Das neue Europa als Herausforderung für die Christen

Vortrag beim Neujahrsempfang zu 1000 Jahre Bistum Bamberg am 20. Januar 2007 in Fürth (Stadthalle)

Datum:
Samstag, 20. Januar 2007

Vortrag beim Neujahrsempfang zu 1000 Jahre Bistum Bamberg am 20. Januar 2007 in Fürth (Stadthalle)

I. Das "neue Europa"

Wenn wir vom neuen Europa sprechen, reden wir von seiner Zukunft. Zukunft Europas muss immer auch bei aller Vielgestaltigkeit mit der Frage nach der Einheit des Kontinents verbunden werden. Diese Frage kann heute bei allem Rückgriff auf die großen Traditionen Europas nicht von der Vergangenheit her beantwortet werden. Dies gilt erst recht auch für die Bedeutung der Religion und des christlichen Glaubens.

Das neue Europa ist nicht die Wiederherstellung einer früheren geschichtlichen Stufe seiner Existenz, es wird aber auch nicht einfach in den Treibsand einer geschichtslosen Zukunft hineingesetzt. Der wahre Blick in die Vergangenheit kann auch befreiend wirken für die Zukunft. Europa war eigentlich von Anfang an und besonders auch in der Neuzeit immer eine Einheit in Vielfalt. Seine Kultur war aus griechischen, römischen, jüdisch-christlichen, islamischen und humanistischen Wurzeln gewachsen. Immer ging es um die zentralen Ideen der Freiheit, der Menschenwürde und der Verantwortung, die mehr und mehr von den Institutionen der Demokratie geschützt wurden. Die schwierige Aufgabe einer wirklichen Einigung des vielgestaltigen Europa ist durch die Teilung in Ost und West lang verdeckt geblieben. Wir haben eher mit der Dauerhaftigkeit der Teilung gerechnet. Der Ernstfall einer europäischen Einigung aus Ost und West war lange Zeit eher eine Utopie, auch wenn viel davon gesprochen worden ist. Nun besteht die echte Möglichkeit, dass Europa wieder neu zu sich kommt und zu sich erwacht. Die Revolutionen in Mittel- und Osteuropa haben dazu beigetragen, dass in Europa die Geschichte nicht mehr stillsteht, sondern dass sie neu in Bewegung geraten ist.

Was daraus entsteht, ist jedoch keineswegs eine einfache, überschaubare Größe. Der eiserne Vorhang hat uns bis zur Wende des Jahres 1989 die grundlegende Orientierung sogar relativ leicht gemacht. Geistige Bewegungen und politische Systeme prallten eindeutig aufeinander. An der Mauer konnte man gut sortieren, was der Freiheit dienen sollte und was der Versklavung zugearbeitet hat. Aber in Wirklichkeit war dieses Europa immer äußerst komplex und keineswegs homogen. Vielleicht haben uns im ersten Augenblick unter dem Einfluss eines mitunter recht hochgestimmten Enthusiasmus manche Schlagworte die Vielfalt der inneren Situation etwas vernebelt. Die Bilder vom "gemeinsamen europäischen Haus" oder von der "europäischen Familie" sind nicht falsch, aber sie haben in ihrer Plausibilität über die Schwierigkeiten hinweggetäuscht.

Dies gilt besonders auch im Blick auf den deutschsprachigen Raum. Politik und Kultur waren immer abhängig von europäischen Einflüssen. Diese strömten in die Mitte Europas ein, wurden dort aufgenommen, umgeschmiedet, auf schöpferische Weise zu Eigenem verarbeitet und schließlich wieder nach anderen Seiten hin ausgestrahlt. Erst in diesem beständigen Austausch erhalten die Länder des deutschsprachigen Raumes in Mitteleuropa Eigenart und Kontinuität.

Europas Geschichte ist spannungsvoll und widersprüchlich. Sie hat auch Rückseiten. Es ist eine Geschichte der unaufhörlichen Kriege, des Imperialismus, der Unterdrückung der übrigen Welt, des Ausblutens anderer im Dienste des eigenen Wohlstands. Sind nicht auch viele Ideale und Träume der Freiheit Vorwand für Anarchie und Willkür gewesen? Die Demokratie kam nur auf Umwegen zu uns. Sie ist nicht der europäische Regelfall. Wir haben heute eine besonders gute Chance. Die Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute ist die längste Friedenszeit, die Europa jemals erfahren hat. Die Zukunft Europas ist so offen wie schon lange nicht mehr. Die vielen Nationen dürfen jedoch nicht in den alten Fehler zurückfallen, vorwiegend ihre nationalen Eigeninteressen zu entfalten. Die Nation ist trotz des hohen Ranges, der ihr zukommt, nicht der höchste Wert einer Gemeinschaft. Eine solche Situation der Offenheit, wie sie uns seit 1989 geschenkt ist, hat auch ihre Gefahren, die eine große Wachsamkeit erfordern: Es dürfen nicht die alten Bündniskonstellationen aus dem Abgrund der Geschichte auftauchen. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts dürfen sich nicht vergeblich ereignet haben.

II.Vielfältige Wurzeln

Es braucht eine neue Identität Europas, die freilich nicht nur im politischen Bereich oder in der Übereinstimmung wirtschaftlicher Interessen gründen kann. So wichtig das Zusammenwachsen in der politischen und ökonomischen Dimension auch sein mag, so darf die kulturelle, d.h. geistig-spirituelle und ethische Identität des neuen Europa nicht so vernachlässigt werden, wie dies bisher weithin der Fall war. Die Frage nach diesen geistigen Wurzelkräften des künftigen Europa lässt sich auch nicht durch den bloßen Hinweis auf die je verschiedenen Kulturen in den einzelnen Regionen und Ländern, Sprachen und Nationen oder gar durch den Hinweis auf die weltanschauliche Neutralität und die Religionsfreiheit beantworten. Denn dies würde, spirituell und ethisch gesehen, einen Rückzug auf die Pluralität gleichgültig nebeneinander stehender Weltanschauungen oder einer Fluchtbewegung ganz ins Private gleichkommen. Tendenzen dafür gibt es genug. Hier hat der Westen gewisse Vorbehalte der Länder und Kirchen in Mittel- und Osteuropa noch nicht genügend begriffen.

Die europäische Kultur ist - wie schon gesagt - aus vielen Wurzeln zusammengewachsen. Der Geist Griechenlands und die römische Welt, die Errungenschaften der lateinischen, keltischen, germanischen und slawischen Völker, die hebräische Kultur und auch die islamischen Einflüsse gehören zu diesem Ganzen. Auch wenn die Völker Europas vielleicht häufiger gegeneinander als miteinander gehandelt haben, so entstammen sie doch einer gemeinsamen kulturellen Überlieferung. Es gibt auch keine Epoche, die nicht an diesen geistigen Grundlagen weitergebaut hätte. Europa war immer ein solches Wagnis im Wandel und ist darum auch heute ein "unvollendetes Projekt" (J. Habermas). Es wäre eine Fiktion, sich so zu verhalten, als ob dies je anders gewesen wäre, und es wäre eine Versäumnis, die uns heute gegebene Chance nicht zu ergreifen.

Die Spaltung Europas hat das Schwergewicht auf Westeuropa und die Völker germanischer und romanischer Herkunft verschoben. Wir müssen wieder neu lernen, dass die slawische Welt gleichursprünglich und gleichberechtigt zu diesen Säulen Europas gehört.

III. Der christliche Glaube - Wurzelboden Europas

Es ist müßig, sich um die Vorherrschaft des einen oder anderen kulturellen Elementes im geistigen Fundament Europas zu streiten. Niemand kann nämlich leugnen, dass der christliche Glaube ganz entscheidend zum bleibenden Wurzelboden Europas gehört. Daran haben auch die Kirchenspaltungen des 11. und 16. Jahrhunderts in Ost und West nichts ändern können, so sehr die einheitsstiftende Kraft des christlichen Glaubens dadurch bis heute empfindlich geschwächt wurde. Europa wurde der erste Kontinent, der sich in seinem ganzen vielgestaltigen Erbe vom christlichen Glauben erfassen ließ und damit die Voraussetzung schuf für eine vom Glauben der Kirche geprägte Einheit und Kultur.

In diesem Sinne sprechen wir mit Recht von "christlichen Wurzeln" Europas. Niemand will damit behaupten, "Europa" und "Christentum" würden schlechthin zusammenfallen. Eine solche Identifizierung wäre auch nicht im Interesse des Christentums selbst, denn der christliche Glaube ist eine Einladung zur Gemeinschaft mit Gott, die an alle Menschen gerichtet ist. Das Christentum darf in seiner universalen Sendung nicht "eurozentrisch" verkürzt werden. Es hat durch die Kraft des Geistes die Fähigkeit zur Inkulturation bei allen Völkern und in allen Sprachen. Aber niemand wird deshalb leugnen, dass der christliche Glaube der Kultur Europas so sehr Gestalt verliehen hat, dass sie ohne ihn ihre Identität nicht bestimmen könnte. Auch der einzelne Europäer, selbst wenn er sich vom Glauben völlig lossagen sollte, muss sich immer wieder der Frage nach dem Sinn des Christentums und der von ihm inspirierten Kultur stellen.

Die Neuheit und die tief wirksame, ja unverbrauchbare Kraft des christlichen Glaubens zeigt sich in der europäischen Kultur auch dann noch, wenn andere, zum Teil auch entgegengesetzte oder feindselige Tendenzen die Geschichte mitbestimmen. Der christliche Glaube hat auch sehr viele Anstöße für Einstellungen und Einrichtungen gegeben, die - wenigstens später - oft außerhalb der Kirche oder manchmal auch gegen sie verliefen. Man denke nur an den Humanismus, die Rolle der Technik, die Bedeutung der Wissenschaft und die Entdeckung sowie den Rang der Menschenrechte. Auch die konkrete Humanität Europas ist noch in Bewegungen, die dem christlichen Glauben ferner gerückt oder gar fremd geworden sind, vom christlichen Erbe inspiriert, z.B. in Werken der Wohltätigkeit. Heute ist eine solche Herkunft oft vergessen, wird nicht selten verleugnet oder auch entstellt. Aber es bleibt eine ernsthafte Frage, wie weit grundlegende Einsichten des christlichen Menschenbildes, wie z.B. Personwürde oder Barmherzigkeit bzw. Vergebung, abgespalten werden können vom lebendigen Wurzelgrund des Glaubens, ohne dass sie - wenigstens auf Dauer - ihren authentischen Sinn verlieren. Das Christentum muss heute, gerade auch in gemeinsamer ökumenischer Verantwortung, manches Geistesgut, das aus dem Bereich der Kirche selbst ausgewandert und fast unkenntlich geworden ist, wieder identifizieren, sich neu aneignen und mit seinem eigenen Leben füllen. So ist z.B. Menschenwürde für jede einzelne Person und in jedem Fall nach meiner Überzeugung auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten ohne die Glaubensüberzeugung, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist und darin seine Auszeichnung und Würde findet. Dies zeigt sich in unserer heutigen Diskussionen über die Person- und Menschenwürde auch des ungeborenen Kindes und im Bereich der Bioethik und Gentechnologie. Christliche Werteüberzeugungen können regelrecht auswandern und sich ihrem Ursprung entfremden.

Wenn wir von Europa sprechen, blicken wir aus christlicher Verantwortung also nicht primär zurück, träumen nicht nostalgisch von einem romantisch vergoldeten "Abendland" (das es in dieser Gestalt dann doch niemals gab!), sondern sorgen uns um das gegenwärtige und künftige Europa mit seinen Spannungen und Widersprüchen. Dabei sind wir uns bewusst, dass es sich heute in diesem Europa um Zivilisationen handelt, die dazu neigen, in der Gestaltung des menschlichen Lebens von der Beziehung zu einem lebendigen Gott völlig abzusehen und allein den eigenen Kräften der menschlichen Vernunft, der Wissenschaft und der Technik zu vertrauen.

Die Christen müssen entschieden die offene Auseinandersetzung und den geistigen Wettbewerb mit jenen aufnehmen, die das neue Europa unter Ausschluss christlicher Wirkkräfte und erst recht der Kirchen gestalten möchten. Der Glaube an den dreifaltigen Gott und an die unverletzbare Menschenwürde hat gerade nach den Ereignissen der "Wende" allen Grund, wieder mutiger, tiefer und überzeugender Rechenschaft abzulegen von der Hoffnung, die in uns lebt und die uns erfüllt. Die Christen haben zu viel Kleinglauben, eine zu große geistig-spirituelle Trägheit und Feigheit. Sie brauchen mehr Mut zum Bekenntnis und mehr Freude am Evangelium. Dann brauchen sie auch keine Angst zu haben vor den gegenwärtigen Herausforderungen.

Europa darf sich freilich nicht bloß auf sein christliches Erbe von früher berufen, sondern muss durch das heutige Zeugnis der Christen in Stand gesetzt werden, in der Begegnung mit der Person und der Botschaft Jesu Christi neu über seine Zukunft zu entscheiden. Nur unter diesen Voraussetzungen gilt das Wort, dass die Kirche nicht am Ende ist. Dazu brauchen wir Kirchen im Westen die Hilfe und das Beispiel der Schwestern und Brüder in Mittel- und Osteuropa, die ihre Stärke und Freude des Glaubens, lange im Leiden erprobt, nicht um das Linsengericht moderner Anpassung preisgeben dürfen.

IV. Das christliche Proprium in einem säkularisierten Europa

Europa hat christliche Wurzeln, aber gerade in dieser Hinsicht ist es heute entwurzelt. Es nützt nichts, ein Klagelied über die Säkularisierung anzustimmen, vielmehr muss sich der Glaube in dem vielstimmigen Chor der Stimmen, die in einer pluralistischen Gesellschaft laut werden, zu Wort melden und behaupten. Es hat keinen Sinn, insgeheim doch auf so etwas wie ein christliches Abendland zu warten, wo die Kirche eine zentrale geistige Führung und Steuerungsfunktion innehätte. Vielmehr muss sie radikal damit ernst machen, dass sie unter den Voraussetzungen von Religionsfreiheit und Pluralismus ihre Stimme ungeschwächt zur Sprache bringt.

Diese Grundsituation ist zwar mit Worten leicht zu akzeptieren, aber es ist viel schwieriger, sie auch von innen anzunehmen. Es wird besonders darauf ankommen, dass die Kirchen in den Ländern vor allem auch Mittel- und Osteuropas sich nicht an irgendwelchen Modellen der Vergangenheit orientieren, wie sie als Kirche in der Gesellschaft stehen und sich zum Staat verhalten. Es ist manchmal erschreckend zu sehen, wie sehr man sich wieder an solche antiquierten Modelle anlehnt - oft aus Verlegenheit. Wir im Westen sind gewiss nicht die unfehlbaren Lehrmeister, dürfen jedoch den Rat geben, den Anspruch des Glaubens in den heutigen Gesellschaften mehr durch Einladung, Argumentation und Überzeugungsarbeit zu vermitteln als mithilfe vorwiegend monologischer Erklärungen oder autoritativer Weisungen, die in Einzelfragen durchaus ihren Sinn haben können.

Was die Kirche zuerst tun muss, ist das, was ihre ureigene Aufgabe ist und was sie täglich vollzieht: die Verkündigung des Evangeliums. Alle Erneuerungsbemühungen der letzten Jahrzehnte, auch des Zweiten Vatikanischen Konzils, zielten daraufhin, dass die Kirche selbst immer mehr fähig werde, den Menschen unserer Zeit das Evangelium zu verkünden. Man hat dies mit guten Gründen Neu-Evangelisierung genannt. Der Begriff ist oft genug verdächtigt worden, als ob er einen katholischen Allein- und Sonderanspruch für eine "Rechristianisierung" Europas zum Ausdruck bringe. Schon die Sonder-Versammlung der Bischofssynode für Europa hat in ihrem Schlussdokument am 13. Dezember 1991 unmissverständlich mit Zustimmung des Papstes klargestellt: "Die Neu-Evangelisierung ist kein Programm zu einer so genannten 'Restauration' einer vergangenen Zeit Europas, sondern sie verhilft dazu, die eigenen christlichen Wurzeln zu entdecken und eine tiefere Zivilisation zu begründen, die zugleich christlicher und so auch menschlich reicher ist. Diese 'Neu-Evangelisierung' lebt aus dem unerschöpflichen Schatz der ein für alle Mal in Jesus Christus erfolgten Offenbarung. Es gibt kein 'anderes Evangelium'. Mit Bedacht wird sie Neu-Evangelisierung genannt, weil der Hl. Geist stets die Neuheit des Wortes Gottes hervorbringt und beständig die Menschen geistig und geistlich aufweckt. Diese Evangelisierung ist auch deshalb neu, weil sie nicht unabänderlich an eine bestimmte Zivilisation gebunden ist, da das Evangelium Jesu Christi in allen Kulturen aufleuchten kann." An dieser Aussage, um die viel gerungen wurde, sollte man nicht vorbeigehen.

Die Kirche leistet auch für das künftige Europa das Beste, wenn sie ihrem eigenen Auftrag treu bleibt. Dann baut sie nämlich durch ihre Verkündigung und den Religionsunterricht, ihre Theologie und ihre vielfältige Präsenz in der Gesellschaft die Werte auf, die einer Erneuerung bedürfen: die Menschenwürde, das Menschenbild, das Ethos des Alltags, die Verwirklichung einer Einheit in den "Grundwerten" mitten in aller weltanschaulichen Vielfalt. Es besteht kein Zweifel, dass zu diesen Aufgaben auch die Vertiefung und Verbreitung der christlichen Sozialethik gehört, wie sie in der katholischen Soziallehre eine in der Kirche verbindliche Gestalt gefunden hat. Was hier an gesellschaftlichen Gestaltungsprinzipien formuliert worden ist, bedarf gewiss der Konkretisierung. Wenn in jüngster Zeit sogar in den Maastrichter Verträgen das Prinzip der Subsidiarität angeführt wird, gewiss in Anlehnung an die Tradition der Katholischen Soziallehre, dann ist dies nur ein Beleg dafür, wie solche Gestaltungsprinzipien gleichsam über Nacht eine überraschende Bedeutung erhalten. Hier wäre vieles zu sagen über die vielen Felder, auf denen vor allem Laien sich für den Aufbau eines neuen Europas aus dem Geist des Christentums einsetzen: Förderung der Würde des Menschen, Ehrfurcht vor dem unantastbaren Recht auf Leben, Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit, Rolle von Ehe und Familie, Sorge um das Gemeinwohl, Bewahrung der Schöpfung, Verantwortung für die Medien. Es wäre von der Frauenfrage bis zur Gesundheitspolitik ein weiter Katalog von Anwendungsgebieten, der hier entfaltet werden müsste.

Die katholische Kirche ist eine Weltkirche, die in ihren eigenen Strukturen immer wieder neu um die Balance von Einheit und Vielfalt ringen muss. Deshalb wird die Kirche einerseits gewiss für wirksame Strukturen einer europäischen Einigung eintreten, aber auch den Integrationsprozess kritisch begleiten. Brüssel darf nicht eine große Planierraupe werden, die auf dem Weg zur Integration besonders die regionalen Kultureigenheiten niederwalzt. Die Modernisierung ist nicht so unschuldig, wie sie sich gibt. Sie gefährdet und zerstört oft unreflektiert z.B. auch religiös geprägte Milieus.

Neben den europäischen Einheitskonzepten sind die nationalen und regionalen Besonderheiten der europäischen Länder nicht minder wichtig. Es gibt eine Einheitsbesessenheit, die ungeniert an der Vielheit der Sprach-, Denk- und Lebensformen Europas vorbeigeht. Die Kirchen werden hier gerade durch ihre feste Verwurzelung in den einzelnen Ländern eine Europamentalität fördern, die das verbindliche Allgemeine bejaht, ohne die Bedeutung des Lokalen und Regionalen zu verwischen.

Die Kirche denkt jedoch auch weltweit. Sie kann Europa nicht ohne die anderen Kontinente begreifen. Es wäre nämlich das verhängnisvolle Zeichen eines kollektiven Egoismus, wenn das neue Europa sich selbstzufrieden von den Nöten der übrigen Welt zurückziehen würde. Dafür gibt es leider einige Anzeichen. Aber dies dürfen wir nicht hinnehmen. Im Gegenteil, Europa muss möglichst bald seine weltweite Verantwortung gegenüber den Armen, unterentwickelten Völkern, der Hungersnot, der Schuldenlast, vielfältiger Ungerechtigkeit und der Bedrohung der Schöpfung unter Beweis stellen. Die Migrationsbewegungen und das Nord-Süd-Gefälle werden von den künftigen Europäern verlangen, dass sie immer wieder über ihre eigenen Interessen hinausgelangen und sich den noch stärker werdenden Nöten der Weltgesellschaft zuwenden. Ohne diese Perspektiven und diesen Horizont wären wir nicht wahrhaft katholisch im ursprünglichen Sinne des Wortes.

Das größte Hindernis für die Aufgabe der Kirchen, ihre eigene Verantwortung für Europa mit voller Kraft und glaubwürdig zu vertreten, ist ihre Gespalten- und Zerrissenheit. Gewiss gibt es auf fast allen Gebieten eine ermutigende ökumenische Zusammenarbeit in den letzten Jahrzehnten. Auch findet man in den Europainitiativen der evangelischen, katholischen und orthodoxen Kirchen Europas viele gemeinsame Tendenzen. Ich nenne nur die Evangelisierung als erste Aufgabe. Wenn wir einander näher kommen, kann dies nur gelingen, wenn wir gemeinsam und einzeln mehr auf die Mitte zugehen, die nur Jesus Christus sein kann.

V. Neuer Schwung für ein neues Europa

Die Kirchen können also dazu beitragen, den Werteüberzeugungen zu mehr Vitalität zu verhelfen. Werteüberzeugungen brauchen konkrete Vorbilder. Der christliche Glaube ist dafür nach wie vor die größte Stütze für das zusammenwachsende Europa. Die Kirchen sind traditionelle und zukunftsweisende sinnstiftende Institutionen.

Besondere Bedeutung erlangen die Werteüberzeugungen auch für die Länder, die in jüngster Zeit der Europäischen Union beigetreten sind. Es genügt nicht, die Einhaltung eines gemeinschaftlichen Niveaus ("acquis communitaire") von ihnen zu verlangen. Es muss sichergestellt werden, dass diese Länder sich mit ihrem vielfältigen kulturellen und religiösen Leben in der Europäischen Union aufgehoben fühlen können. Gelingt es nicht, eine Vitalisierung der Werteüberzeugungen zu erreichen, so wird die Erweiterung der Union eine müde Geschichte sein und die oft beklagte Mattigkeit Europas vielleicht eher noch verschlimmern.

Vor diesem Hintergrund ist zu überlegen, ob nicht der Begriff bloßer "Erweiterung" durch den Begriff der Europäisierung ersetzt werden sollte. Der Begriff "Erweiterung" lässt den Eindruck entstehen, es handele sich bloß um eine quantitative Vervollständigung Europas im Sinne einer neuen Ganzheit. Das ist nicht der Fall. Es geht vielmehr um eine qualitativ kulturelle Vervollständigung Europas. Dieses Verständnis würde die Grundlage schaffen für neue Visionen zur Verwirklichung der europäischen Einigung und könnte zu einer wirklichen, auch spirituellen Dynamisierung des Prozesses beitragen. Den Kirchen wird dabei eine wesentliche Rolle zukommen, auch wenn man ihnen nicht allein diese Aufgabe aufbürden darf.

Wir sehen manchmal im Westen und im Osten Europas überwiegend die Probleme der Assoziation aus der ökonomischen und vielleicht auch politischen Perspektive. In dieser Hinsicht gibt es gewiss trotz aller Fortschritte noch viele ungelöste Probleme, die man im Interesse der einzelnen Länder gewiss nicht übergehen darf. In Polen ist z.B. die Klärung der Zukunft der Landwirtschaft eine wirkliche elementare Lebensfrage, ja für viele Bauern eine Überlebensfrage. Aber vielleicht muss man betonen, dass dies eine legitime Sehweise ist, die freilich insgesamt der Erweiterung bedarf. Wir sind durch die jahrzehntelange Trennung Europas infolge des Eisernen Vorhangs zu sehr gewohnt, "Europa" weitgehend mit Westeuropa zu identifizieren. Es war immer schon eine ungelöste Aufgabe, neben den westlichen und südlichen Kulturen, neben dem griechischen und lateinischen, germanischen und sogar arabischen Kulturbeitrag die viel höhere Bedeutung der osteuropäischen Geschichte, ja des slawischen Erbes in Europa gebührend in Rechnung zu stellen. Ich habe den Eindruck, dass wir bald zwei Jahrzehnte nach der Aufhebung der kommunistischen Diktaturen in dieser Hinsicht, mindestens in unseren Köpfen, diese tiefe Zusammengehörigkeit noch nicht genügend rezipiert haben. Deswegen sollten wir mit einem Sprachgebrauch wie z.B. "Erweiterung" in der Tat viel vorsichtiger sein. Das westliche Europa, besonders in den Grenzen der Europäischen Union, muss bescheiden zur Kenntnis nehmen, dass es sich nicht als eine in der Substanz vollständige Größe begreifen darf, zu der eben andere hinzukommen. Es geht also um mehr, wenn wir vorschlagen, besser von "Europäisierung" zu sprechen. Im Übrigen haben wir ja auch in der westlichen Kirche ähnliche Probleme. Darum hat uns Papst Johannes Paul II., der hier wirklich auch als ein Pole mit der geistigen, historischen und gesellschaftlichen Erfahrung dieses Landes spricht, bei seinen Äußerungen zu Europa immer wieder von den beiden Lungen in Ost und West gesprochen und uns durch die Ausrufung der Slawenapostel Kyrillos und Methodios eine bleibende Erinnerung dafür geschaffen.

Dies hat eine ganz besondere Bedeutung, auch im Blick auf den Ort und die Bedeutung Europas in der Welt. Wir spüren dies nicht nur seit dem 11. September 2001.

Auch um die eigene Rolle in der Welt erfüllen zu können, bedarf Europa einer inneren Festigung. Die Werte, die Europa zu bieten hat, sind Ergebnis der Kulturgeschichte Europas, die über die Jahrhunderte hart erkämpft wurden. Sie sind auch heute ständigen Anfechtungen ausgesetzt und müssen immer wieder neu entdeckt, erneuert und nach vorne verteidigt werden. Wenn sie hinausgetragen werden sollen in die Weltgemeinschaft, in der es Bestrebungen zur Realisierung dieser Werte, aber auch mannigfaltige Rückschläge gibt, so ist die erste Voraussetzung ein glaubwürdiger Einsatz für sie und die überzeugende Darstellung dieser Werte nach innen. Die Prinzipien der Menschenrechte, der sozialen Gerechtigkeit, der Solidarität, der Freiheit und des Friedens müssen für eine eigene staatliche und gesellschaftliche Ordnung Europas unter neuen Bedingungen entwickelt und angewendet werden. Die Entwicklung einer neuen Sensibilität und Erfahrung europäischer Zusammengehörigkeit ist unerlässlich. Solidarität und Zusammengehörigkeitsgefühl sind aber nicht durch Aufrufe oder eine vordergründige Europabegeisterung zu erreichen.

VI. Gemeinsame Werteüberzeugung

Wir bedürfen also für alle Aufgaben der Gemeinschaft einer gemeinsamen Werteüberzeugung. Wie kann eine solche gefunden werden? Genauso wie jeder einzelne Staat kann Europa diese Werteüberzeugung nicht allein aus sich herausschaffen. Um so mehr aber stellt sich die Frage: Wo sind die Kräfte verwurzelt, die dieser abstrakten Gesellschaft jene Substanz vor allem in ethischer Hinsicht geben, welche diese Gesellschaft konkret-geschichtlich trägt? Von woher haben Staat und Gesellschaft jene Fundamentalüberzeugungen vom Sinn menschlichen Zusammenlebens, die sie selber nicht gewährleisten? Der moderne Staat kann sie nicht erzeugen, da er seine weltanschauliche Neutralität aufgeben müsste. Hier ist an das bekannte Wort des Staatsrechtslehrers Ernst-Wolfgang Böckenförde zu erinnern: Der säkularisierte Staat und die moderne Gesellschaft leben von Voraussetzungen, die sie nicht selber garantieren können, auf die sie aber elementar angewiesen sind. Es kommt damit auf jene gemeinsamen Rechtsgüter, Grundsätze und Überzeugungen an, die den Menschenrechten und Grundrechten vorausliegen und diese erst begründen. Das Christentum steht an der Wiege vieler solcher Grundwerte, die - wie immer ihr letzter Kern begründet wird - eine universal vermittelbare und mit der menschlichen Vernunft vollziehbare Einladung bzw. Verpflichtung für alle darstellen.

Jacques Delors, überzeugter Katholik und Sozialist, bezeichnete es 1992 in seiner Eigenschaft als Präsident der Europäischen Kommission vor allem als eine Aufgabe der Kirchen, dazu beizutragen, das von ihm aufgedeckte und bedauerte "moralische Defizit" in Europa zu überwinden. Er hat auf das Fehlen einer kräftigen sozialen Dimension, auf die Umwelt- und Wissenschaftspolitik hingewiesen und auf die großen bioethischen Fragen. Er sagte: "Wenn es uns nicht gelingt, unserem Kontinent wieder eine ‚Seele' zu geben, verlieren wir den Kampf um Europa - denn mehr denn je werden wir mit ethischen und politischen Fragen konfrontiert. Hierbei spielen Kirche und Religion eine wesentliche Rolle."

Nicht vergessen werden sollte auch, dass die Gründerväter Europas gerade keine Bürokraten und Technokraten waren. Sie waren erfahrene Politiker, die das Ohr am Puls der Zeit und der Menschen hatten. Sie waren vor allem auch überzeugte Christen und daher den religiösen Wurzeln Europas verhaftet. Sie stellten bei ihren Überlegungen die Bürger in den Vordergrund. Jean Monnet sagte dazu: "Nicht Staaten vereinigen wir, sondern Menschen". Und er gab einen Hinweis, der gerade für ein Europa am Scheideweg sehr aktuell ist. Er sagte: "Wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich mit der Kultur anfangen." Alfred Grosser, der als europäischer Denker, als Nichtkirchenmitglied und doch Sympathisant für die Rolle der Kirche einen Namen hat, drückte es so aus: "Nicht das Wort Europa ist notwendigerweise bedeutsam für das Aufbauen eines Europa, das wir uns wünschen, sondern eine ethische Grundeinstellung, die von Gläubigen und Ungläubigen zusammengebracht wird. Hierbei fällt den Kirchen eine enorme Rolle zu, nämlich zu stimulieren, damit aus dem Christentum das Beste für das Gemeinwohl der gesamten Gemeinschaft gemacht wird".

Damit die Kirchen diese Rolle auch wahrnehmen können, brauchen sie einen Freiraum, den der Staat nicht einengen darf. Nur ein solcher Freiraum ermöglicht den Kirchen, ihren Beitrag zum sozialen Miteinander zu leisten und die Beteiligung des Einzelnen und kleiner Gruppen zu aktivieren. Darum ist es so wichtig, die Kirchen nicht einfach als Teil der Zivilgesellschaft oder als Nichtregierungsorganisationen zu betrachten, wie es derzeit auf europäischer Ebene oft geschieht. Die Kirchen sind keine Organisationen im Sinne von sog. NROs oder NGOs, die die Interessen ihrer Mitglieder bündeln, um sie wirkungsvoller in die Politik einzubringen. Die Kirchen handeln in Erfüllung ihres eigenen Auftrags, der ihnen vom Evangelium - im Gebot der Nächstenliebe und im Eintreten für die Gerechtigkeit - aufgegeben ist. In diesem Sinne ist der Status der Kirchen in Europa wesentlich, so wie er auch seine Anerkennung gefunden hat in der so genannten "Kirchenerklärung" zum Amsterdamer Vertrag. In dieser Erklärung bekennt sich die Europäische Union zum geistig-religiösen Erbe und anerkennt den Status der Kirchen in den einzelnen Mitgliedstaaten an. Diese Bewertung gilt es beizubehalten und zu festigen. Aber dies darf nicht so sehr rückwärts gewandt verstanden werden, wie es oft geschieht. Dies bedeutet praktisch eine Relativierung der Bedeutung für die Gegenwart. Es geht gerade um eine offensive Investition für die Zukunft. In dem jetzt anstehenden Reformprozess sollten darum die Kirchen besser einbezogen werden. Sie können und wollen in diesem Reformprozess als diejenigen, die die grundlegenden Aspekte der geistigen und religiösen Grundlagen Europas vertreten und bewahren, einen wesentlichen Beitrag leisten. Das hat die Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE) in einer Erklärung zum Europäischen Rat von Laeken und in weiteren Stellungnahmen immer wieder betont. Der Verfassungsentwurf sieht einen solchen beständigen Dialog vor.

Zur Zeit erleben wir die Welt in einem großen Umbruch. Auch die Europäische Union steht an einem Scheideweg. Die Gefahren, die von außen drohen, ebenso wie drängende Fragen, wie sie sich zurzeit auf europäischer Ebene am Beispiel der Bioethik oder der Zuwanderung oder der sozialen Rechte der Arbeitnehmer stellen, verlangen nach einer Antwort.

Wir müssen fragen, wie die ökonomisch erfolgreiche europäische westliche Gesellschaft ihre kulturelle Apathie überwinden kann. Angesichts der Notwendigkeit der Integration eines Europa, das nicht homogen, sondern von kulturellen Verschiedenheiten geprägt ist, können gerade die Kirchen zur intensivieren Europäisierung der Europäischen Union beitragen. Und zwar, indem sie ihre traditionelle, im Glauben gründende Option für die Modernisierungsverlierer wahrnehmen, indem sie zivil gesellschaftliche Ressourcen fördern, indem sie grundlegende sozialethische Diskurse über eine gerechte Wirtschaft, politische Partizipation und kulturelle Integrität einfordern.

Wie ich öfter schon gefordert habe, darf es keine europäische Dominanz auf Kosten regionaler Identität geben. Die da und dort bestehende Einheitsbesessenheit darf nicht ungeniert an der Vielheit der Sprachen sowie der Denk- und Lebensformen Europas vorbeigehen. Auf diesen Punkt werde ich nochmals eigens zurückkommen.

VII. Globale Dimension

Wir dürfen aber nicht nur auf Europa selbst schauen. Dies hat es auch in seiner Geschichte kaum so vollzogen (vgl. dazu G. Schulz, Europa und der Globus, Stuttgart 2001). Europa muss möglichst bald seine weltweite Verantwortung gegenüber den Armen, den Entwicklungsländern, dem Hunger, der Schuldenlast, vielfältiger Ungerechtigkeit und Bedrohung der Schöpfung unter Beweis stellen.

Die Kirchen müssen in diesem Zusammenhang Fehlentwicklungen viel stärker entgegensteuern und eine Europa-Mentalität fördern, die auch seiner globalen Verantwortung mehr und mehr entspricht. Dies geschieht auf der einen Seite durch einen intensiven Einsatz zugunsten der Menschen in den Ländern der Dritten Welt. Aber es gibt auch eine regionale Zusammenarbeit vor allem im Bereich von Ausgleich und Versöhnung zwischen den Staaten, die sich im letzten Jahrhundert in mörderischen Kriegen feindlich gegenüberstanden und oft weitgehend zerstört haben. So gibt es Neuanfänge schon sehr früh, ja noch während des Zweiten Weltkrieges im Westen, z. B. als der französische Bischof P.M. Théas von Lourdes im März 1945 einen Gebetsaufruf für den Frieden und zur Versöhnung mit den Deutschen initiierte, woraus übrigens die Pax-Christi-Bewegung als Internationale Katholische Friedensbewegung hervorging, die heute in über 60 Ländern der Welt tätig eindrucksvoll ist.

Diesen Bemühungen muss die Aussöhnung mit unseren östlichen und südosteuropäischen Nachbarländern hinzugesellt werden. Ich brauche hier nicht den langen Weg der deutsch-polnischen Versöhnung nachzeichnen, der den berühmten Briefwechsel zwischen dem deutschen und dem polnischen Episkopat am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965) zu einem Höhepunkt führte und 2005 erneuert wurde. Ähnliches ist auch zwischen der Tschechoslowakischen bzw. Tschechischen und der Deutschen Bischofskonferenz besonders in der Wendezeit 1989/90 geschehen, wobei ich auch in diesem Zusammenhang an die fruchtbare Kooperation mit dem Erzbischof von Prag, Miloslav Kardinal Vlk, und besonders auch mit seinem mutigen Vorgänger, Frantisek Kardinal Tomasek, denke. Auch hier haben wir wichtige Zeugnisse.

In diesem Zusammenhang muss auch eine eigene Aufgabe genannt werden, nämlich der interreligiöse Dialog zwischen den Religionen. Er ist wichtig, um gemeinsam den Sinn von Religion auch in der modernen Welt aufzuzeigen und zu stützen, um die "Grundwerte", die den Religionen gemeinsam sind (vgl. das "Weltethos" von Hans Küng), zu festigen und um gemeinsam sowohl in den einzelnen Ländern als auch weltweit Religionsfreiheit und gegenseitige Achtung, Frieden und Solidarität zu fördern. Dabei ist in Europa der Dialog besonders wichtig mit dem Judentum, das zu den Fundamenten und Wurzeln des Christentums gehört, und mit dem Islam, der einerseits mit dem Judentum und dem Christentum zu den abrahamitischen Religionen gehört und anderseits eben auch die religiöse Überzeugung sehr vieler Mitbürger in den meisten Ländern vor allem Westeuropas darstellt. Es ist deutlich geworden, dass dieser Dialog sehr anspruchsvoll ist.

Dieser Prozess einer tieferen Fundierung gemeinsamer Werte geschieht weitgehend im Dialog und durch Argumentation. Es muss dabei auch einen echten geistigen Wettbewerb geben, der nicht durch Machtansprüche und politisch-ökonomische Interessen verzerrt werden darf. Für dieses Gespräch, das an der Suche nach der Wahrheit orientiert sein muss und zielgerichtet ist, ist auch die Unterscheidung der Geister immer wieder wichtig. Es kann nicht um eine billige Anpassung an bestimmte Trends oder um eine gemeinsame Grundlage auf dem kleinsten Nenner gehen. Es ist gut, wenn wir uns hier an eine Orientierung des hl. Paulus halten, der schon im ältesten Dokument des christlichen Glaubens uns die Weisung mitgibt: "Prüft alles und behaltet das Gute!" (1 Thess 5,21). Ähnlich sagt es im Blick auf die Beziehung zu den nichtchristlichen Religionen die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils "Nostra aetate": "Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet. Unablässig aber verkündet sie und muss sie verkündigen Christus, der ist‚ der Weg, die Wahrheit und das Leben' (Joh 14,6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat ... Deshalb mahnt die Kirche ihre Söhne (und Töchter), dass sie mit Klugheit und Liebe, durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Bekennern anderer Religionen sowie durch ihr Zeugnis des christlichen Glaubens und Lebens jene geistlichen und sittlichen Güter und auch die sozial-kulturellen Werte, die sich bei ihnen finden, anerkennen, wahren und fördern." (Nostra aetate 1)

In der pluralistischen Gesellschaft kann diese Offenheit nach außen nur einhergehen mit einem entschiedenen Bekenntnis. Dies ist nicht zu verwechseln mit Fanatismus und Fundamentalismus. Darum brauchen wir im Konzert der Mächte eine deutliche Markierung der eigenen Position. Das Gemeinsame muss dann in einem argumentativen Dialog gefunden werden. Wenn dies ernsthaft vermittelt wird, dann könnte sich daraus im Lauf der Zeit eine Art neuer "Leitkultur" mit viel Austausch, Freiheit und Verantwortung ereignen.

Es besteht kein Zweifel, dass die Europa-Idee blass geworden ist und keinen Enthusiasmus, auch nicht unter jungen Menschen, weckt. Wir brauchen einen neuen Anlauf.

Dieser sollte und kann nun auch in Verbindung gebracht werden mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge vor 50 Jahren im März diesen Jahres. Damit sollten wir einen Aufbruch wagen und überzeugend nach innen und außen vermitteln, dass wir froh sind, Europäer zu sein. Und dies hat in Vergangenheit und Gegenwart auch etwas zu tun mit der konstruktiven Kraft der Religion, besonders des christlichen Glaubens.

Dies hat etwas zu tun mit dem großen Fest, dass wir nun ein ganzes Jahr lang in Bamberg feiern, dem 1000-jährigen Bestehen des Bistums bzw. Erzbistums Bamberg. Die Stadt Fürth feier im Jahr 2007 das tausendjährige Jubiläum. Das Jubiläum zeigt uns, dass die Kirche nicht immer nur eine feste Bastion oder Burg ist, sondern dass sie auch als pilgernde Kirche, die stets unterwegs ist, sich immer wieder neue Aufenthalte suchen muss. Sie darf sich nicht allzu sicher sein, mit dem, was sie hat. Sie muss eher darauf blicken, was sie ist, und was sie sein soll. Jesus Christus ist durch die Zeiten das bleibende Fundament: Jesus Christus heute, morgen und in Ewigkeit!

Wir leben in einer ausgesprochenen Phase des Übergangs. Dies kann Anlass für Befürchtungen und sogar Ängste sein; ein solcher Übergang birgt aber auch immer Chancen. Ich möchte meine Wünsche für die Herausforderungen im Blick auf die Zukunft des Erzbistums und der Stadt Fürth zusammenfassen in der Bitte, dass unsere Schwestern und Brüder aus dieser 1000-jährigen Geschichte immer wieder Zuversicht aus dem Glauben schöpfen mögen. Der "Sternenmantel - das Motto der Feierlichkeiten lautet "Unterm Sternenmantel" - 1000 Jahre Bistum Bamberg" - als sichtbares Zeichen kann uns immer wieder daran erinnern, dass Gott seine schützende Hand über uns hält, ihm können wir in Zuversicht vertrauen, was auch kommen mag.

In diesem Sinne danke ich dem Erzbistum Bamberg, seinen Erzbischöfen und allen Schwestern und Brüdern im Glauben für das Glaubenszeugnis, das sie in Wort und Tat in dem einzigen bayerischen Bistum mit einer erheblichen Diasporasituation geben, und wünsche Ihnen im Sinne des eben Gesagten Gottes reichen Segen des Himmels und der Erde auf ihrem Weg in die Zukunft.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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