"Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden (2 Kor 5,17)"

Bischof Lehmann in der Jahresschlussandacht, 31. Dezember 1999

Datum:
Freitag, 31. Dezember 1999

Bischof Lehmann in der Jahresschlussandacht, 31. Dezember 1999

I.

Die Zukunftsforschung hat an der Jahrtausendwende Hochkonjunktur. Wir blicken dabei auf ein Jahrhundert zurück, in dem viele tägliche Neuerungen das Leben verändert haben, von der Russischen Revolution bis zum Zusammenbruch des Staatssozialismus Ideologien zerbrochen sind und die Welt durch die Vereinten Nationen, Europa durch die Eurpäische Union und Deutschland durch die Weidervereinigung enger zusammengewachsen sind. Allen apokalyptischen Erwartungen zum Trotz haben die Menschen grundsätzlich eine große Zuversicht. Trotz vieler Zwiespältigkeiten können heute viele Nationen in Frieden leben. Fundamentale Probleme warnen jedoch vor jedem leichtfertigen Optimismus. Die hohe Arbeitslosigkeit steht für viele an erster Stelle. Die ökologischen Katastrophen der letzten Zeit lassen fragen, ob wir vielleicht im Blick auf Phänomene wie Treibhauseffekt mit allen Maßnahmen zu langsam sind. Die Globalisierung soll nicht verteufelt werden; sie schafft Bewegung in der Weltökonomie, die auch den Menschen der Dritten Welt helfen kann. Der gesteigerte Wettbewerb hat aber auch die Gefahr, daß die Starken rücksichtslos weiterwachsen, die Schwachen aber immer mehr ins Hintertreffen kommen. Dies gilt international und national.

Gewiß gibt es bei aller Zuversicht auch Zurückhaltung. Nur wenige wollen eine Prognose abgeben, die weiter reicht als 5 bis 10 Jahre. Der Zustand der hochzivilisierten Gesellschaften macht Sorgen. Der gemeinsame Wertebestand schmilzt, die Demokratie zeigt Mängel auf allen Ebenen, die Gewaltbereitschaft nicht zuletzt junger Menschen nimmt eher zu. Probleme der Integration von Menschen anderer Kulturbereiche und der Migration bleiben ungelöst. Es gibt darum keinen Grund, ohne Wachsamkeit in die die neue Zeit hineinzugehen.

 

II.

 

Wie aber verhalten wir uns überhaupt zum Wandel der Zeit? Was sagt uns der Glaube, besonders das Christentum, beim Sprung in ein neues Jahrtausend? Dies sind Fragen, denen wir an dieser Wende und in dieser Situation nicht davonlaufen dürfen.

 

Viele haben das Gefühl, in ein Zeitalter hineinzugehen, in dem zwar die Optionsmöglichkeiten für Konsum aller Art - auch in der Kultur und in den Medien - wachsen, die Menschen jedoch in einen zwangsläufigen Prozeß ständiger Veränderung hineingezogen werden, so daß die Angst vor dem Verlust wahrer Freiheit eher steigt. Diese Zwänge sind wohl am stärksten im technisch-wissenschaftlichen und ökonomischen Bereich auszumachen. Immer mehr taucht die Frage auf, ob viele Prozesse noch gesteuert werden können oder ob wir subjektlosen Abläufen ausgesetzt sind, die ihre eigene Dynamik haben, oder wahre Verantwortung, die auch öffentlich kontrolliert werden kann, nicht erkennbar ist. Die Visionen und Befürchtungen einer verwalteten Welt, in der der Einzelne nur noch ein Rädchen ist, sind nicht vergessen.

 

Viele Menschen können sich dem damit gegebenen Tempo der Veränderung nur in kleinen privaten Ausschnitten entziehen. Es droht die Gefahr, daß wir in diese immer mehr sich beschleunigenden Abläufe hineingezogen werden. Dabei verlieren wir zuerst die Verantwortung über unsere Zeit. Das Lebenstempo wächst so, daß sich vieles ständig überstürzt. Dadurch steigt die Orientierungslosigkeit. Unsere Zeiterfahrung wird immer stärker vom gleichförmigen Lauf der Dinge bestimmt. Darum haben nicht wenige Menschen das Empfinden, daß bei dieser atemberaubenden Beschleunigung die wahre Zeit des Menschen eher stirbt. Dies prägt auch unsere Lebenserfahrung. Die Zeitgenossen hetzen von Termin zu Termin, und werden doch die Angst nicht los, etwas zu versäumen. Immer mehr Einrichtungen organisierten Zeitvertreibs bieten ihre Dienste an. Lassen sich in einer solchen Situation die Zeiten für eine Unterbrechung dieses Beschleunigungsprozesses und vor allem die Zeiten für Sonn- bzw. Feiertage und Feste retten? Wird alles auf eine einzige, nämlich die linear meßbare Zeit reduziert?

 

In einer solchen Situation ist es gut, auch auf andere Epochen und andere Kulturmuster zu achten. Wir sind nämlich fast nur mit der Bewältigung der entstandenen Zeitknappheit und zugleich des Zeitverlustes beschäftigt. Umso mehr stürzen wir uns immer intensiver in diesen Kreislauf größerer Beschleunigung, um ja nichts zu versäumen. Neben dem Tod als dem bleibenden Widersacher des Lebens tritt eine zweite große Angst, nämlich etwas zu kurz zu kommen. Die Kluft zwischen den unendlichen Möglichkeiten, die die Welt bereithält, und der kärglichen Zeit, die dem einzelnen Menschen zu deren Ausschöpfung zur Verfügung steht, scheint sich zu vergrößern und bringt den Menschen immer in größere Panik, die durch verschiedene Einflüsterungen, nicht zuletzt auch die Werbung, wiederum gesteigert wird.

 

In diesem Zusammenhang fiel mir ein Wort in den "Bekenntnissen" des Heiligen Augustinus auf, das eine Warnung darstellt. Augustinus beschreibt, wie er seine unendliche Zerstreuung entdeckte. Schließlich faßt er dies zusammen, daß er nicht länger sein wahre Sehnsucht verdrängen wolle und daß er die große Gefahr sieht, "im Verschlingen des Zeitlichen vom Zeitlichen selber verschlungen zu werden" (unnachahmlich im Lateinischen: "devorans tempora et devoratus temporibus", Conf., Buch IX, 4.10). Ist das nicht eine auch heute gültige Lebenserfahrung, daß wir glauben, in der ungebremsten Zuwendung zur Welt und dem Konsumieren aller Möglichkeiten souverän zu bleiben, in Wirklichkeit aber unsere Freiheit verlieren und ständig aufgesogen werden von dem, was wir suchen?

 

III.

 

Die Antwort des Christentums auf diese Situation hat viele Facetten, zugleich muß sie einfach und eindringlich sein. Ich möchte vor allem drei grundlegende Punkte ins Auge fassen:

 

1. Gesucht wird ein Standort, der sich eben nicht allein oder weitgehend vom Sog der immer beschleunigteren Zeitverhältnisse bestimmen läßt, ohne deswegen weltflüchtig werden zu dürfen. Diese alte Suche nach einem archimedischen Punkt ist der Glaube selbst. Er allein schenkt eine Verhaltensweise, die aus dem Aufenthalt in der Zeit dadurch einen Blick auf das Ganze unseres Lebens vollzieht, indem sie auf Gott setzt, der allein die Zukunft des noch offenen Lebens kennt. Der Glaube nimmt teil an dieser Überlegenheit Gottes im Vergleich zu Zeit und Geschichte. Er hat dadurch bei allem Engagement Distanz zu den Zeitverhältnissen und entwickelt gerade so einen eigenen Mut zum Einsatz für eine bessere Welt.

 

2. Der christliche Glaube weiß zwar um sein Ziel allein in Gott, aber deswegen flüchtet er nicht vor der Verantwortung in der Zeit. Gerade das Ereignis der Geburt Jesu Christi, nach dem wir unsere Zeit zählen, ist ein entscheidender Beleg dafür. In keiner Religion wendet sich Gott selbst so intensiv der menschlichen Welt zu wie im christlichen Glauben. Der Hebräerbrief (7,27; 9,12; 10,10; vgl. auch Röm 6,10) hat dafür mit einem Wort diese Struktur erfaßt, wenn er sagt, daß das Ereignis der Menschwerdung und Erlösung "ein für allemal" (ephapax) geschehen sei. So sehr hat Gott die Mitteilung des Heils mit der konkreten Geschichte und damit auch mit den konkreten Herausforderungen des Menschen verbunden. Weil dieses Ereignis der Menschwerdung einmalig ist und dennoch für immer gültig bleibt, braucht es den Geist, die Kirche und die Zeugen des Glaubens, die diese Botschaft gerade auch in ihrer explosiven Sprengkraft bewahren und zugleich immer wieder neu nach einer konkreten geschichtlichen Situation (Kultur, Sprache, Gesellschaft) ausrichten. Dies gibt dem christlichen Glauben in dieser Zeit Festigkeit und Beständigkeit, aber auch eine große Wandlungskraft über die Jahrtausende hinweg. Erst beides gemeinsam schafft Orientierung und Zuversicht.

 

3. Dies hat Konsequenzen für die Einstellung des Christen zu unserer Zeit. Wir warten nicht auf das Eintreten eines künftigen Heilsereignisses, bis der Messias durch sein Kommen das Ende der Zeit ankündigt. Das Reich Gottes ist mitten unter uns, selbstverständlich noch nicht vollendet. Damit sind uns bereits in dieser Zeit die realen Möglichkeiten von Glaube, Hoffnung und Liebe gegeben, um die Welt in diesem Sinne zu gestalten und die Botschaft von der Herrschaft Gottes nicht nur zu verkünden, sondern auch zu realisieren. Die Bibel ist voll von solchen Imperativen. Darum spielt auch in der christlichen Botschaft bei näherem Zusehen das kleine Wort "jetzt" immer wieder eine große Rolle: "Jetzt ist sie da die Zeit der Gnade; jetzt ist der Tag der Errettung" (2 Kor 6,2). Darum ist jetzt die Notwendigkeit, vom Schlafe aufzustehen. Ich glaube, daß man diese Entschlossenheit, die aus der mindestens anfänglich gegebenen Heilsgegenwart stammt, viel zu sehr übersehen hat. Die Betonung gegenwärtiger Entschlossenheit, den "Kairos" auszukaufen, lehnt jede nostalgische Romantik ebenso ab, wie einen ortlosen Hang zu Visionen und Utopien. Das Ergreifen des "Jetzt" hat den Mut, sich ganz für den Einsatz Gottes in dieser Zeit zur Verfügung zu stellen. Dazu braucht es einen besonderen Mut, denn nicht selten flüchten wir in die Vergangenheit und die Zukunft, ohne uns der Gegenwart zu stellen. Dafür gibt es ein schönes Zeugnis von B. Pascal: "Nie halten wir uns an die gegenwärtige Zeit. Wir nehmen die Zukunft vorweg, als käme sie zu langsam, und als müßten wir ihren Gang beschleunigen; oder wir rufen die Vergangenheit zurück, um sie festzuhalten, als entschwände sie zu rasch. So unvorsichtig sind wir, daß wir in den Zeiten umherirren, die nicht die unsrigen sind, und an die einzige Zeit nicht denken, die uns gehört. So eitel sind wir, daß wir von denen träumen, die nichts sind, und uns gedankenlos die einzig bestehende Zeit entgleiten lassen. Das ist so, weil die Gegenwart uns für gewöhnlich verletzt. Wir verbergen sie unserem Blick, weil sie uns bekümmert; und wenn sie uns angenehm ist, bedauern wir, sie entschwinden zu sehen. Wir versuchen, ihr durch die Zukunft Halt zu verleihen, und möchten über Dinge verfügen, die nicht in unserer Macht stehen, für eine Zeit, in die zu gelangen wir keinerlei Gewähr besitzen. - Jeder prüfe seine Gedanken: Er wird sie dauernd mit Vergangenheit und Zukunft beschäftigt finden. Kaum je denken wir an die Gegenwart; und tun wir´s, so nur um ihr das Licht zu nehmen, wodurch wir über die Zukunft verfügen. Die Gegenwart ist nie unser Ziel: Vergangenheit und Gegenwart sind unsere Mittel, einzig die Zukunft ist unser Ziel. Also leben wir nie, sondern hoffen bloß zu leben; und indem wir uns immerfort anschicken, glücklich zu sein, ist es unausweichlich, daß wir es niemals sind." (Schriften zur Religion, hrsg. H.U.v. Balthasar, Einsiedeln 1982, 131f; Fragment Nr 168 der "Pensées")

 

Dies sagt uns ermutigend und mahnend der Glaube an der Jahrtausendwende. Ich glaube, daß uns nichts Wichtigeres gesagt werden. Darum kann dieser Glaube auch im Dritten Jahrtausend am besten zur Erneuerung helfen. Amen.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz