DIE BLEIBENDE HERAUSFORDERUNG DES KREUZES

Gastkommentar in der Mainzer Allgemeinen Zeitung 19. April 2003

Datum:
Samstag, 19. April 2003

Gastkommentar in der Mainzer Allgemeinen Zeitung 19. April 2003

Der Schriftsteller Ernst Jünger meinte einmal: „Die Kulte können nicht ohne Bilder bestehen...Die Bilder sind das Urgestein der Kulte". Dies gilt auch für viele andere Bereiche: Bilder und Symbole haben eine große Beständigkeit.

Man sieht dies auch am Kreuz. Es ist immer wieder verblüffend, dass das Kreuz auch in recht fragwürdigen Situationen ein Schmuckstück bleibt, von dem man sich nicht leicht trennt. Sagt es denn so noch etwas? Ist es nicht ähnlich einer blinden Scheibe, die kein Licht mehr durchlässt?

Das Kreuz ist jedoch nicht leicht ganz zu entleeren. Es steht für etwas, was immer unvermeidlich zum Leben der Menschen gehört: Verletzungen, Leiden, Vergeblichkeit und Schande. Heute sind wir Meister darin, die Niederlagen unseres Lebens zu verbergen. Es gibt sie, man leidet darunter, aber man spricht wenig darüber. Gerade im Blick auf Leid und Leiden geht die Tendenz zur Individualisierung besonders tief. Man lässt einzelne Menschen in ihrem Schmerz oft brutal stehen und macht einen großen Bogen um sie herum, wenn es unangenehm wird. Der Kältegrad ist bei uns ziemlich hoch geworden, mit dem wir uns gegen fremdes Leid schützen. Wir nehmen es gewiss oft wahr, aber es berührt uns wenig, ähnlich wie die seelenlose Abstumpfung gegenüber grausamen Bildern.

Jedes Kreuz protestiert gegen diese mangelnde Sensibilität. Diese ist nicht nur ein harmloses Randphänomen, ein kleiner Defekt in unserer Gefühlswelt. Ein großer Kirchenvater hat einmal gesagt, die „Anästhesie" des Herzens, also die Fühllosigkeit, wäre so etwas wie die Ur-Sünde. Dies gilt im Geflecht unserer kleinen Lebensbeziehungen und im Netzwerk weltweiter Verhältnisse.

Das Kreuz lässt sich darum nicht verdrängen. Schon in der Alten Welt galt es als die schändlichste Todesart. Es bleibt für Kultur und Humanität ein Skandalon. Es erinnert uns an die Ursachen von Leid und Leiden, jedenfalls wo Menschen dafür verantwortlich sind: Hass und Unrecht, Gewalt und Brutalität.

Deshalb ist es fragwürdig , das Kreuz übermäßig auszuschmücken, z.B. mit Edelsteinen. Gewiss, durch den Sieg Jesu Christi über Hass und Todwird es zum Baum des Lebens. Aber das Kreuz als Siegeszeichen darf die Grausamkeit, die in unserer Welt vorherrscht, nicht verdecken oder gar verschleiern. Das Kreuz mahnt daran, wie viel Hass und Unversöhnlichkeit existieren und zerstörerisch wirken. Wir müssen es darum aushalten und dürfen es nicht zu einem beliebigen Schmuckstück verharmlosen.

Nach dem christlichen Glauben hat das Kreuz in dieser Bedeutung freilich nicht das letzte Wort. Aber es wird nur zum Zeichen der Auferstehung, wenn wir den Mut haben, der Tiefe des Bösen ins Angesicht zu sehen – und dann zum Leben in Achtung, Würde und Solidarität umzukehren.

 

 

 

(c) Karl Kardinal Lehmann

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz