"Dem Zeitgeist folgen" - Was heißt das?

Zur aktuellen Diskussion um den Sonntag

Datum:
Mittwoch, 4. August 1999

Zur aktuellen Diskussion um den Sonntag

August 1999

 

Wie sagte gerade in den Nachrichten der ARD-Tagesschau der Leipziger Bürgermeister: "Wir müssen dem Zeitgeist folgen!", als er sich gegen die geltenden Ladenschlußgesetzbestimmungen wandte. Also muß man sich trotz so vieler bisheriger Äußerungen immer wieder der Sache zuwenden, um die es in Wirklichkeit geht.

Wir leben mit unseren Fragen und Herausforderungen, Nöten und Errungenschaften in unserer Zeit. Dies ist auch grundsätzlich der geistige und gesellschaftliche Raum, in dem der Mensch nach Sinn sucht und seine Entscheidungen trifft. Aber was in diesem gesellschaftlichen Spielraum lebt und wirkt, ist nicht schon die Antwort auf dieses Umhergetriebensein. Es geht immer um die Unterscheidung der Geister.

 

Die Kirchen haben einzeln und gemeinsam in den letzten Jahrzehnten immer wieder den Sinn des Sonntags herausgearbeitet. Es ist geradezu selbstverständlich, daß es dabei nicht nur um einen isoliert verstandenen Gottesdienstbesuch, sondern um eine tiefere Kultur des Sonntags geht. Es ist eine mannigfache Erfahrung der Religionen vor allem in der Bibel und in ihrer Nachbarschaft, daß es für den Menschen gut ist, so etwas wie Wo-chentage für die Arbeit und einen Ruhetag für die Erholung und Besinnung zu haben. Dies ist eine weise Einrichtung für den Menschen, deren Abschaffung oder Minderung er am Ende immer wieder schmerzlich erfahren und zurücknehmen mußte. Dahinter steckt freilich ein religiöser Grund. Gott meinte es mit dem Menschen gut, als er ihm die Ruhe am Sabbat/Sonntag gebot.

 

Der "Zeitgeist" geht mit solchen kostbaren Ausstattungen des Menschen rücksichtslos um und verwirklicht seine Ziele. Es ist verführerisch, wenn man jederzeit einkaufen kann. Wir denken und handeln weitgehend als verlorene Einzelgänger in dieser Welt. Betroffen von diesen Errungenschaften sind aber unzählige Menschen mit ihren Familien. Für die kleineren Betriebe gilt dies erst recht. So bleibt noch weniger gemeinsame Zeit für Freundeskreise, Vereine, Gemeinschaften aller Art und besonders Ehe und Familie. Dies regelt sich nicht alles von selbst, wie manche denken, sondern es braucht verbindliche Ordnungen des gesellschaftlichen Lebens. Sie sind ohnehin minimal geworden. Dazu gehört neben vielem auch der Vollzug von Glaube und Religion. Ohne Gottesdienst verflacht unser Leben, ohne Anbetung des einzigen wahren Herrn verfallen wir nur allzu leicht den alten und modernen Götzen. Vieles kommt noch hinzu: Es hatte in meiner Jugend einen guten Sinn, daß man am Sonntag einen Besuch an den Gräbern der verstorbenen Vorfahren machte. Zum Sonntag gehört auch das Gedenken, das zweifellos nicht nur in unserer Sprache mit Denken und Danken zusammengehört.

 

Ich habe mich immer dafür eingesetzt, Wirtschaft als einen Bestandteil der Kultur zu betrachten. Es gibt ja eine intellektuelle Hochnäsigkeit, die diesen sehr wichtigen Faktor unseres Lebens gering einschätzt. Aber dies nimmt auch die Wirtschaft in Anspruch, daß sie sich als ein ebenbürtiger Partner der anderen Kulturbereiche benimmt und sich nicht selbst irgendwie doch absolut setzt. Viele Unternehmer wissen darum. Aber einige, die einen größeren Gewinn vielem anderen Wichtigen vorziehen, wissen offensichtlich nicht, was sie - oft ohne Absicht - tatsächlich zerstören.

 

Die Kirchen und andere Partner des gesellschaftlichen Lebens können dies um des Menschen willen nicht akzeptieren. Wenn es sein muß, dürfen wir an dieser Stelle einem neuen "Kulturkampf" nicht ausweichen, den uns manche heute schon diskriminierend vorwerfen.

 

Freilich, die Stellungnahmen der Kirchen haben in dieser Sache, so wichtig sie sind, noch nie genügt. Hier ist der viel zitierte mündige Christ gefordert, der vielleicht nicht immer konsequent aus seinem Glauben lebt, dem aber das Erbe eines heiligen Sonntags etwas wert ist. Tua res agitur, sagten schon die Römer: Es geht um deine ureigene Sache. Darauf wird vieles ankommen. Wir Menschen leben aber nicht als isolierte Robinsons bloß auf unseren eigenen Inseln, sondern wir brauchen um der Gemeinschaft willen gültige Rahmenbedingungen, die uns leichter zusammenführen - auch vor Gott und mit ihm.

 

© Bischof Karl Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz