Der Advent ist unsere Zeit

Gastkommentar des Bischofs von Mainz, Karl Kardinal Lehmann, in der Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 4. Dezember 2011

Datum:
Sonntag, 4. Dezember 2011

Gastkommentar des Bischofs von Mainz, Karl Kardinal Lehmann, in der Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 4. Dezember 2011

Immer wieder werden wir von der Bedeutsamkeit der Zeit in unserem Leben bestimmt. Es gibt ein merkwürdiges Erlebnis im Umgang der Zeit: Wir freuen uns auf bestimmte Gedenktage und Jubiläen, in denen Jahre und Jahrhunderte zu einem zeitlichen Höhepunkt gelangen, wir flüchten aber auch aus der Zeit, die in ihrem schnellen Verlauf uns besonders an unsere Endlichkeit und Vergänglichkeit erinnert. Manchmal könnte man regelrecht verrückt werden, wenn man mit dem Ohr am Sekundenzeiger merkt, wie rasant und unwiederbringlich unsere Zeit abläuft. Es ist vorbei, auf immer, unwiederbringlich. Die Griechen haben vor Jesus Christus darum immer wieder die Zeit als ein gefräßiges Tier bezeichnet, das alles hinwegrafft und aufsaugt. Die Zeit kann gerade in diesem unerbittlichen Verlauf Angst machen.

Die Bibel des Alten und des Neuen Testaments hat eine andere Sicht. Die Zeit gehört zu den Geschöpfen Gottes. Darin bezeugt sie gewiss unsere Endlichkeit. Aber sie ist auch ein kostbares Geschöpf, das uns in verschiedener Hinsicht Zeit schenkt: Zeit zum Leben, Zeit zur Liebe, Zeit zur Versöhnung, Zeit zum guten Gelingen einer Sache oder auch einer Begegnung. Dass die Zeit uns wegläuft und zu einem Zeichen unserer Sterblichkeit wird, wird freilich nicht geleugnet, erhält aber im Menschenbild, in der Liturgie und in der Kunst doch einen anderen, irgendwie auch versöhnlichen Ton.

In einer groben Skizze gibt es zwei Bilder für unseren Umgang mit der Zeit. Dies ist der Kreis, dagegen steht die Linie. Im Kreis versucht der Mensch Erklärung und ein Stück weit auch Befriedigung. Alles kommt wieder. Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Man kann im Schicksalsreigen des Lebens und Sterbens auch zu einem besseren Leben gelangen (Seelenwanderung). Man hat dafür das Stichwort von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen" geprägt. Oft wird dies als Grundanschauung der vorchristlichen Antike angesehen. Später wurde sie von Nietzsche theoretisch verklärt und von manchen nachgeahmt.

Auf der anderen Seite ist da die Linie. Sie wird zum Bild des stetigen Fortschreitens. Nichts kommt wieder. Bezeichnend ist das Wort eines griechischen Weisen. Wenn man zum zweiten Mal an derselben Stelle in einen Fluss hineingeht, ist es nicht mehr dasselbe. Er fließt unaufhörlich weiter. Hier wird das Einmalige und darum auch das Einzigartige betont. Freilich, bei der Linie kommt es darauf an, ob sie zu einem Ziel führt und eine gewisse Vollendung erfährt, oder ob sie ins Unendliche läuft, ohne dass sie eine Erfüllung findet. Das Christentum sieht die Geschichte auf dem Weg zur Vollendung, zunächst einmal unabhängig davon, ob man dies Seligkeit, Himmel, ewiges Leben, neue Erde heißt. Davon ist die schlechte Unendlichkeit eines immer nur Unterwegsseins ohne Ziel und ohne Vollendung abzuheben. Eine solche Sicht kann den Menschen völlig irritieren. Auf einer solchen endlosen Bahn sieht er nur noch die Hoffnungslosigkeit und manchmal den Irrsinn.

Ich glaube, dass wir im konkreten christlichen Zeitverständnis, so wie wir das Jahr und eben auch das Kirchenjahr feiern, eine erstaunliche Vermittlung beider Bilder haben. Im Lauf eines Jahres und besonders eines Kirchenjahres feiern wir immer wieder dieselben Feste. Insofern gibt es die Wiederkehr des Gleichen. Aber dennoch sind wir nicht mehr am selben Ort. Wir sind andere geworden, wir sind gewachsen, wir haben Jahresringe angesetzt. Gewiss ist dies nicht ein stetiger geistlicher Fortschritt, es gibt auch Rückschritte und Verluste. Aber wir haben eine neue Chance, wenn wir zu einem neuen Jahr ansetzen. Wenn wir etwas versäumt haben, uns vergeblich bessern wollten, unendlich ernster mitmachen wollen, erhalten wir in einem neuen Jahr und in einem neuen Kirchenjahr eine geradezu wunderbare Gelegenheit. So vereinen sich Kreis und Linie.

Deswegen glaube ich, dass der Advent, mit dem ein neues Kirchenjahr beginnt, und dann auch in mehr säkularer Form Neujahr, mit dem ein neues bürgerliches Jahr anfängt, den ausschließlichen Widerspruch zwischen Kreis und Linie durchbrechen können und uns auf eine sehr menschliche Weise entgegenkommen. In diesem Sinne ist der richtig verstandene Advent genau die Zeit des Menschen, die uns geschenkt ist.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz