig, dass wir zuerst zu den Rahmenaussagen von Gen 1,26ff. kommen.

Der Mensch lernt, in der Begegnung mit Gott die verschiedenen Situationen der Bedrohung und des Unheils zu bestehen. Dieser Gott bedeutet vor allem Rettung. Er bewahrt auch vor Knechtschaft. Sich ganz auf ihn und seinen Weg einzulassen, heißt zu glauben. Dies heißt zugleich, die ständigen Götzenbilder, die sich immer wieder dazwischenschieben, zu durchschauen und zu entmächtigen. Es gibt einen Weg zu Gott nur durch die Kritik der Idole und der ständig wiederkehrenden Versuchungen, ihn mit anderem als ihm selbst zu verwechseln. Das Bilderverbot bleibt die Erinnerung daran, dass es stets dieses Auszugs aus dem Gewohnten und Vertrauten bedarf: „Du sollst Dir kein geschnitztes Bild machen!". Die Götter und Dämonen verschwinden aus der Welt, die als Schöpfung des in der Geschichte wirkenden Gottes angenommen wird, aber den göttlichen Gott muss man immer wieder in seine je größere Herrlichkeit freigeben.

Unter den Geschöpfen nimmt der Mensch eine einzigartige Sonderstellung ein. Von allen Geschöpfen ist allein der Mensch zum Bild Gottes geschaffen und bestimmt. In diesem Ebenbild kann Gott seinen Partner, sein Echo finden. Im Bild des Menschen will Gott auf Erden gegenwärtig sein, sein Ebenbild soll in seinem Namen handeln. Der Mensch ist nicht einfach Schöpfung Gottes, sondern „Bild" Gottes: Er ist ein Spiegel dessen, der die Freiheit ist. Die unendliche Ferne des Schöpfers von seinem Geschöpf findet sich analog im Menschen wieder als die Freiheit gegenüber allen endlichen Dingen und Verhältnissen. Der Glaube an diese Bestimmung verleiht eine eigene Würde. Diese Würde hat einen eminent kritischen Sinn: Sie verbietet jede Vergottung eines Herrschers, Führers und Genies; die Vergottung einer Nation, einer Rasse, einer Gesellschaft wird unmöglich. Nicht weniger gilt dies für die Politik. Die „Demokratisierung" von exklusiven Herrschaftsaussagen für Machthaber hin zu allen Menschen ist ein wichtiges Ergebnis heutiger Schriftauslegung. Hier berühren sich die Anfänge und Wurzeln wahrer Demokratie mit dem Glauben.

Weil der Mensch in diesem Sinne das Ebenbild Gottes ist, darf er auch nicht zum Mittel für einen Zweck gemacht werden. In diesem „Bild" soll man Gott selbst begegnen. Das Leben des Menschen ist darum in dieser Hinsicht letzter Zweck. In seiner Erkenntnis und in seiner Entscheidungsmöglichkeit liegt ein letzter unverfügbarer Grund, der zwar in alle Handlungen eingeht, aber dennoch nie verfügbar wird. In der Freiheit zum Guten wurzelt die Personalität des Menschen. Und da Gott selbst Partner für alle Menschen ist, hat er jeden auch beim Namen gerufen. In dieser Einmaligkeit der Person liegt auch der Grund für die Unverletzlichkeit der Menschenwürde.

Darum kann auch das, was vom Menschen in allem Ernst und Einsatz getan oder nicht getan wird, nicht mehr einfach verwehen oder völlig in Vergessenheit geraten. Der Anspruch an ihn und die Verantwortung, die er ob des an ihn ergangenen Auftrags „Macht euch die Erde untertan" bekommen hat, erlangen in der Entscheidung ein Gewicht, das den Augenblick und die Zeit überdauert, sich gewichtig in sie eingräbt und in dieser Endgültigkeit schon der Anfang der Ewigkeit ist. Das Ebenbild Gottes hat heute Schwierigkeiten, diese „Macht" zu gebrauchen. Sie zu erlangen, ist nicht mehr oder nicht mehr in erster Linie das Problem. „Aber diese Macht in Verantwortung für die Natur und für eine menschliche Zukunft des Menschen zu gebrauchen, ist das Problem der Gegenwart."

Eine besondere Zuspitzung erfährt die Stellung des Menschen zur Erde durch die Formulierungen von Gen 1,26ff: „Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, zu unserem Abbild, sodass sie herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über alles Wildgetier, der Erde und über alles Kriechgetier, das auf der Erde kriecht! Und Gott schuf den Menschen als sein Bild: als Bild Gottes schuf er ihn, Mann und Frau (so) schuf er sie; und es segnete sie Gott, und es sprach zu ihnen Gott: ‘Seid fruchtbar und werdet zahlreich und füllt die Erde und unterwerft sie und herrscht über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über jedes Tier, das sich auf der Erde regt!'" (Übersetzung nach O. H. Steck) .

3. Biblisches Weltverhältnis zwischen Bebauen und Bewahren

Die Vorwürfe an die Wirkungsgeschichte dieser Aussagen im Zusammenhang der neueren Diskussion über ökologische Probleme sind bekannt. Im deutschen Sprachgebiet kann an das Buch von Carl Améry „Das Ende der Vorsehung" erinnert werden. Die christliche Religion hat nach ihm entscheidend zur Anmaßung des Menschen beigetragen, dass die Welt nach dem Bild des Menschen umgeformt werden müsse. „Jedem möglichen Zweifel über diese absolute und totale Überlegenheit steht Gottes Auftrag entgegen. Es ist der ausdrückliche Auftrag der totalen Herrschaft. Der Mensch wird gerufen, diese Erde zu erfüllen, sie sich untertan zu machen. Magische Auflagen sind nicht damit verbunden, das heißt, es ist ihm völlig freigestellt, wie er diesen Auftrag vollzieht. Sonne und Mond sind Beleuchtungskörper, sonst nichts; Rohstoffe, Flora, Fauna sind ein Arsenal, über das er frei verfügt, sind Jagdterrain und Ernteacker." Das Christentum hat einen Wertekodex geschaffen, der die Ausbeutung der Natur und damit auch die menschliche Verschwendungssucht steigert. Anders formuliert: Das Christentum ist eine Religion des exponentiellen Wachstums. Auch Dennis L. Meadows, einer der maßgeblichen Verfasser des ersten Berichtes des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums", glaubt, dass der Geist schrankenloser und kurzfristiger Ausbeutung „fest in der jüdisch-christlichen Tradition verankert" sei. Damit wird deutlich, dass der Vorwurf auch der gesamten biblischen Tradition gemacht wird. So neu ist die These jedoch nicht. Sie findet sich schon früher bei dem amerikanischen Historiker Lynn White jr. , bei A. Toynbee, K. Löwith, F. Nietzsche und M. Heidegger . Es besteht gewiss ein Zusammenhang zwischen dem biblischen Herrschaftsauftrag über die Erde und der intensiven technisch-wissenschaftlichen Ausübung der Überlegenheit des Menschen über die Natur. Der Herrschaftsauftrag mag in früheren Zeiten oft auch problemlos aufgefasst worden sein. Es kann nicht geleugnet werden, dass wir manche Nuancen des biblischen Textes erst heute sehen können, belehrt durch die Möglichkeiten der modernen Schriftauslegung und durch das offenkundig gewordene Ausmaß an Zerstörung der Schöpfung.

„Macht euch die Erde untertan und herrscht über alle Tiere" - so lässt sich die zweite Hälfte von Gen 1,28 in verknappter Form wiedergeben. Die hebräischen Ausdrücke „untertan machen/unterwerfen" (kabaš) und „herrschen" (radah) wollen genauer betrachtet sein. Etymologisch sind beide Worte in ihrer Bildkräftigkeit massiv: „Kabaš" bedeutet „die Füße auf etwas setzen", wie zum Beispiel der Pharao seinen Fuß auf einen Fußschemel setzte, in dem symbolisch die von ihm beherrschten Länder eingeschnitzt waren. „Radah" kann bedeuten „niedertrampeln, etwas in den Boden stampfen". Das Wort erinnert auch an das Treten der Kelter (vgl. Joel 4,13). Man darf freilich den Bedeutungssinn dieser Worte nicht aufgrund unseres modernen Weltverständnisses übersteigern. Beide Worte können auch einfach heißen: „etwas in Besitz nehmen" oder „weiden/führen". Dennoch sind es „starke Ausdrücke" (H. Gunkel). In ihnen wird zum Beispiel die Würde absoluten, ja königlichen Herrschens und unbedingte Überlegenheit zum Ausdruck gebracht (vgl. Ps 72,8; 110,2; Jes 14,6; Ez 34,4). Elemente eines schonungslosen und gewalttätigen Unterjochens fehlen nicht (vgl. Jer 34,11.16; Gen 9,7). Zweifellos ist auch die massive Durchsetzung eines Willens gemeint (vgl. Lev 25,43.46.53). Es scheint eine Herrschaft zu sein, der gegenüber es keinen Widerstand gibt und die an keine Grenzen stößt.

Der moderne Leser darf jedoch nicht von seinem Erfahrungshorizont her heutige Verstehenselemente naiv in den Text hineintragen. Man kann z.B. das Ganze nicht von den vulgärmarxistischen Kategorien Unterdrückung und Ausbeutung her deuten. Der Herrschaftsauftrag ist durchaus positiv aufgefasst. Das Wortfeld „König/königlich" darf nicht vom üblichen Bild eines orientalischen Despoten her aufgefüllt werden. Der König ist nämlich für das Ganze und für die Zukunft des von ihm beherrschten Raumes verantwortlich. Er muss dafür sorgen, dass das Ganze heil bleibt; Herrschaft bedeutet nicht einfach Vollmacht zum gewalttätigen Treiben, sondern ist in erster Linie Dienst und Sorge für die Bewahrung des Lebensraumes. Es ist nicht zufällig, dass Hirten im Alten Orient als Bild des Herrschers dienten (vgl. auch 2 Sam 5,2; 2 Sam 7,7, Ps 78,71f.; Jer 23,4, Ez 34,23; 37,24; Mi 5,3).

Wie differenziert die Texte zu lesen sind, kann am Verhältnis zu den Tieren beobachtet werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass im Auftrag des Menschen zur Herrschaft über die Tiere die Erinnerung an eine Zeit mitschwingt, als das Tier ein Todfeind des Menschen war und die Überwindung dieser Gefahren schlechthin zum Menschsein gehörte. Die Weltbeherrschung vollzog sich für die Alten zunächst einmal im Züchten und Zähmen. Dieser Kampf des Menschen mit der Erde und besonders mit den Tieren muss nicht zwangsläufig mit Ausbeutung und Zerstörung enden. „Es hat einmal einen Kampf auf Tod und Leben zwischen Mensch und Tier gegeben, aber er endete nicht mit der Ausrottung der Tiere, sondern im Zusammenleben mit ihnen. In diesem Zusammenleben lernte der Mensch, was Herrschaft ist. Sie bedeutete einerseits, dass nach wie vor Tiere getötet werden mussten, damit der Mensch leben kann. Es bedeutete aber gleichzeitig, dass der Mensch in eine neue Beziehung zu den Tieren trat, die er zähmte."

Eine weitere Dimension im Herrschaftsauftrag Gottes darf nicht übersehen werden. Der Mensch ist als Gottes Ebenbild nicht schlechthin das letzte Maß. Es ist ihm gewiss eine ursprünglich göttliche Verfügungsgewalt gegeben. Darin ist er jedoch vornehmlich Repräsentant, Geschäftsträger sowie Mandatar, so etwas wie ein Lehensmann. Er verwaltet Gottes Schöpfung als ihm anvertrautes Lehen. So wird zwar der Herrschaftsauftrag des Menschen in seiner Ausdehnung nicht begrenzt, aber er ist darum nicht mit irgendeiner Form von barer Willkür und totaler Unterdrückung zu verwechseln, wie es in einigen grobschlächtigen Kennzeichnungen geschieht. Als „Bild Gottes" steht der Mensch in der doppelten Ausrichtung auf Gott und die Welt. Gottes- und Weltbezug zusammen sind aber nur im Lot, wenn der Mensch diesen Weltbezug in Rückbindung an den Schöpfer und in diesem Sinne in vollem Bewusstsein seiner Verantwortlichkeit wahrnimmt. Dieses Verständnis, das dem Menschen keine radikale anthropozentrische Stellung zuschreibt, wenn er ihm auch nicht seine grundlegendeVerantwortung nimmt, muss viel stärker hervorgehoben werden.

Es wäre relativ leicht, diese Gedanken fortzusetzen und dieses Verständnis der Gottebenbildlichkeit auch abzugrenzen von späteren Interpretationen in einer säkularisierten Welt. Dies gilt besonders auch für einen Anthropozentrismus, wie er im neuzeitlichen Denken der Subjektivität auf einen gewissen Höhepunkt gelangt. Dabei ist es von besonderer Brisanz, dass zur gleichen Zeit, als diese Übersteigerung einen gewissen Zenit überschritt, die Frage nach dem Subjektcharakter des Menschen, ja sogar nach dem Verlust und dem Verschwinden des Subjekts, immer lauter wurde. Dies hat nicht weniger zu einer Verminderung der Subjektstellung des Menschen geführt und damit seine Menschenwürde geschwächt. Hier gibt es viele Hintergründe wie die Entdeckung des Unbewussten, die Steigerung anonymer Prozesse in der modernen Lebenswelt usw.

Gerade in diesem Zusammenhang ist noch etwas anderes zu nennen: Es gibt andere Stränge des Denkens, die die gesamte biblische Tradition stärker beachtet haben. Es ist nicht zufällig, dass dies ganz besonders in der großen Kette maßgeblicher jüdischer Denker des 20. Jahrhunderts erfolgt. Ich denke an F. Rosenzweig . Aber es finden sich auch viele Spuren, was jetzt nicht näher aufgezeigt zu werden braucht, bei Martin Buber und Emmanuel Lévinas, ganz besonders aber im Gesamtwerk von Hans Jonas. Man wird gewiss nicht behaupten, dass diese Denker ein undifferenziertes Verhältnis als Philosophen zur Theologie hatten. Aber sie waren insgesamt stärker orientiert an der Bibel, wohl auch intensiver mit Fragen des Ethos bzw. der Ethik und dem menschlichen Handeln befasst.

Die biblischen Aussagen wollen keine Philosophie sein, nicht einmal eine theologische Anthropologie. Sie sind so etwas wie Eckwerte des biblischen Verständnisses vom Menschsein und enthalten dadurch ein großes Potenzial an Grundperspektiven, ohne dass diese an eine bestimmte Konzeption gekettet wären. Als ein Beispiel, dass diese Ideen nicht nur historisch entschlüsselt werden können, sondern dass sie auch im Zusammenhang der modernen Konflikte und der Bewertung der neuzeitlichen Technik eine wichtige Funktion haben, möchte ich das Denken von Hans Jonas bewerten und vor allem auch auf sein Hauptwerk „Das Prinzip Verantwortung" verweisen, wo der Schluss des Buches unter dem Titel steht „Um die Hütung des ‚Ebenbildes'" . Ich erlaube mir ein längeres Zitat von ihm:

„Auch Ehrfurcht und Schaudern sind wieder zu lernen, dass sie uns vor Irrwegen unserer Macht schützen (z.B. vor Experimenten mit der menschlichen Konstitution). Das Paradoxe unserer Lage besteht darin, dass wir die verlorene Ehrfurcht vom Schaudern, das Positive vom vorgestellten Negativen zurückgewinnen müssen: die Ehrfurcht für das, was der Mensch war und ist, aus dem Zurückschaudern vor dem, was er werden könnte und uns als diese Möglichkeit aus der vorgedachten Zukunft anstarrt. Die Ehrfurcht allein, indem sie uns ein ‘Heiliges', d.h. unter keinen Umständen zu Verletzendes enthüllt (und das ist auch ohne positive Religion dem Auge erscheinbar) wird uns auch davor schützen, um der Zukunft willen die Gegenwart zu schänden, jene um den Preis dieser kaufen zu wollen. So wenig wie die Hoffnung darf auch die Furcht dazu verführen, den eigentlichen Zweck - das Gedeihen des Menschen in unverkümmerter Menschlichkeit - auf später zu verschieben und inzwischen eben diesen Zweck durch die Mittel zuschanden zu machen. Solches würden Mittel tun, die den Menschen ihrer eigenen Zeit nicht respektieren. Ein degradiertes Erbe wird die Erben mitdegradieren. Die Hütung des Erbes in seinem ‘ebenbildlichen' Ansinnen, also negativ auch Behütung vor Degradation, ist Sache jeden Augenblicks; keine Pause darin zu verstatten die beste Garantie der Dauer: sie ist, wenn nicht die Zusicherung, gewiss die Vorbedingung auch künftiger Integrität des ‘Ebenbildes'. Seine Integrität aber ist nichts anderes als das Offensein für den immer ungeheuerlichen und zu Demut stimmenden Anspruch an seinen immer unzulänglichen Träger. Dies durch die Fährnisse der Zeiten, ja, gegen das eigene Tun des Menschen heil zu erhalten, ist nicht ein utopisches, doch ein gar nicht so bescheidenes Ziel der Verantwortung für die Zukunft des Menschen."

4. Ein Beispiel aus dem Dekalog: Generationensolidarität

Selbstverständlich darf der Dekalog, das „Zehnwort" (auch Zehn Gebote) im Zusammenhang des Themas „Maßstäbe" nicht fehlen.

Ich will dabei nicht ausführlicher über Werden, Struktur und Interpretation des Dekalogs handeln. Es ist ein Text von besonderer Dignität, der in der Bibel eine sehr lange Geschichte durchlaufen hat und darum auch in zwei unterschiedlichen Fassungen überliefert wurde, in Ex 20,2-17 und in Dtn 5,6-12. Einzig der Dekalog ist - in der Exodus- ebenso wie in der Deuteronomium-Fassung - von Gott selbst verschriftete Rede, die übrigen Weisungen Gottes werden dem Volk durch Mose übermittelt. Allein schon dadurch ist die herausragende Stellung des Zehnworts begründet.
Es scheint mir besonders wichtig zu sein, dass der Text des Dekalogs eine immer größere Reichweite erhalten hat. Vielleicht zeugt er zuerst von einem gültigen Verhaltenskodex von Beamten am Hof. Er gilt zunächst im Bereich derselben Nation und innerhalb des Volkes. Man hat aber gezeigt, wie die Reichweite immer mehr über einen engeren Bereich der Gültigkeit hinausgeht, universalere Züge annimmt und so - vor allem auch in anderen Kontexten - zu einem Menschheitsethos wird, das auch den Fremden einbezieht.

Wir können durch heutige jüdische und christliche Schriftauslegung lernen, wie ursprünglich der Text verstanden werden muss, was es für eine reiche Auslegungsgeschichte gibt - selbst wenn sie manche Verengung erfahren hat - und wie der Text heute auch für unsere Probleme wieder neu aufleuchten kann.

Wir wählen das vierte Gebot, um an seinem Verständnis den Maßstab „Generationensolidarität" neu zu deuten. Es lautet: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst, in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt." (Ex 20,12) Mit diesem so genannten Elterngebot setzt im Dekalog die Reihe der Sozialgebote ein. Dabei hat man sich oft gewundert, warum dieses Elterngebot an der Spitze steht. Wir sind natürlich ohnehin im Verständnis dieses Gebotes verunsichert, weil wir dieses Gebot seit langer Zeit vor allem in der Unterordnung der Kinder unter die Eltern deuten und dabei besonders die Aspekte der Autorität und des Gehorsams hervorgehoben haben. In diesem Sinne betrachten viele, die dem Gebot nicht mehr in seinem authentischen Sinn nachgehen, das Gebot als Ausdruck einer weitgehend patriarchalischen Lebensordnung.

Dem ursprünglichen Sinn nach richtete sich die Pflicht, Vater und Muter zu „ehren", an die erwachsenen Kinder zur Sicherstellung der Versorgung der alten Eltern. In vielen Rechtssammlungen, in den Sprichworten der Weisheit wie in der Prophetie spielt das Verhalten gegenüber den Eltern eine überaus große Rolle. So mahnt ein Spruch eindrücklich: „Ein Auge, das den Vater verspottet und die alte Mutter verachtet, das hacken die Raben am Bach aus. Die jungen Adler fressen es auf." (Spr 30,17).

Das Gebot der Elternehrung steht wohl an der Spitze der ethischen Weisungen im Alten Testament. Es geht hier nicht um das Verhältnis von Kindern zu Eltern, sondern von Erwachsenen zu Alten. Mit den Geboten des Dekalogs werden erwachsene Menschen angeredet, denn die Verbrechen von Mord, Ehebruch und Diebstahl werden im Allgemeinen nicht von Kindern verübt. Allein hieran sieht man, wie problematisch die Verengung der katechetischen Unterweisung auf Kinder und Heranwachsende ist. Das Gebot der Elternehrung richtet sich an Erwachsene im Vollbesitz ihrer Kräfte. Sie sollen sich der Schwächeren annehmen, der alt und gebrechlich gewordenen Eltern. Es gab damals keinerlei außerhäusliche Altersversorgung. Die Alten, Kranken und Schwachen waren allein auf die Versorgung durch die Jüngeren angewiesen. Auch der so häufige und dringende Wunsch nach männlichen Nachkommen und die Nöte, die beim Ausbleiben von Söhnen entstanden, haben diesen Hintergrund. Söhne waren lebensnotwendig für die Zeit des Alters. „Ehren" (kibbed) meint in diesem Zusammenhang die Verpflichtung zu konkreten materiellen Versorgungsleistungen. „Das Gebot zielt so nicht auf eine spezifische Legitimation elterlicher Gewalt, sondern will vielmehr der Gefahr der Mittel- und Hilflosigkeit, der gerade der alte Mensch ausgesetzt war, entgegenwirken." Das Elterngebot im Dekalog meint also „konkret die angemessene Versorgung der alten Eltern mit Nahrung, Kleidung und Wohnung, bis zu ihrem Tod, darüber hinaus einen respektvollen Umgang und eine würdige Behandlung, die trotz der Abnahme ihrer Lebenskraft ihrer Stellung als Eltern entspricht. Dazu gehört schließlich eine würdige Beerdigung."

Dieser Befund ist sehr wichtig, wird aber leider oft in einer problematischen Weise isoliert. Die Eltern haben nämlich eine eigene Stellung in diesem Gebot, weil sie auch die Aufgabe haben, z.B. den Dekalog weiterzugeben. Die gegenwärtige Generation der Eltern soll sich die Weisungen Gottes einprägen und die Kinder darin unterweisen. Darin ist die Weitergabe der Tora impliziert. Für diese Aufgabe erstreckt sich die Reihe der Weitergabe auf drei Generationen. Es geht also auch um die Anerkennung der Eltern und ihrer Vermittlungsaufgabe. Dies gilt erst recht für manche Epochen des Alten Testaments, in denen die Institutionen zusammengebrochen sind, die die profanen und religiösen Traditionen gebunden und gepflegt haben. In diese für das Überleben und die Identität des Volkes lebensgefährliche Lücke müssen die Eltern einspringen. Die späte Weisheit darf hier nicht übersehen werden. Dabei ist die Erzähltradition, die von den Eltern bzw. vom Hausvater auf die Kinder überging, die wohl entscheidende Überlieferungsform. Die Bibel weiß, dass solches Erzählen zum ABC des Glaubens gehört: „Erzählt euren Kindern davon, und eure Kinder sollen es ihren Kindern erzählen und deren Kinder dem folgenden Geschlecht." Dabei ist nicht zu übersehen, dass es hier gerade auch um die spezifische Form der mündlichen Überlieferung geht, die zugleich die Praxis des Lebens aus dem Glauben und die Vorbildfunktion der Eltern einschließt. Es besteht kaum ein Zweifel, dass dieser generationenübergreifende Zusammenhang, der den Glauben den kommenden Generationen weitergibt, für das Überleben nicht zuletzt auch des Judentums und des christlichen Glaubens über Tausende von Jahren eine entscheidende Rolle spielt. Dabei geht es nicht nur um die Weitergabe isolierter oder abstrakter Glaubensüberzeugungen, sondern es geht auch um die Voraussetzungen und Bedingungen, die gegeben sein müssen, um geistige, spirituelle Erfahrungen, Werte und Inhalte weiterzuvermitteln. Hier stellt sich das Wort Vorbild von selbst ein.

Dabei ist eine solche Kraft des Zusammenhaltens und der Solidarität in einem Grundvertrauen zwischen den Generationen begründet, der nicht nur den Willen zur Überlieferung von Normen und Geboten voraussetzt, sondern eben vom Anspruch der Wahrheit des Glaubens selbst abhängt. Am Ende können nur die Kraft des Glaubens und die Freude an ihm durch alle Schwierigkeiten hindurch eine Solidarität und Kontinuität erzeugen, die auch die Bedrängnisse und Wirren der Geschichte überdauert. Man weiß auch, dass eine solche Weitergabe des Glaubens gefährdet ist. Man befürchtet, dass die Wundertaten Gottes vergessen werden könnten. Es ist überliefert, dass nach Josuas Tod und dem Aussterben seiner Generation „nach ihm ein anderes Geschlecht aufkam, das von Jahwe nichts wusste noch von den Taten, die er für Israel getan hatte". In Psalm 71,18 fleht der Bittsteller sogar um hohes Alter und graue Haare, damit er kommenden Geschlechtern von Gottes Macht künden könne. Auch das Gedenken an notwendige Gerichtstaten Gottes muss künftigen Generationen überliefert werden. Wenn schon der Übergang von einer Generation zur anderen im menschlichen Leben Unterbrechung und Unruhe verursacht, so nimmt es nicht wunder, dass besonders die Hüter des Glaubens diesem Übergang mit gesunder Besorgnis gegenüberstehen. Immer wieder richtet sich daher diese Sorge auf Gott selbst, denn er ist der entscheidende Garant der Beständigkeit. Er ist die Zuflucht, auf die man sich verlassen kann von Geschlecht zu Geschlecht.

Es ist nicht nur Sache der Eltern, den jungen Menschen Antworten auf ihre Fragen zu geben, sondern vor allem, wie eben schon angedeutet, ihnen eine stete Zuflucht zu bieten, in der sie wie selbstverständlich alles finden, was sie zum gesicherten Leben benötigen. „Der Gottesfürchtige hat feste Zuversicht, noch seine Söhne haben eine Zuflucht." Die Weisen werden deshalb besonders dem allgemeinen Schutz empfohlen. Ein törichter Vater kann seinen Söhnen keine Hilfe bieten. Dabei ist aufschlussreich, dass nicht nur wie in allen Formen des Elterngebots die Mutter ausdrücklich neben dem Vater genannt wird, sondern gelegentlich auch vor ihm. - Die Familie heißt einfach „Haus" (bajit) oder „Vaterhaus" (bēt´āb). Dieser Begriff von Familie wird, wie eigens gezeigt werden müsste, im Neuen Testament intensiviert, ausgeweitet und integriert.

Dieser Hinblick besonders auf das Alte Testament scheint in mancher Hinsicht für die Fragestellung nach dem Generationenzusammenhang wichtig zu sein. Sicher werden viele Fragen der Altersversorgung angesprochen. Aber es geht auch um die Achtung der jungen Menschen vor den Älteren, nicht zuletzt wegen ihres Vorsprungs an Erfahrung und Weisheit. Dies begründet echte Autorität. Dennoch haben die Eltern auch die Pflicht, ihre Kinder im Blick auf ihre Lebensüberzeugungen und Lebenserfahrungen, besonders aber auch im Blick auf den Glauben zu unterrichten und diesen den künftigen Generationen weiterzugeben. So ist auch die Ehrerbietung nicht nur materiell zu verstehen, wie umgekehrt die älteren Generationen ihre Pflicht gegenüber den Kindern fortsetzen müssen. Jedenfalls gilt, was R. Gronemeyer in die Worte fasst: „Das Verhältnis der Generationen ist in dem Gebot verpackt, wenn das auch in den urtümlichen Worten schwer erkennbar ist. Dann besagt es, dass die Älteren die Lebensmöglichkeiten der Nachkommen im Auge haben müssen - denn sonst sind sie nicht ehrenwert. Und es besagt, dass die Jüngeren die ‚Ausgebrauchten‘ nicht als Entsorgungsfälle betrachten dürfen, weil sie sonst die Humanität ihrer Gesellschaft beschädigen. Überträgt man das Gebot auf unsere modernen Verhältnisse, dann erinnert es daran, dass Egoismus - der dem anderen die Würde abspricht - die Substanz einer menschenwürdigen Gesellschaft zerstört. Mehr als Erinnerungshilfe kann das Gebot nicht sein, es spricht sehr deutlich in eine vorneuzeitliche Lebenslage, die durch den Familienverband bestimmt ist. Je weniger das Leben des Einzelnen aber durch familiäre Verhältnisse geprägt ist, desto mehr muss der Geist dieses Gebotes auf die neuen - sagen wir ruhig - multikulturellen Verhältnisse der Menschen übertragen werden."

Es ist jetzt sicher deutlich geworden, wie „aktuell" diese Maßstäbe sind.

 

IV.

Diese „Maßstäbe" können wir unschwer in Gemeinsamkeit erkennen. Wir können sie heute besser und überzeugender wahrnehmen, nachdem wir grundsätzlich ein neues Verhältnis zueinander anbahnen konnten.

Dies darf aber nicht dazu führen, dass die Differenzen ignoriert oder beiseite geschoben werden. Die Dialogpartner haben ein Recht darauf, das Glaubenszeugnis des Anderen zu hören und vor Gott zu bedenken, auch wenn sie ihm nicht zustimmen können. Dennoch sollten wir einander Zeugnis und Rechenschaft von unserer Hoffnung geben. Dann können wir es getrost Gott überlassen, wie er den Widerstreit bzw. Wettstreit zwischen jüdischem und christlichem Glauben auf Wegen, die nur er kennt, lösen kann. Doch dies wäre ein neues und anderes Thema.

Ich möchte schließen mit einem Glückwunsch an den Preisträger der Buber-Rosenzweig-Medaille 2010: Daniel Libeskind. Die Maßstäbe, wie wir unser Leben planen und gestalten, kann man am Bauen und Wohnen ablesen. Dies gilt besonders, wenn wir damit auch unsere oft unglückselige Geschichte nachvollziehen und gestalten. Daniel Libeskind hat dies vorbildlich geleistet durch große Entwürfe: Neubau des Word Trade Center, das Jüdische Museum in Berlin sowie an anderen Orten und viele andere Bauten. Darin hat er Maßstäbe gesetzt, die dieser Auszeichnung im Gedenken an die großen Denker Martin Buber und Franz Rosenzweig in einzigartiger Weise würdig sind.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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