Chancen und Grenzen der modernen Medizin

Plenarvortrag beim 14. Jahrestag des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Hessen am 31. Januar 2005 in Bad Wildungen

Datum:
Montag, 31. Januar 2005

Plenarvortrag beim 14. Jahrestag des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Hessen am 31. Januar 2005 in Bad Wildungen

Die Chancen auch und gerade der Medizin kennen wir alle. Aber Grenzen? Wer Wissenschaft als Beruf ausübt, mag man vielleicht sogar zuerst über einen solchen Begriff erschrecken. Die Wissenschaft scheint gerade dadurch Wissenschaft zu sein und zu bleiben, dass ihr niemand einfach von Außen Grenzen setzt. Ihre Leistungsfähigkeit besteht gerade darin, dass sie bisherige Grenzen immer wieder neu in Frage stellt und überschreitet. Davon lebt der Anspruch auf eine zweckfreie Theorie, die diesen Namen verdient, und auf die Autonomie. Freilich wissen wir alle, dass es solche Grenzen gibt. Für den neuzeitlichen Menschen ist dieser Gedanke nicht einfach. Denn die Wissenschaft ist über Jahrhunderte fast ununterbrochen vorangeschritten. Jede neue Entdeckung hat zu neuen Fragestellungen und neuen Lösungsmethoden geführt. Immer wieder hat die Wissenschaft neue Explorationsfelder geschaffen und immer wieder Neuland betreten. Heute stoßen wir eher an die Grenzen, die mit unserer Endlichkeit zusammenhängen, auch im Blick auf die Ressourcen. Wir haben auch Grenzen durch Irrtumsmöglichkeiten: der wissenschaftliche Verstand verrennt sich in seine eigenen Unzulänglichkeiten. Es gibt auch harte ökonomische Grenzen, weil hier und dort der wissenschaftliche Fortschritt unbezahlbar wird. Dies sind mindestens praktische Grenzen. Aber lässt sich heute in den modernen Wissenschaften Theorie und Praxis so leicht trennen?

I. Ein Grundkonflikt der modernen Zivilisation

 Wissen ist Macht. Dies ist eine alte Aussage. Immer schon hat die Wissenschaft die Welt tiefgreifend geprägt, indem sie sie fortlaufend verändert hat. Während früher jedoch die wachsende Fülle von Ergebnissen der Wissenschaft dem Leben diente und die Zivilisation förderte, ist hier ? wenigstens in unserem Bewusstsein ? ein Wandel eingetreten. Zwar erkannte man auch schon früher nachteilige Folgen, aber sie erschienen doch eher als geringfügig. In den letzten Jahrzehnten hat die wissenschaftlich-technische Entwicklung in zunehmendem Maß ein Problembewusstsein hervorgerufen: Neben den unbestreitbaren Segnungen für den Fortbestand und die Weiterentwicklung der menschlichen Kultur ist nicht zu übersehen, dass die Fortschritte auch dazu führen können, dass unsere Welt unumkehrbar geschädigt und dass alles menschliche Leben auf ihr zutiefst gefährdet wird.

 Es genügt, einige Stichworte der jüngsten Diskussion in die Erinnerung zu rufen: Grenzen des Wachstums, Fortschritt ohne Maß, Zerstörung der Erde, Waldsterben, Nuklearwaffen, Paradoxien der Abschreckungsstrategie, Friedensbewegung, Krieg der Sterne, Tierexperimente und Tierschutz, die stille Revolution der Gen-Technik. Von diesen Veränderungen des Menschen durch den Menschen ist vor allem die Medizin erfasst. Hier ist zunächst eine Rettung von Menschenleben möglich geworden, wo es sonst oft nur noch Schicksalsergebenheit gab. Die Intensivmedizin verhilft Menschen in erstaunlicher Weise zum Überleben und stellt zugleich die schwierige Frage, ob Ärzte verpflichtet sind, alle therapeutischen Maßnahmen zu ergreifen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit besteht, dass nur vegetatives Fortleben erhalten wird. Darf man Leben, das hoffnungslos leidet, „künstlich“ beenden? Darf man überhaupt Hilfe zur Verlängerung des Lebens versagen? Schließlich denke man an Transplantationen aller Arten. Gerade auch der Beginn des Lebens steht im Zeichen technischer Möglichkeiten: die Diagnose erbkranken Nachwuchses in der pränatalen Diagnostik, künstliche Insemination bis zur In-vitro-Fertilisation, Existenz überschüssiger Embryonen, Kryokonservierung, Veränderung des Erbmaterials durch Eingriffe“ Genbanken, Klonieren im Sinn der ungeschlechtlichen Vermehrung zur Herstellung identischer Nachkommen in beliebiger Anzahl, Genom-Analyse, züchterische Maßnahmen beim Menschen.

 „Optimisten“ und „Pessimisten“ berufen sich auf wissenschaftliche Analysen in der Wertung dieser Entdeckungen. Die Pessimisten nehmen in allen Entwicklungen mit Vorliebe die Phänomene des Zerfalls und der Zersetzung wahr. Die Optimisten berufen sich nicht nur auf die Ungebrochenheit des Fortschritts, sondern nicht zuletzt auf die geschichtliche Widerlegung der pessimistischen Unheilspropheten. Als die Eisenbahn erfunden war, haben einige Biologen und Mediziner voraussagen wollen, der menschliche Körper halte eine solche Geschwindigkeit nicht aus. Grenzwerte der Luftverunreinigung mit Schwefeldioxyd, die vor einiger Zeit als schwer gesundheitsschädlich galten, werden heute sehr viel nüchterner gesehen. Es ist jedenfalls ratsam, sich nicht durch „Optimisten“ und „Pessimisten“ bei der Analyse der Gegenwart und der Prognose der Zukunft, aber auch nicht bei der ethischen Reflexion beraten zu lassen.

 In diesem Vortrag sollen nicht die eben erwähnten Einzelprobleme nochmals erörtert werden. Es existiert eine heute schon kaum mehr überschaubare Literatur zu allen Einzelthemen, die in wenigen Jahren aus dem Boden geschossen ist. Vielmehr fragen wir grundsätzlich nach dem elementaren Konflikt, der hier generell in Erscheinung tritt: Darf der Mensch, was er kann? Er tut jedenfalls, wie die geschichtliche Erfahrung in Vergangenheit und Gegenwart zeigt, das meiste von dem, was er kann. Wir wollen an die Wurzel dieses Problems gehen und die offenkundige Spannung zwischen dem technisch Machbaren und dem sittlich Verantwortbaren, soweit es nur möglich ist, ausloten. Am Ende können auch die genannten Einzelprobleme nur von einer neuen Einsicht in das Grundverhältnis zwischen Technik und Humanität gelöst werden.

 II. Das technisch Machbare und der Fortschritt

 Wir sind fasziniert und geängstigt von dem, was heute technisch alles machbar ist. Uns beeindruckt die Erfahrung einer offenbar grenzenlosen Steigerung der Machbarkeit und einer wachsenden Beherrschbarkeit der Natur. Aber vielleicht können wir den Begriff des „technisch Machbaren“ erst in seiner vollen Bedeutung erfassen, wenn wir uns ein wenig auf seine Herkunft und sein Werden besinnen.

 „Techne“ ist eine auf verallgemeinerter Erfahrung gegründete und nach lernbaren Regeln vorgehende Kunstfertigkeit im Herstellen von Gegenständen materieller oder geistiger Art (Werkzeuge, Kunstwerke), im Hervorbringen von Zuständen (z.B. der Gesundheit) oder im Betreiben von Geschäften (z.B. Verkauf von Erzeugnissen). Diese Technik bedeutet die Fähigkeit, Vorgegebenes mit natürlichen oder erfundenen Mitteln auf einen Zweck hin umzugestalten. So gibt es im Mittelalter eine ständig verbesserte Ausnutzung z.B. des Tieres, des Windes und des bewegten Wassers. Man kann noch das Aufkommen des Spinnrades, der Drehbank mit Wippe und des Trittwebstuhls hinzufügen. Aufgrund der Entwicklung der Metalltechnik werden der Gebrauch des Schießpulvers und die Buchdruckerkunst, die Erfindung der Brille und von Räderuhren mit Gewichten möglich. Die Natur wurde fortschreitend menschlichen Zwecksetzungen unterworfen, ganz bewusst auch zur Lebenserleichterung gegenüber menschlicher Mangelhaftigkeit und Unfertigkeit. Die Natur ist zunächst immer noch etwas, was den Menschen umgreift und bestimmt. Gegenüber einigen Bereichen der Natur empfand der Mensch im Blick auf seine eigene Lebenserhaltung konkrete Verantwortung. So hat er Tiere, die ihm durch die Jagd als Nahrung dienten, vor dem Ausrotten geschützt, wie wir dies bis heute vielleicht noch am stärksten bei der Fischerei wahrnehmen können. Aber es gab gegenüber der Übermacht der Natur, die nicht zuletzt auch als Feindin und in ihrer Übermacht erfahren wurde, keine umfassende menschliche Verantwortung. Ihr gegenüber waren eher Klugheit und Erfindungsgabe angebracht. Wir kennen heute spätestens seit der Flutkatastrophe in Südasien diese Übermacht wieder, sodass der säkulare Mensch – erstaunlich genug – das Wort „Demut“ wieder gebraucht.

 So kann man trotz ständig notwendiger Auseinandersetzungen und Zähmungsversuche sagen, dass der Mensch über Jahrtausende mit der Natur in einer Symbiose lebte. In der Neuzeit ist an die Stelle dieser Form des Zusammenlebens das Verhältnis einer progressiven Herrschaft getreten. Daran sind viele Faktoren beteiligt. Die praktische Naturbewältigung wird theoretisch durchdrungen. Das Wissen geht nicht mehr von allgemein anerkannten Voraussetzungen aus, sondern schafft sich diese im Sinne von Hypothesen. Dies eröffnet qualitativ neue, noch nicht dargewesene Möglichkeiten. Die Einsicht in die Natur kann so auch andere Hinweise auf die Herstellung geben als die Empfehlung der Nachahmung, es nämlich so zu machen, wie die Natur es machen würde. Am vorgegebenen Stoff interessieren die gewünschten Eigenschaften. Immer mehr werden aus den zufällig hantierenden und tastenden Alchimisten eher Architekten eines gewaltigen Werkes. Die wissenschaftliche Erkenntnis ist konstruktiv geworden, weil sie den Entstehungsprozess ihrer Gegenstände rekonstruiert. Die exakte Naturwissenschaft verbindet sich mit einer technisch?praktischen Daseinsbewältigung. Der Prozess einer fortschreitenden Unterwerfung der Natur unter den Menschen, dem sich die Natur als Objekt entgegenstellt, geht dabei weniger auf das „Wesen“ oder eine „Wesensordnung“ zurück, sondern interessiert sich für die quantitativen Grundbestimmungen (Kraft, Größe, Masse, Dichte, Geschwindigkeit usw.). Die Technik ist folgerichtig nicht bloß die nachträgliche „Anwendung“ der Naturwissenschaften, sondern diese sind von Haus aus auf Welteroberung, Umgestaltung und Herstellung ausgerichtet.

 Zur Struktur dieser Beherrschung der Welt gehört unabtrennbar der Begriff des Fortschritts. „Wir schreiten zurück, wenn wir nicht fortschreiten, weil man nicht stehen bleiben kann“, schreibt Leibniz an den Rand bei der Lektüre des Buches „Wissenschaft der Theologie“ von Helmonts. Wenn die Macht nicht vermehrt wird, muss man fürchten, sie zu verlieren. Dieser Fortschritt ohne Regression vollzieht sich in allen Bereichen der Gesellschaft, der Politik und der Moralität. Durch den Fortschritt geschieht der Übergang der Menschheitsgeschichte vom Schlechteren zum Besseren. Da dieser Fortschritt nicht nur als erkennende Betrachtung einer unverfügbaren Welt verstanden wird, sondern sich als Forschung, Entdeckung und Konstruktion vollzieht, zielt er auf eine Form menschlicher Praxis, welche die Natur immer mehr der Herrschaft des Menschen unterwirft. Die Geschichte wird dadurch zu einer gesteigerten Befreiung des Menschen von der Übermacht der Naturgewalten wie auch von allen sonstigen Behinderungen.

 Im Grunde leben wir selbst noch, auch wenn unser „Fortschrittsglaube“ erschüttert ist, in einer solchen Denkweise. Der Mensch nimmt darum auch Nebenwirkungen, die schädlich sind, in Kauf. Man denke etwa an eine Übernutzung der Natur, an die Verwendung von Mitteln zur Produktionssteigerung oder an die Pharmakologie. Aber die „Errungenschaft“ ist viel stärker, so dass die Sensibilisierung für negative Folgen außerordentlich schwierig ist. Die am „Vorteil“ orientierte Rationalität scheint unaufhaltsam fortzuschreiten: die unfruchtbare Frau wird ihr Retortenbaby durchsetzen; die schwangere Frau wird ein potentiell mongoloides Kind nicht austragen wollen; die genmanipulierte Sortenzüchtung im Bereich der Agrarbiologie und Pharmakologie konnten so mehr und mehr das Selbstverständliche werden. Negative Folgen, die abschätzbar sind, werden von vornherein akzeptiert. So waren auch die negativen Folgen der Empfängnisverhütung weitgehend prognostizierbar: Gefahr des Unernstes intimer Beziehungen, die unbewältigte neue Freiheit der Frau, der Rückgang der Zahl der Neugeborenen.

 Die Zweifel an diesem zum Klischee gewordenen Verständnis der menschlichen Geschichte als eines endlosen Fortschritts sind heute allgemein geworden. Die Verheißung der modernen Technik ist in Drohung umgeschlagen. Der Prozess der naturwüchsigen Beherrschung der Welt ist an einem Punkt angelangt, wo er sich gegen den Menschen selbst wendet. Erstmals kommt zum Bewusstsein, dass die Ressourcen der Natur im Blick auf die Lebensbedingungen der menschlichen Gattung begrenzt sind. Die Verfeinerung überkommener und die Entwicklung neuer Geräte bis zu Systemen, wie z.B. der Kybernetik, ersetzen immer mehr Funktionen des Menschen im Umgang mit der Natur und den Mitmenschen. Es entsteht ein „System zweiter Ordnung“, das nun rückwirkend einen beinahe unausweichlichen Zwang verursacht und damit neue Abhängigkeiten schafft. Man denke an die Datenerfassung durch Computer und an die neuen Medien. Die Natur und das menschliche Leben werden mehr und mehr in den Prozess einer technischen Funktionalität hineingenommen. Dadurch kann sich die Herrschaft des Menschen über den Menschen vergrößern. Eine wachsende Manipulation scheint geradezu notwendig zu sein, um den Menschen zu einem funktionierenden Teil seiner eigenen Weltbeherrschung und ihrer Mechanismen zu machen.

 Diese Steigerung der technischen Machbarkeit wird von den einen begrüßt, von den anderen beklagt. Für die Bejahung spricht vor allem ihr Verständnis als Grundlage einer sich weithin ausbreitenden Freiheit. Der technische Fortschritt befreit von den Zwängen der Herkunft und der Tradition; Massenkonsum und Massenproduktion befreien von materieller Not; gesellschaftliche Unterschiede werden verringert; Rationalität schließt das Undurchschaubare aus. Vielen erscheinen die Herrschaft der Demokratie und die geforderte Transparenz unserer Welt durch die Medien als die Garanten dieser neu gewonnenen Freiheit. Die Kritik dieser optimistischen Beurteilung liegt auf der Hand: An die Stelle des „Reiches des autonomen Menschen“ sei längst ein System schwer durchschaubarer Abhängigkeiten getreten; statt materieller Not würde der Zwang immer neuer Bedürfnisse als nicht minder drückend empfunden; die Freiheit werde durch „Entpersönlichung“ und „Gleichschaltung“ bezahlt. Wie die gegenwärtigen Diskussionen zeigen, lässt sich der Dualismus dieser gegensätzlichen Haltungen nur sehr schwer auflösen, auch wenn es kompromissartige Zwischenlösungen gibt, die allerdings nicht viel Überzeugungskraft in sich bergen.

 III. Notwendigkeit und Kriterien der ethischen Verantwortung

 Eine Grundschwierigkeit des Problems besteht darin, dass die Spannung zwischen dem technisch Machbaren und dem sittlich Verantwortbaren meist überhaupt nicht wahrgenommen wird. Es mangelt auf weite Strecken an Sensibilität für die sittlichen Implikationen neuzeitlicher Naturbeherrschung. Sie erscheint nicht selten schon durch sich selbst gerechtfertigt: durch ihre Erfolge, durch ihre immer mehr um sich greifende Tendenz, durch ihre Veränderungsmöglichkeiten, durch ihr allgemeines Akzeptiertsein. Die Dominanz neoliberalen Denkens steigert diese Einstellung. Es gibt dadurch eine fast unangreifbare Immunität wichtiger technischer Prozesse gegenüber ethischen Anfragen. Wo sind diese mangelnden Sensibilitäten nun genauer begründet und wie lassen sie sich überhaupt aufspüren?

 Zunächst ist die Eigendynamik der technischen Machbarkeit zu nennen. Vieles von dem, was hergestellt werden konnte, verfahrensmäßig technologisch erreichbar war, hat bis in unsere Zeit hinein eine derartige Suggestivkraft gewonnen, dass es beinahe normative Kraft annahm. Je höher der Entwicklungsstand der Technik in einzelnen Bereichen ist, desto radikaler scheint sich die Weiterentwicklung zu beschleunigen. Die Anstöße zum „Fortschritt“ geschehen fast automatisch. Es ist nicht zufällig, dass in diesem Zusammenhang oft die Bilder eines abgefahrenen, sich immer mehr beschleunigenden Zuges, der nicht mehr gebremst werden kann, und einer Lawine, die ihre unwiderstehliche Kraft und Bewegung mitbringt, Verwendung finden. Im Zug der neuzeitlichen Naturbeherrschung wird die Veränderung von vornherein legitimiert und erscheint so immer wieder als notwendige „Optimierung“.

 Ein weiterer Grund für das Zurücktreten des Bewusstseins um die sittliche Verantwortung technologischer Prozesse liegt nicht selten in der Anonymität des Geschehens. Dies hängt nicht nur mit der Eigendynamik dieses Prozesses und der Arbeitsteilung bzw. Teamarbeit der daran Beteiligten zusammen, sondern viele Prozesse laufen in ihrer Zwangsläufigkeit geradezu ohne eindeutig erkennbares und Verantwortung tragendes Subjekt ab. Niemand hat mehr eine individuelle Steuerungsmöglichkeit für das Ganze, auch wenn jeder zu seinem Teil zum „Funktionieren“ eines Systems beiträgt. So kann auch nicht immer leicht das beliebte „Verursacherprinzip“ angerufen werden, da sich in vielen Bereichen konvergierende Effekte, die sich unterschwellig ergänzen, anhäufen, sich so zur Schädlichkeit aufsummieren und einen erträglichen Schwellenwert überschreiten (vgl. Luftverschmutzung, DDT-Kumulation). Diese Strukturen verstärken die relative Unkontrollierbarkeit und vermindern so auch die sittliche Verantwortungsfähigkeit.

 Eine gewisse Chance besteht darin, dass sich eine neue ethische Betrachtung des technisch Machbaren trotz dieser Tendenzen beinahe wie von selbst auferlegt. „Der endgültig entfesselte Prometheus, dem die Wissenschaft nie gekannte Kräfte und die Wirtschaft den rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden.“ H. Jonas führt fünf Gründe an, warum die moderne Technik eine neuen und besonderen Fall bildet, der eine solche ethische Betrachtung verlangt:

 1.Es gibt eine tiefe Ambivalenz der Wirkungen in der Technik. Diese beruht nicht nur in der Möglichkeit des Missbrauchs, wie es bei allen Werkzeugen möglich ist. Selbst wenn die Technik gutwillig für ihre höchst legitimen Zwecke eingesetzt wird, hat sie eine bedrohliche Komponente an sich. Wenigstens langfristig könnte ihre angenommene „Neutralität“ versagen. „Die Gefahr liegt mehr im Erfolg als im Versagen ? und doch ist der Erfolg nötig unter dem Druck der menschlichen Bedürfnisse.“ Die „Wertneutralität“ der modernen Technik, vor allem im Bereich der Biologie und Medizin, erscheint so letztlich als eine naive Illusion. Es genügt darum auch nicht, erst beim Übergang von der Erkenntnis zur „Anwendung“ auf die ethische Dimension zu achten.

 2.Die Zwangsläufigkeit der Anwendung technischer Fähigkeiten resultiert aus dem Faktum, dass das sonst so einleuchtende Verhältnis von Können und Tun, Besitz und Ausübung einer Macht aufgrund des technischen Potenzials und der ganzen Lebensgestaltung unsere heutige Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar trifft. „So wird der Technik, die gesteigerte menschliche Macht in permanenter Tätigkeit ist, nicht nur ... die Freistatt ethischer Neutralität, sondern auch die wohltätige Trennung zwischen Besitz und Ausübung der Macht versagt ... Daher trägt hier bereits die Aneignung neuer Fähigkeiten, jede Hinzufügung zum Arsenal der Mittel, mit dieser sattsam bekannten Dynamik vor Augen eine ethische Bürde, die sonst nur auf den einzelnen Fällen ihrer Anwendung lasten würde.“

 3.Da die moderne Technik auf „Großgebrauch“ angelegt ist und in Raum und Zeit weithin globale Ausmaße erreicht, wird das Leben von Millionen gegenwärtig und künftig lebender Menschen beeinflusst. „Wir legen Hypotheken auf künftiges Leben für gegenwärtige kurzfristige Vorteile und Bedürfnisse ? und was das betrifft, für meist selbsterzeugte Bedürfnisse.“

 4.Eine nur anthropozentrische Ethik hat ihr Recht verloren, da die fast monopolistische Macht über alles andere Leben und die damit gegebene Rücksichtslosigkeit durchbrochen werden müssen. Dies ist nicht nur eine Frage des wohlbedachten Eigennutzes, weil der Mensch darauf angewiesen bleibt; es ist grundsätzlicher, denn verarmtes nichtmenschliches Leben bedeutet auch ein dürftiges menschliches Existieren. Vielmehr ist das, was für den Menschen gut ist, mit der Sache des Lebens im Ganzen eng verbunden. So muss auch das außermenschliche Leben in seinem eigenen Recht anerkannt werden. Dies ist aber nur möglich, wenn die menschliche Verantwortung über den bisherigen Bereich hinaus ausgedehnt wird.

 5.Das apokalyptische Potential der Technik, nämlich den Fortbestand der Menschengattung zu gefährden oder ihre Integrität zu ändern, verklammert die „metaphysische“ Frage wie nie zuvor mit der Ethik: Soll es überhaupt eine Menschheit geben? Warum soll denn der Mensch so, wie ihn die Evolution bisher hervorgebracht hat, erhalten bleiben? Warum soll es überhaupt Leben geben? „Wenn es ein kategorischer Imperativ für die Menschheit ist zu existieren, dann ist jedes selbstmörderische Spielen mit dieser Existenz kategorisch verboten, und technische Wagnisse, bei denen auch nur im entferntesten dies der Einsatz ist, sind von vornherein auszuschließen.“

 Wie immer man diese Perspektiven und Erfahrungen wertet, jedenfalls lässt sich aus ihrem Befund in Verbindung mit der aufgezeigten Einheit von Erkenntnis und Naturbeherrschung folgern, dass man Erkenntnisgewinn und Verantwortung der Wissenschaft nicht einfach mehr voneinander trennen darf. Die ethische Dimension wird also nicht „von außen“ oder „von oben“ gefördert bzw. auferlegt, sondern sie ist eine Dimension der Sache selbst. Diese Einsicht ist nicht selbstverständlich und auch nicht so alt. Ich möchte dafür eine Aussage anführen, die Carl Friedrich von Weizsäcker bald nach der berühmten „Erklärung der 18 Atomwissenschaftler vom 12. April 1957“ in einem Vortrag „Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter“ formuliert hat: „Jeder Naturwissenschaftler lernt die Sorgfalt beim Experimentieren, ohne die seine Wissenschaft in Geflunker ausarten würde. Ich glaube, solange uns die Sorgfalt bei der Prüfung der Rückwirkungen unserer Erfindungen auf das menschliche Leben nicht ebenso selbstverständlich ist, wie die Sorgfalt beim Experimentieren, sind wir zum Leben im technischen Zeitalter nicht reif. Man hat an einen hippokratischen Eid für Naturwissenschaftler und Techniker gedacht ... Es wird nicht leicht sein, eine solche Verpflichtung hinreichend konkret zu formulieren, aber sie wird sich wohl als nötig erweisen. Ich glaube im übrigen, dass eine solche Verpflichtung zunächst nicht von oben auferlegt werden kann, sondern durch freiwilligen Entschluss weniger beginnen muss. ? Ein Hauptproblem für den Naturwissenschaftler und Techniker, der verantwortlich handeln will, ist seine Verflochtenheit in gesellschaftliche, in wirtschaftliche und politische Zusammenhänge. Er will wohl Leben fördern und nicht gefährden; aber erlaubt es ihm die Struktur der Welt, in der er lebt?“ In den bald 50 Jahren, seitdem diese Aussage formuliert worden ist, hat sich die Dringlichkeit und Notwendigkeit dieser Forderung zweifellos noch mehr erhärtet.

 IV. Das Austragen des Grundkonfliktes zwischen dem technisch Machbaren und dem ethischen Verantwortbaren

 Kann man dem Konflikt zwischen dem technisch Machbaren und dem sittlich Verantwortbaren entfliehen? Dies ist eine Versuchung, die den Menschen immer wieder überkommen wird, Dafür gibt es verschiedene Formen. Zunächst gibt es die Verführung durch das Machbare. Der Fortschrittsglaube, der trotz aller kritischen Bedenken noch lange nicht tot ist, gibt sich naiv oder sicher gegenüber möglichen Gefahren. Er täuscht vor, alle möglichen Risiken vollkommen zu beherrschen. „Absolute Sicherheit“ wird versprochen, Gelegentlich kommt es zu einer seltsamen Verbindung dieses Fortschrittsglaubens mit kommerziellen Gesichtspunkten und visionären Utopien. So wurde z.B. in den USA propagiert, die Vorzüge der technischen Befruchtung seien unvergleichlich größer als die „natürlichen“ Wege. Dadurch könnten häufig auftretende schwere Geburtsfehler weitgehend eingeschränkt werden. Darum müsse die technische Befruchtung eher die Regel als die Ausnahme sein. Im übrigen seien Retortenkinder intelligenter als natürlich gezeugte Kinder. Bald waren auch Schlagzeilen zu lesen wie: „Retortenbabys sind klüger und kräftiger“ und „Babys: Die aus dem Glas sind die besseren.“

 Auf der anderen Seite gibt es auch nicht selten die Weigerung, Erkenntnisgewinn anzustreben und zu erwerben. Wir werden zwar ohne eine Selbstbeschränkung des menschlichen Herstellens und damit auch ohne einen Verzicht auf bestimmtes Wissen, das nur durch schwere Schädigung von Leben gewonnen werden kann, nicht auskommen können, aber die grundlegende Idee eines „verbotenen Wissens“ scheint mir nicht weit zu führen. Schon heute muss man sich klar darüber sein, dass wir ohne eine hohe Ausschöpfung des technisch Möglichen die gegenwärtige und erst recht die künftige Menschheit kaum werden ernähren können. Die Zivilisationskritik und die Opposition gegen Technik und Industrie sind ein altes, gerade deutsches Erbe. Die Technik trägt seit alters den Makel der Blasphemie und der Rebellion, die ihre gerechte Strafe findet. Prometheus wird angeschmiedet, Ikaros stürzt ab. Der Erfinder gilt bis ins 19. Jahrhundert als ein unseriöser Schwindler oder als ein Magier, der mit finsteren Mächten im Bunde steht.

 Diesen extremen Versuchungen gegenüber muss man jedoch betonen, dass der Mensch niemals diesem „Grundkonflikt“ entkommen kann. Er darf dies überhaupt nicht versuchen, sonst würde er sein Wesen der „Mitte“ verfehlen. Um dies aufzuzeigen, möchte ich in aller Knappheit auf eine heute vielfach erörterte Verhältnisbestimmung des menschlichen Lebens zurückkommen. Diese ist unmittelbar an der jahwistischen Schöpfungserzählung gewonnen, stellt aber eine allgemeine anthropologische Grundaussage dar. Jede menschliche Arbeit nimmt in irgendeiner Weise teil an dem „Bebauen“ und „Bewahren“(vgl. Gen 2,15). Der Mensch darf sich nicht einfach nur auf die Seite des erobernden und umgestaltenden Bearbeitens schlagen. Sonst kann aus dem noch sinnvollen Roden ein Werk der Zerstörung werden. Er ist aber auch nicht einfach nur der Hegende, der allen Wildwuchs zulässt. Er bewahrt nur dann, wenn er auch eingreift, pflegt und zähmt, Ausleseprozesse in der Natur beobachtet und fortführt.

 Der Doppelsinn der beiden Aussagen „Bebauen“ und „Bewahren“ zeigt sich noch im ursprünglichen Wortsinn von „Kultur“, denn „colere“ als Wurzel für Kultur bedeutet zugleich bebauen und hegen. Beide Ausdrücke sind komplementär zu verstehen. „Bebauen“ bedeutet die schöpferische Tätigkeit des Menschen, heißt Eroberung der Welt, Umgestaltung und Konstruktion, Entwerfen und Erfinden. Man darf dies nicht einfach mit Raubbau und Ausbeutung identifizieren. Einer solchen Interpretation steht nämlich der spannungsvolle Bezug zum „Bewahren“ entgegen. Der Boden darf nicht nur bearbeitet, er muss auch vor Schädigungen bewahrt werden. Zerstörung muss verhindert werden. Der Mensch ist nur Mensch, wenn er zugleich an beiden Vollzugsweisen seines Daseins teilhat, indem er nämlich schöpferische Beherrschung der Natur ausübt und zugleich mit dieser Natur und in ihr lebt. Wenn der Mensch glaubt, er könne diese Grundspannung in seinem Wirken und in seinem Verhältnis zur Welt auflösen, gleichsam aus diesem Urverhältnis „aussteigen“, dann verfehlt er tatsächlich sich selbst. Er ist ein Wesen der Mitte, das immer wieder neu Balance und Ausgleich zwischen diesen beiden Dimensionen finden muss. Wenn man dem Menschen eine dieser Dimensionen abspricht oder eine übertreibt, gefährdet man ?wenigstens auf die Dauer ? seine Lebensbedingungen. Diese anthropologische Doppeleigenschaft des Bebauens und Bewahrens ist übrigens nicht nur gut in der Bibel begründet, sondern findet sich auch in modernen philosophischen Entwürfen, z.B. bei R. Guardini und M. Heidegger.

 Es dürfte kein Zweifel sein, dass dem Menschen heute angesichts des Übermaßes der wissenschaftlich multiplizierten technologischen Macht eine neue Wachheit im Blick auf die Aufgabe des Bewahrens zu eigen werden muss. H. Jonas hat darum gewiss eine wichtige Einsicht formuliert, wenn er eine Erweiterung des Gedankens der Verantwortung postuliert hat: Einmal wird die Natur als ganze zum Gegenstand menschlichen Handelns. Zum anderen treten die Unumkehrbarkeit und die kumulative Addition vieler Wirkungen hinzu. „Keine frühere Ethik hatte die globale Bedingung menschlichen Lebens und die ferne Zukunft, ja Existenz der Gattung zu berücksichtigen. Dass eben sie heute im Spiele sind, verlangt, mit einem Wort, eine neue Auffassung von Rechten und Pflichten, für die keine frühere Ethik und Metaphysik auch nur die Prinzipien, geschweige denn die fertige Doktrin bietet.“ Wir wollen in diesem Zusammenhang die zuletzt vorgetragene Behauptung nicht überprüfen, dass keine frühere Ethik den Menschen auf eine solche Aufgabe vorbereitet habe. Eine neue Dimension dürfte in der Tat jedoch darin liegen, dass es bei der Verantwortung nicht nur um ein sittliches Grundprinzip geht, das ausschließlich an Individuen gerichtet ist, sondern dass der neue ethische Imperativ sich an einen kollektiven „Täter“ wendet und sich auf die zukünftige Existenz der Menschheit bezieht. H. Jonas formuliert unter diesen Voraussetzungen einen ethischen Imperativ, der an Kant erinnert, zugleich aber auf den neuen Typ menschlichen Handelns passt: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens“ oder die einfache Variante: „Gefährde nicht die Bedingungen für den indefinitiven Fortbestand der Menschheit auf Erden“, oder aber in der positiven Form: „Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines Wollens ein.“

 Auch wenn die Distanz zur bisherigen Ethik vielleicht keine so tiefe Kluft darstellt, wie H. Jonas meint, so ist der neue Akzent in einem erweiterten Verantwortungskonzept nicht zu übersehen: Es geht nicht nur um die kausale Zurechnung begangener Taten, die in der Vergangenheit liegen , sondern der Blick geht von der rückwirkend zuzuschreibenden, gleichsam „nachträglichen“ Verantwortung zur prospektiv orientierten Sorge. Diese Verantwortung für die geschichtliche Zukunft ist vor allem durch Kontrollfähigkeit und das Verfügenskönnen über die Macht selbst bestimmt. Natürlich darf man deshalb die traditionelle Handlungsverantwortung nicht beiseite schieben oder ignorieren.

 Die Annahme einer so verstandenen Verantwortung ist bereits eine wesentliche Voraussetzung sittlichen Verhaltens. Diese Sorge für die geschichtliche Zukunft von Welt und Mensch zeigt sich auch z.B. im Maßhalten. Dies gilt nicht nur z.B. für den Verbrauch von Land und Rohstoffen, sondern überhaupt für die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit, mit dem Reichtum und den technischen Möglichkeiten umzugehen. Das neue Maßhalten bezieht sich auf unsere Zielsetzung, auf die Erwartungen und auf die Lebensführung. Wir verfolgen zügellos unsere Ziele, oft ohne nach den voraussehbaren Folgen zu fragen. Es gelangt eine ganz neue Stufe der Mäßigung in den Blick, wenn wir das menschliche Können und den Erwerb neuer Macht ins Auge fassen. Bisher musste man den Menschen kaum vor dem Vollbringen von Höchstleistungen warnen. Jetzt erhebt sich die Frage, ob nicht Zurückhaltung ein Gebot werden kann, etwa bei den Versuchen einer Verlängerung menschlichen Lebens um jeden Preis, bei der psychologischen Lenkung des Menschen, bei Manipulationen mit dem Keim? und Erbgut, bei den Möglichkeiten der „Neuen Medien“ usw. Kann der Mensch eine einmal erworbene und erlernte Macht rechtzeitig bremsen? Verzichte solcher Art zugunsten der ganzen Menschheit wären schon längst gefordert, wenn wir z.B. an die moderne Waffenentwicklung und an die immer noch bestehende Not in weiten Erdteilen denken. Maßhalten können im Erwerb und Gebrauch der Macht entscheiden über die Zukunft und die Freiheit in einer Welt von morgen.

 Dies sind neue Perspektiven und Maßstäbe für die gigantischen Möglichkeiten heutiger Naturbeherrschung und technischer Eingriffe in alles Lebendige.

 V. Prinzipielle Kriterien

 Bisher ging es um das Herausstellen von neuen Grundhaltungen. Diese geben die Richtung des Verhaltens an, aber sie sind nicht „leer“. Darum sollen in einem letzten Teil einige eher inhaltliche Kriterien und Normen formuliert werden, die zugleich den Verhaltenskodex beim „Ausgleich“ zwischen dem technisch Machbaren und dem sittlich Verantwortbaren konkretisieren.

 Es gibt nicht wenige Autoren, die der Meinung sind, es gebe und brauche kein eigenes Ethos für diese Grundkonflikte der modernen Zivilisation. Die bisher gültigen Maßstäbe allein sollen genügen. So werden ? besonders im Blick auf die Humanmedizin und Eingriffe in das menschliche Leben ? allgemeine Prinzipien genannt, die den „Grundrechten“ entsprechen: Achtung der Würde des Menschen, Anerkennen des Einzelnen als Person, Recht auf Leben, Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit, Selbstbestimmung des Menschen unter Beachtung gleicher Rechte für alle, Gebot, den Menschen nicht als Mittel zum Zweck in Anspruch zu nehmen. Diese Grundsätze müssen natürlich in die konkrete Situation umgesetzt und den Neuentwicklungen ethischer Dimensionen angepasst werden. Sie orientieren sich an den Folgen unserer Handlungen oder an den Unterlassungen. Wenn diese Postulate wirklich gewissenhaft beachtet werden und z.B. nicht einfach von Motiven der Kosten?Nutzen?Relation oder gar des Profits überrollt werden, können sie in sehr vielen Bereichen eine grundlegende Orientierung schaffen und vor Schaden bewahren.

 Eine andere Annäherung an die konkrete ethische Bewertung kann in dreifacher Hinsicht erfolgen:

 1.Es kommt auf die gegenständlichen Bereiche selbst an. In ihnen darf man keineswegs ethische Einsicht und Entscheidung von Wissenschaft und Technik schlechthin trennen. Die gilt z.B. für die verschiedenen Formen der In-vitro-Fertilisation und des Einbryotransfers. Dies ist nicht nur eine ? etwa in den Grenzen einer Ehe ? legitime biologisch-medizinische Ersatzhandlung, sondern kann auch als eine Bedrohung des Humanum begriffen werden, weil das, was in der Intimität ehelicher Gemeinschaft geschieht, durch ein technisches Verfahren ersetzt wird. Mann und Frau stellen nur die „Materialien“ bereit, aber sie sind nicht die Zeugenden und Empfangenden. Man kann also auch eine homologe Insemination nicht einfach mit einer Bluttransfusion oder einer Netzhautübertragung vergleichen. Die radikale Aufspaltung der physiologischen und der personalen Dimension des Geschlechtlichen verkennt die konkrete Form der ehelichen Gemeinschaft. Der Forscher stößt also in diesen Bereichen auf ethische Implikationen. Weitergefragt: Kann er z.B. mit einem befruchteten menschlichen Ei in gleicher Weise verfahren wie mit dem Ei eines Kaninchens (von der keineswegs so harmlosen Manipulation mit Eiern von Tieren einmal abgesehen)? Wenn ein Forscher nach Entscheidungskriterien sucht, wird es von Bedeutung sein, ob er den Menschen als eine vernunftbegabte freie Person, als „Zigeuner am Rand des Weltalls“, als Kulminationspunkt der Materie und den Embryo als menschliches Subjekt oder als „Zellklumpen“ bewertet.

 2.Ethische Implikationen stecken auch in der Rechtfertigung der Ziele. Alle Herstellung und jeder Eingriff müssen sich nach der Vernünftigkeit der Ziele fragen lassen. Jenseits eines vordergründigen Zweckes gibt es Grundziele, denen die einzelnen Maßnahmen verpflichtet sind: z.B. soziale Sicherung, allgemeiner Wohlstand, Befreiung von den Zwängen niederdrückender Arbeit. Die Ziele von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft müssen jeweils argumentativ legitimiert werden. Bei einem solchen Versuch kommen ? ob dies erkannt und zugestanden wird oder nicht – anthropologische und ethische Implikationen ins Spiel. Ein Ziel besteht z.B. in der Selbstverwirklichung des Menschen in den Dimensionen von Personalität, Sozialität und Leiblichkeit. Bei den konkreten Entscheidungen muss man jeweils auch auf die „Werthöhe“ und die „Wertdringlichkeit“ der Ziele und Zwecke achten. Dabei muss geprüft werden, ob die Notwendigkeit technologischer Innovationen so eindeutig ist, dass bestimmte negative Auswirkungen hingenommen werden können. Größte Wachsamkeit ist jedoch erforderlich, wenn durch neue Entwicklungen irreparable negative Nebenwirkungen entstehen und unheilbare Schädigungen in Kauf genommen werden müssen.

 A. Auer fasst folgende Maximen für eine Grundorientierung zusammen: „Erstens: Selbstverständliche und unverzichtbare sachliche Voraussetzung jeden Experimentierens muss sein, dass keine ernsthafte Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit von Menschen zu befürchten ist. Das Risiko gewisser Nebenwirkungen kann nach dem Prinzip der Güterabwägung in Kauf genommen werden. Zweitens: Die personale Würde des Menschen ist zu achten. Dies muss sich darin zeigen, dass der Charakter der Freiwilligkeit unbedingt gewahrt wird. Einzige Ausnahme kann die Prüfung neuer Heilmittel sein ... Die personale Würde muss weiterhin dadurch geachtet werden, dass die menschliche Persönlichkeit in ihrem Eigenstand und ihrer Eigenverantwortung respektiert bleibt, dass also Eingriffe vermieden werden, die eine einschneidende Persönlichkeitsveränderung zur Folge haben. Drittens: Selbstmanipulation darf nicht dazu führen, dass im Menschen schließlich überhaupt jede Bereitschaft aufhört, notwendige und unumgängliche Bestimmtheiten seines Daseins in Freiheit anzunehmen. Denn diese Bereitschaft ist eine Grundaufgabe der freien sittlichen Existenz des Menschen. Es gibt keine totale Verplanung und keine totale Machbarkeit des Menschen.“

 3.Ethische Implikationen müssen auch in der Verantwortung von Folgen beachtet werden. Dies wird bei der Nutzung der Kernenergie rasch evident. Mit den atomaren Möglichkeiten ziehen auch Gefahren auf, denen die Menschheit nicht gewachsen sein könnte. Die ballistischen Raketen, die den Forscher in den Weltraum bringen, kann man mit Atomköpfen ausrüsten, so dass sie zu einem Kriegsmaterial mit unabsehbarer Vernichtungskraft werden. Schon diese wenigen Hinweise zeigen, dass auch hier im Blick auf die Folgen die sittlichen Potenzen des Menschen geweckt werden müssen. Die Zukunft muss ethisch, sie kann bei allem Einsatz neuer Errungenschaften nie nur „technisch“ bewältigt werden.

 VI. Grenzen der Rechtfertigung des technisch Machbaren

 Damit ist wenigstens in einem ersten Anlauf die Art der Verantwortlichkeit im Blick auf Sachgebiete, Ziele und Folgen näher bestimmt. Es erscheint jedoch wichtig, die Grenzen der Rechtfertigung solcher Ziele und der Verantwortung von Folgen nochmals genauer ins Auge zu fassen. Dafür möchte ich ohne Anspruch auf Vollständigkeit wenigstens einige Kriterien nennen:

 1.Beim Menschen erscheint es selbstverständlich, dass wir seinen Eigenwert achten. Erst heute fragen wir uns mehr und mehr, ob nicht auch die nichtmenschliche Natur ein eigenes Recht auf Leben hat. Sie darf jedenfalls nicht total vernutzt und bedenkenlos verbraucht werden. Dadurch dass sie ist, ist ihr ein eigener Selbststand zu eigen, der eine Anerkennung verlangt. Natürlich ist das Maß dieses Rechtes verschieden gestuft, aber man wird die grundsätzliche Anerkennung als eigene und irrreduzible Wirklichkeit akzeptieren. Besonders wichtig wird dieses Argument bei der nutzungsorientierten Züchtung von Tieren und bei der Beurteilung von Tierexperimenten.

 Mit diesem Postulat, das theologisch im Verständnis der Kreatürlichkeit alles Geschaffenen verankert ist, ist auch jene anthropozentrische Weltdeutung fraglich geworden, die alles nur in den Kategorien des dem Menschen unmittelbar Nützlichen erblickt und hemmungslosen Raubbau bzw. Zerstörung zulässt. Es dürfte freilich nicht leicht sein, außerhalb eines schöpfungstheologischen Ansatzes eine letzte Unversehrtheit der nichtmenschlichen Natur zu postulieren. Gerade heute geht freilich „ein stummer Appell um Schonung ihrer Integrität ... von der bedrohten Fülle der Lebenswelt“ aus. Aber ohne Metaphysik lässt sich eine solche Ethik in letzter Instanz kaum begründen.

 2.Die Wirklichkeit, in der wir leben und die wir sind, ist endlich. Dies schließt auch Unvollkommenheiten ein. Es ist für den Menschen schwer, diese Begrenztheit seines Daseins anzunehmen, vor allem die Sterblichkeit seines eigenen Lebens. Es gibt im Menschen eine Urrevolte, diese Unvollkommenheiten gänzlich abzustreifen. Hier muss freilich genau unterschieden werden. Es geht nicht um einen falschen Begriff von „Natürlichkeit“, auch nicht um einen romantischen Horror nur vor Technizität und „Künstlichkeit“. Der Mensch ist nie nur einfach Natur, er ist immer schon ein Wesen geformter und kulturell gepflegter, gestalteter und wiederhergestellter Natur. So dürfen und müssen auch Eingriffe zu Heilzwecken vorgenommen werden. Eine Grenze verläuft jedoch dort, wo der Mensch sein Wesen qualitativ durch technische Eingriffe verbessern und einen „neuen Menschen“ schaffen will. Hier droht eine Weigerung, sich selbst in den Grenzen des endlichen Lebens anzunehmen. Auch eine solche Demut vor dem Sein wird man am Ende nur theologisch begründen können.

 Mit diesen Aussagen ist noch eine andere Wertung der „Natürlichkeit“ verbunden. Die Botschaft der Natur macht uns deutlich, dass menschliches Leben untrennbar mit Fülle, Vielfalt, Normabweichungen und auch Begrenztheiten bis zu Krankheiten verknüpft ist. Auch wenn wir noch so viel Korrekturmöglichkeiten haben, so kann es doch nicht das Ziel sein, den Menschen physiologisch oder genetisch auf ein Idealmaß hin zu optimieren. Vielmehr müssen wir uns auf seine unvollkommene, vielgestaltige Natur einrichten. Wenn dies nicht geschieht, dann wird menschliches Leben nach äußeren Gesichtspunkten ganz verschiedener Wertskalen beurteilt und zur Disposition gestellt (Intelligenz, Schönheit, Eignung zu Höchstleistungen usw.), wie einzelne Auswüchse (Samenbänke usw.) erkennen lassen und manche Methoden (Genomanalyse, pränatale Diagnostik) Missbräuche erahnen lassen.

 3.Wer nur das technisch Machbare im Blick hat, verkennt die Fülle der Wirklichkeit. Realität ist nicht nur das Machbare. Dieses ist vielmehr nur ein bestimmter Aspekt der Gesamtwirklichkeit. Wer nur in dieser Perspektive sieht und urteilt, erliegt einer verhängnisvollen Blickverengung. Dies soll an einem Beispiel der In-vitro-Fertilisation anschaulich gemacht werden, auf das Prof. Dr. Peter Petersen von der Medizinischen Hochschule Hannover schon vor Jahren in einem Sondervotum zum so genannten „Benda-Bericht“ aufmerksam gemacht hat: „Wenn es wahr ist, dass nach dem Menschenverständnis unserer Zivilisation der Mensch zuerst geistige Person und ein seelisches Wesen ist ..., so wird mit dieser Befruchtungstechnologie dem vorgeburtlichen ein biotechnisches Menschenbild übergestülpt, das seine geistige und seelische Natur überhaupt nicht beachtet. Schäden für die zukünftige Biographie des biotechnisch gezeugten Menschen sind schon aus diesen allgemeinen Überlegungen heraus zu erwarten.“ Petersen vergleicht die technisch, ja nur technisch angewandte Retortenbefruchtung mit einem Riesenbagger, „der in einem Seidenraupengespinst arbeitet ? sicherlich werden dabei einzelne Seidenfäden mit der Baggerschaufel zutage kommen, aber das Seidengeflecht als Ganzes wird zerstört sein.“ Er verweist auf die hochempfindliche Sensibilität, die personale Beteiligung und die Schutzbedürftigkeit menschlicher Zeugung und Empfängnis im Unterschied zur kühl distanzierten Atmosphäre eines Befruchtungslabors in einer Klinik. Dabei geht es nicht nur um emotionale Gewohnheiten, sondern um tiefreichende Veränderungen menschlichen Lebens und Zusammenlebens: Auswahl der Paare als Anfang der Menschenzüchtung, Anonymisierung von Verantwortung durch die Retortenbefruchtung, Verlagerung der Verantwortung auf den Arzt, die Frau als Fruchtbarkeitsmaschine, langfristige schädliche Folgen bei den Kindern, die freilich erst nach vielen Jahren offenkundig werden können. Petersen weist auf neuere Entdeckungen bei Eingriffen in die menschliche Fruchtbarkeit hin: „bei der hormonalen Kontrazeption (so genannte Anti-Babypille) und nach dem Schwangerschaftsabbruch sind leichte bis mittelschwere psychische und psychosomatische Störungen langfristig in größerer Zahl beobachtet worden, als man ursprünglich ahnte.“ Der Psychologe und Gynäkologe macht schließlich auf die Folgen für das gesellschaftliche Bewusstsein überhaupt aufmerksam: „Ein unreflektierter, sich am Vordergründigen festhaltender Fortschrittspositivismus kommt zum Zuge, der den Glauben nährt, alles Wünschbare müsse mit Hilfe auch noch so teurer Manipulationen beschaffbar sein. Die nicht unerheblichen Kosten für die Retortenbefruchtung (sie werden von Fachleuten mit 15.000 bis 50.000 DM [umgerechnet heute: 7.500 bis 25.000 €], bezogen auf eine Lebendgeburt, angegeben) lassen den Verdacht aufkommen, dass in einer privilegierten Bevölkerung oder in unseren reichen Industriestaaten ein Luxusindividualismus gezüchtet wird. Schließlich wird durch die sich verbreitende Meinung, die Menschwerdung sei technisch machbar und der werdende Mensch sei vor allem damit ein Objekt des elterlichen Kinderwunsches, auch die Abtreibungsmentalität gefördert: ebenso wie ein Kind machbar ist, ist es dann auch Legitimerweise weg-machbar.“

 Diesen Ausführungen ist nichts hinzuzufügen, weil sie zeigen, dass ein Vorgehen nur nach den Gesichtspunkten technischer Machbarkeit nicht nur ethische, sondern auch viele anthropologische und seelische Grundbestimmungen des Menschen ausblendet oder gar ignoriert.

 4.Die neuere Diskussion hat auch auf dem „Recht des Nichtwissens“ des Menschen bestanden. Mit Hilfe von Analysen und Prognosen kann der Mensch heute viele Rätsel des menschlichen Lebens entschleiern. Es sei nicht bestritten, dass damit auch viele belastende Ängste von Menschen genommen werden. Dies gilt z.B. für Risikopatientinnen bei der Schwangerschaftsüberwachung im Zusammenhang mit der pränatalen Diagnostik. Bei mehr als 97% dieser Frauen kann ein Verdacht positiv ausgeräumt werden. Zugleich müssen die damit verbundenen Gefahren nüchtern gesehen werden. Dabei geht es hier ? so wichtig dies ist ? nicht nur um die Versuchung zur Abtreibung oder zu einer vollkommen negativen Einschätzung von Behinderten, sondern grundsätzlich um die Entschlüsselung der Zukunft des menschlichen Lebens. Man darf, wie gesagt, das Nicht-Wissen nicht verherrlichen, man muss jedoch auch die Last eines geheimnislosen Lebens sehen. Dies fängt schon an beim ? verhältnismäßig harmlosen ? Feststellen des Geschlechtes eines erwarteten Kindes durch Ultraschall vor der Geburt. Die Probleme münden in die voraussagbare Risikobelastung von Arbeitnehmern durch Genomanalyse. Nimmt man dem Menschen nicht sein Geheimnis, wenn man ihn bis zur letzten Transparenz durchleuchtet? Lebt er wirklich leichter, wenn er um alle verborgenen Risiken seines Lebens weiß? Kann er Gefährdungen tragen, die man noch nicht oder überhaupt nicht abwenden bzw. in den Griff bekommen kann? Was mutet der Mensch sich hier zu?

 Ich will hier abbrechen. Es gibt keine einfachen Antworten mehr. Chancen und Grenzen bedürfen stets der Unterscheidung und Entscheidung. Dies ist nur differenziert möglich. Ambivalenz ist eine Schlüsselkategorie unserer Wirklichkeit. Die Kriterien werden schwerer anwendbar. Sie spüren es im Medizinischen Dienst jeden Tag. Ich konnte nur dazu hinführen, um Hintergründe namhaft zu machen.

 (c) Karl Kardinal Lehmann

Redemanuskript - es gilt das gesprochene Wort. Im Original sind eine Reihe von Fußnoten enthalten.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz