Der Sonntag als gemeinsames Erbe und ökumenische Verpflichtung

Historisch-systematische und praktisch-pastorale Streiflichter

Datum:
Mittwoch, 5. März 2003

Historisch-systematische und praktisch-pastorale Streiflichter

Beitrag für die Festschrift für Walter Kardinal Kasper zum 70. Geburtstag

Es gibt mächtige und durchlaufende Institutionen im Christentum, die immer wieder bedacht werden, aber z.B. im ökumenischen Gespräch nicht den Rang innehaben, den sie haben und der ihnen zusteht. Es sind nicht bloß Theorien oder Normen, sondern Gestalten und praktische Vollzugsweisen des Glaubens, wie z.B. Sakramente und Bräuche.

Dazu gehört der Sonntag, gerade auch im Unterschied zum muslimischen Freitag und zum jüdischen Sabbat. Es mag deshalb nützlich sein, an Hand einiger historischer Etappen und systematischer Erwägungen die ökumenische Gemeinsamkeit des Sonntags von den Anfängen bis in die Gegenwart neu zu bedenken. Dies wird von selbst eine Frage ökumenischer Verpflichtung. Mehr als eine Skizze kann es freilich nicht sein.

I. Der Ursprung des Sonntags

Die Geschichte des Sonntags beginnt bereits bei seinem Namen. Die Bezeichnungen sind ja in den einzelnen Sprachen recht verschieden (z.B. Sonntag, domenica, dimanche, domingo, frontag, kyriake), aber man kann sie relativ leicht auf zwei Grundbedeutungen zurückführen. Im Zusammenhang einer höchst komplizierten religionsgeschichtlichen Situation, die eng mit der antiken Zeitrechnung zusammenhängt, spielt hier die Verehrung eines Sonnengottes eine wichtige Rolle. Vor allem die wachsende Bedeutung des „sol invictus“ führte nach Meinung einiger Forscher zu einer Anlehnung dieses Tages an den Sonnenkult. Entstehungsgeschichtlich ist dies freilich umstritten, da die jüdische Wochenzählung, die hier einen Einfluss hatte, älter ist und auch die Zeugnisse für eine christliche Sonntags-Feier zeitlich früher einsetzen. Aber unsere Sprache ist mit dem Wort „Sonntag“ von diesen Zusammenhängen her geprägt. Die andere Linie des „Herrentages“ (dies dominicus), die sich bereits im Neuen Testament findet, geht einerseits auf die wöchentliche Zusammenkunft der ersten Gemeinden zurück, hat andererseits als Tag der Auferstehung Jesu Christi eine starke Stütze.

Ursprung und Entstehung des Sonntags ist eine auch heute noch schwierige Materie. Es gibt eine ganze Reihe von Lösungen, die freilich nicht recht befriedigen. Ich folge einer Hypothese, die mir immer noch und immer wieder als plausibel erscheint: Aus der Tatsache der Auferstehung Jesu Christi an einem Sonntag lässt sich schließen, dass die Sonntags-Feier als eine wöchentliche Osterfeier verstanden werden kann. Zugleich konkretisiert sich dies in der Erfahrung der nach Ostern stattfindenden wöchentlichen Zusammenkünfte der Jünger mit dem auferstandenen Herrn (vgl. Joh 20,19.26; Apg 1,4; 10,41). Die christliche Sonntagsfeier konzentriert sich ursprünglich hauptsächlich auf die Eucharistiefeier. Dennoch hat man nicht an ihrem Stiftungstag, dem heutigen (Grün-)Donnerstag, sondern – wie es mehr der jüdischen Wochenstruktur entspricht – „am ersten Tag der Woche“ (vgl. Mk 16,1; Joh 20,19) gefeiert. Die Woche beginnt entsprechend mit dem Sonntag als ihrem ersten Tag. Gegen Ende des ersten Jahrhunderts taucht – wie schon angedeutet – der neue christliche Name „Herrentag“ auf, der wohl auch mit dem Wort „Herrenmahl“ (vgl. 1 Kor 11,20) zusammenhängt und heute vor allem noch in den romanischen Sprachen weiterlebt. Dies ist ein Prozess, der offenbar rasch einsetzt (vgl. bereits Offb 1,10; Did 14,1).

Beim Wort „Sonntag“ darf man auch noch an einen anderen Strang der Deutung denken: Die „Sonne“ hat etwas zu tun mit dem Licht des ersten Schöpfungstages, das Gott schafft (vgl. Gen 1,3). Gott ruhte am siebten Tag – dies ist ohnehin ein enger Zusammenhang von Schöpfung und Sabbat/Sonntag. Das Licht deutet auch auf den Glanz der in der Auferstehung aufgeht (vgl. Justin, I. Apol. 67,3). Freilich musste man immer wieder das Missverständnis beseitigen, die Christen würden die Sonne anbeten.

Heute ist einigermaßen geklärt, dass der christliche Sonntag einen eigenen Ursprung hat und nicht ohne weiteres und direkt aus dem Sabbat abgeleitet werden kann. Man hat nämlich auch die These vertreten, die Sonntagsfeier sei eine verlängerte christliche Sabbatfeier. In Wirklichkeit gibt es hier einen klaren Unterschied zwischen dem Sabbat und dem christlichen Sonntag. Dies ist aus noch zu erläuternden Gründen erst später verwischt worden. Gerade die Sabbatkritik Jesu (vgl. (Mk 2,23-28; 3,1-6) hat zu einer frühen Differenzierung zwischen Sonntag und Sabbat geführt. Nur dies erklärt auch, warum der Sonntag als wöchentlicher Feiertag der Gemeinde schon zu Beginn des zweiten Jahrhunderts als vollkommen selbstverständlich erscheint, also keine Neuerung mehr ist. Dafür gibt es außerchristliche und christliche Belege (vgl. Plinius-Brief X, 96; Barnabas-Brief 15,9; Justin, I. Apol. 67; Didache 14,1; Ignatius von Antiochien an die Magnesier 9,1).

Einer kurzen Erwähnung bedarf auch der Ausdruck „acht Tage darauf waren seine Jünger wieder versammelt“ (Joh 20,26). Diese Redeweise geht über den Ausdruck „erster Tag der Woche“ (vgl. Mk 16,1; Joh 20,19; 1 Kor 16,2) hinaus. Er spiegelt bereits urkirchliche liturgische Praxis, nach der sich die Christen „am ersten Wochentag versammelten, um das Brot zu brechen“ (Apg 20,7). Die antike Zählweise bezieht den Ausgangs- und den Endtermin mit ein. Die Sonntage haben also schon vor 100 n.Chr. eine hohe Wertschätzung. Eine eigentliche „Theologie der acht Tage“ findet sich dann im Barnabasbrief (15,8f.), den man gewöhnlich entstehungsgeschichtlich um die Jahre 130-132 ansetzt.

II. Zur Geschichte des Sonntags

Wir verbinden mit dem Sonntag aufgrund der historischen Entwicklung ganz selbstverständlich die Arbeitsruhe. Man muss sich jedoch klar machen, dass in der vorkonstantinischen Zeit beim Sonntag nicht von einer allgemeinen Arbeitsruhe der Christen die Rede sein kann. Dies ging ja auch wegen der Identifizierung der Christen nicht, denn bei strikter Arbeitsruhe hätte man ihre Zugehörigkeit zum verbotenen Christentum leicht aufdecken können. Von da aus ist es auch verständlich, dass in den früheren Schriften der Kirchenväter die alttestamentlichen Sabbatgebote praktisch keine Rolle spielen, obgleich es immer wieder Vergleiche zwischen Sabbat und Sonntag gibt. Erst Kaiser Konstantin I. erklärte im Jahr 321 den Sonntag zum allgemeinen Ruhetag aller Stadtbewohner, an dem keine Arbeit (außer Feldarbeit) und kein Rechtsgeschäft (außer Sklavenfreilassung) erfolgen darf. So werden auch später Gerichtsverhandlungen, Zirkusspiele, Theateraufführungen und Pferderennen verboten.

Dies ist erst der Zeitpunkt, an dem nun der Sonntag und der Sabbat durch die gemeinsame Kennzeichnung einer Unterbrechung der Arbeit und das Arbeitsverbot nahe aneinander rücken. Sabbat und Sonntag verschmelzen so regelrecht. Nun werden mehr und mehr Inhalte des Sabbatverständnisses auch auf den Sonntag übertragen. Aber auch die konstantinische Sonntagsgesetzgebung war noch kein Sieg des Christentums, wie oft leicht vermutet wird, sondern sie war auch vereinbar mit allerhand astrologischen Lehren und mit dem Sonnenkult der Mithrasreligion. Für die Christen war und blieb der Sonntag zuallererst durch die Feier des Gottesdienstes, den „Herrentag“ gekennzeichnet.

Die Verschmelzung von Sonntag und Sabbat führte manchmal auch dazu, dass manche Schriften, die allerdings nicht repräsentativ sind, dazu auffordern, den Sabbat und den Sonntag zu beachten (vgl. z.B. Apost. Konstitutionen). Dies hat eine weitreichende Bedeutung, wenn nämlich das moderne, säkulare Wochenende die Arbeitsruhe des Sabbats und des Sonntags in sich als wesentlichen Kern begreift. Im Übrigen ist es ja auch aufschlussreich, dass unser deutsches Wort Samstag sprachgeschichtlich von Sabbat abgeleitet wird. Die Einhaltung der Arbeitsruhe wird übrigens mehr und mehr als Nachahmung Gottes (vgl. Gen 2,2) verstanden. So entwickelte sich vom frühen Mittelalter an das Sonntagsgebot als doppelte Aufforderung der Arbeitsruhe und der Messfeier. Dies bildet das Verständnis des Sonntags im christlichen Bereich bis in unsere Gegenwart hinein.

Hier mag eine gute Gelegenheit sein, um auf die Beachtung des Freitag im Islam wenigstens kurz zurückzukommen. Die Wahl des Freitags erfolgte in deutlicher Absetzung von den wöchentlichen Feiertagen der Juden und Christen. Der Islam betont bis heute den wesentlichen Unterschied zum Sabbat und zum Sonntag. Der Islam kennt auch nicht zwingend am Freitag eine verordnete Arbeitsruhe, obgleich sie durch den westlichen Einfluss vielfach beachtet wird. Der Freitagsgottesdienst ist wesentlich durch die Predigt gekennzeichnet, die immer schon stärkere politische Akzente trug. So heißt es über den Freitag im Koran: „Ihr Gläubigen! Wenn am Freitag (wörtlich: am Tag der Versammlung) zum Gebet gerufen wird, dann wendet euch mit Eifer dem Gedenken Gottes zu und lasst das Kaufgeschäft (so lange ruhen)! Das ist besser für euch, wenn (anders) ihr (richtig zu Gott) wisst. Doch wenn das Gebet zu Ende ist, dann geht eurer Wege und strebt danach, dass Gott euch Gunst erweist (indem ihr eurem Erwerb nachgeht)! Und gedenket Gottes ohne Unterlass! Vielleicht wird es euch wohlergehen.“ (Sure 62, 9-10, Übersetzung von R. Paret) – Es gibt übrigens noch Hinweise für die Entstehung des Freitags-Gebetes im Zusammenhang des Sabbats, wenigstens in Medina. Die jüdischen Gemeinden versorgten sich beim großen Markt am Freitag in Medina mit Lebensmitteln für den nachfolgenden Sabbat. Um die Mittagszeit ging der Markt zu Ende. Man nützte den Markttag, besonders am Nachmittag, wenn der Markt eben zu Ende ging, zu einer eigenen Versammlung. Dies hat offenbar auch das Freitagsgebet der Muslime beeinflusst.

III. In die Gegenwart reichende Akzente

Der Sinn des christlichen Sonntag ist in einfacher, aber tiefer Gestalt in der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Ausdruck gebracht. Der Artikel 106, der sorgfältig beraten worden ist, ist eine gute Zusammenfassung: „Aus Apostolischer Überlieferung, die ihren Ursprung auf den Auferstehungstag Christi zurückführt, feiert die Kirche Christi das Pascha-Mysterium jeweils am achten Tage, der deshalb mit Recht Tag des Herrn oder Herrentag genannt wird. An diesem Tag müssen die Christgläubigen zusammenkommen, um das Wort Gottes zu hören, an der Eucharistiefeier teilzunehmen und so des Leidens, der Auferstehung und der Herrlichkeit des Herrn Jesus zu gedenken und Gott Dank zu sagen, der sie, ‚wiedergeboren hat zu lebendiger Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten‘ (1 Petr 1,3). Deshalb ist der Herrentag der Ur-Feiertag, den man der Frömmigkeit der Gläubigen eindringlich vor Augen stellen soll, auf dass er auch ein Tag der Freude und der Muße werde. Andere Feiern sollen ihm nicht vorgezogen werden, wenn sie nicht wirklich von höchster Bedeutung sind; denn der Herrentag ist Fundament und Kern des ganzen liturgischen Jahres.“

Ein wichtiger Text findet sich auch in der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, und zwar im Beschluss Gottesdienst (vgl. Offizielle Gesamtausgabe I, Freiburg 1976, 198-206). Es soll nur eine Stelle zitiert werden: „Darum kommen die Christen zusammen, um in den wechselnden Situationen des Lebens diese Botschaft immer besser zu begreifen und von ihr durch den Geist Jesu Christi ergriffen zu werden. Sie versammeln sich, um ihre Dankbarkeit gemeinsam auszudrücken, aber auch ihre Schuld und ihr Versagen zu bekennen. Sie können nicht aufhören, von ihrer Hoffnung zu singen und zu träumen, und sehen darin einen unersetzlichen Dienst an der Menschheit. Sie feiern nicht, um dem Alltag zu entfliehen, sondern um ihn in der Kraft Gottes zu bestehen im Dienst am Nächsten. Durch ihre gottesdienstlichen Feiern und durch das, was darin geschieht, erkennen sie ihren Glauben, der sich vollendet, wenn er in der Liebe wirksam wird.“ (I, 198) Hinweisen möchte ich noch auf das überaus gehaltvolle Apostolische Schreiben von Papst Johannes Paul II. „Dies Domini“ vom 31. Mai 1998 (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 133, Bonn 1998), das viel zu wenig beachtet worden ist.

Diese oder eine ähnliche Ordnung des Sonntags war auch noch lange Zeit bis in das 19. und 20. Jahrhundert gültig. Erst in der Epoche der industriellen Revolution gab es einschneidendere Veränderungen. Im Interesse optimaler Maschinenlaufzeiten wurde die tägliche und wöchentliche Arbeitszeit für Männer, Frauen und Kinder nach oben getrieben. Es gab Arbeitszeiten von bis zu 16 oder gar 18 Stunden an sechs oder sieben Wochentagen. Die gesundheitlichen und sozialen Folgen waren katastrophal. 1839 erließ Preußen ein Regulativ, das die Arbeit von Kindern unter 9 (später 12) Jahren an Sonntagen verbot und die wochentägliche Arbeitszeit begrenzte. Im Jahre 1887 stellten deutsche Umfragen fest, dass sonntags im Durchschnitt knapp 60 % der Betriebe aus allen Wirtschaftszweigen (Großindustrie, Handwerk, Handel und Verkehr) ganz- oder halbtags arbeiten ließen und dabei rund 42 % der Beschäftigten eingesetzt wurden. 1891 wurde Sonntagsarbeit grundsätzlich verboten, es galt jedoch eine bestimmte Ausnahmeregelung. Es tritt eine völlig neue Situation ein, als mit der Weimarer Reichsverfassung im Jahr 1919 der Schutz des Sonntags Verfassungsrang erhält (vgl. Art. 139). Er gilt als Art. 140 unseres Grundgesetzes weiter: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“ Es ist uns kaum mehr bewusst, was für ein wichtiger Schritt dies war.

IV. Aktuelle Wandlungen

Seit 1960 aber hat sich unter internationalem wirtschaftlichem Druck und wegen des sich weiter verändernden Freizeitverhaltens die Lage wieder geändert. Immer mehr Industriezweigen wird kontinuierliche Sonntagsarbeit zugestanden. Sie steigt vor allem im Dienstleistungsbereich rapide an. In diesem Sinne wurde 1994 ein neues Arbeitszeitgesetz verabschiedet, das frühere Verordnungen von 1895 und 1938 aufhebt und nun in Generalklauseln die erlaubten und verbotenen industriellen und gewerblichen Tätigkeiten erfasst. Die zumeist von den Regierungspräsidenten erlaubten Ausnahmefälle werden kaum veröffentlicht. In dem neuen Gesetz sind in Deutschland mehrmals auch die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit und die Beschäftigungssicherung als Kriterien aufgenommen. Auch das deutsche Ladenschlussgesetz wurde 1996 stark liberalisiert. Der gesellschaftliche Konsens sowie die Rechtsprechung werden in diesen und in anderen Bereichen die Sonntags- und Feiertagsruhe schwächer. Gewerkschaften und Kirchen kämpfen in seltener Eintracht für den Erhalt des Sonntags und – freilich in unterschiedlicher Sicht des Samstags – auch des Wochenendes.

Eine wichtige weitere Veränderung erfolgt durch das heutige Freizeit-Angebot und durch den Tourismus. Die Sonn- und Festtage sind in der Gefahr, entweder weitgehend verdrängt oder zum bloßen Wochenende, z.B. zum Ort für Ausflugs- und Sportveranstaltungen, zu werden. Sie werden so ihres ursprünglichen religiösen, kulturellen und anthropologischen Sinnes beraubt und werden zum Anlass für neue Zwänge, von denen der Mensch nach der genuinen Auffassung des Sonntags an diesem Tag gerade befreit werden sollte. Der „Wochenende-Tourismus“ und das geänderte Freizeitverhalten greifen tief in das Leben der Menschen ein. Sonntagsbräuche, festliche Kleidung und Sonntagsessen sind zum Teil aufgegeben worden. Die Sinngebung des Sonntags ist so in hohem Maß Privatsache geworden. Manche sind dadurch freilich überfordert und leiden unter „Wochenenddepression“ und „Sonntagsneurose“. Sie können sich nur mehr durch Arbeit oder einen beinahe ähnlichen Freizeit-Stress ausdrücken. Ihre Fähigkeit zu Muße, Fest und Feier ist verkümmert. Das Wochenende wird über das Verhalten des Einzelnen hinaus von der Vergnügungs- und Unterhaltungsindustrie, vom Sport- und Freizeitbetrieb beherrscht. Dadurch kann vielen gewiss zur Erholung, Unterhaltung und Entspannung geholfen werden, weniger in entsprechendem Maß zur Sinngebung des Sonntags und des Lebens überhaupt. Es besteht kein Zweifel, dass in diesem Zusammenhang auch der drastische Rückgang des Besuchs des Sonntagsgottesdienstes, der nach verlässlichen religionssoziologischen Untersuchungen in vieler Hinsicht ein Gradmesser der Beteiligung am Leben der Kirchen ist, verstanden werden muss.

V. Notwendige Sorge und bleibende Gefährdung

Hier wird deutlich, dass der religiöse, der kulturelle und der anthropologische sowie der soziale Sinn des Sonntags sehr eng miteinander verbunden ist. Die gemeinsam verbrachte und geteilte Zeit stützt und erhält das Leben in größeren und kleineren Gemeinschaften. Der Lebenszusammenhang vor allem in überschaubaren Gemeinschaften wird dagegen gefährdet, wenn die notwendige Unterbrechung an unterschiedlichen Tagen stattfindet, sodass die Flexibilisierung der Arbeitszeit, die am Anfang meist nur in ihren Vorteilen gesehen wird, offenkundiger wird in den Folgen.

Der Sonntag hat im Übrigen auch die Aufgabe des Schutzes vor einer weitgehenden oder totalen Ökonomisierung des Menschen. In einer notwendigerweise stark von Leistung geprägten Gesellschaft schafft gerade der Sonntag, wenn er richtig begangen wird, eine Zone der Freiheit. Er verhilft auch zum Abstand von dem sich immer mehr beschleunigenden Wandel sowie vom Anpassungsdruck des Erwerbslebens. Die Woche öffnet sich darum auch am Sonntag auf das Lebensganze hin, auf die Frage nach dem Woher und Wohin sowie dem Sinn des Lebens überhaupt. So ist der Sonntag eine Form, „Zustimmung zur Welt“ (J. Pieper) und zum Leben im Ganzen zu geben und einen Tag der Orientierung, der Vergewisserung des Lebenssinnes sowie der Öffnung auf Transzendenz und Gott hin zu gewinnen. Insofern ist die Feier des Sonntags, gerade wenn es auch um das Freiwerden von Zwängen geht, ein Erfordernis der Menschenwürde, ein Protest gegen die Vermarktung des Menschen und gegen die Versklavung durch die Arbeitswelt. Der Sonntag ist ein Tag der Gemeinschaft, der Kultur und der Pflege gesellschaftlicher Intimräume (Ehe und Familie, Freundschaften usw.) und wirkt so der Vereinsamung und Anonymität in der heutigen Gesellschaft entgegen. So ist er auch der Tag der Gottesverehrung, ja die religiöse Herkunft und Struktur stützen und sichern den Sonntag in seiner eigenen Bedeutung am meisten.

Diese Bedeutung für die Gesellschaft kann der Sonntag allerdings nur dann gewinnen, wenn er grundsätzlich von allen gemeinsam gehalten wird und nicht jeder in einer „gleitenden Arbeitswoche“ einen anderen freien Tag erhält. Selbstverständlich müssen manche Arbeiten auch am Sonntag geleistet werden. Sie sollen jedoch im Interesse aller auf jene Aufgaben beschränkt werden, die für das Gemeinwohl unbedingt erforderlich sind. Die Sorge um den Sonntag ist darum auch nicht nur Sache des Einzelnen oder gar der Kirchen allein, sondern sie muss auch von den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, Kultur und Sport mitgetragen werden. Der Sonntag – übrigens ebenso wie der Sabbat – ist freilich in seiner gesamten Geschichte immer wieder von einer schleichenden Erosion durch verschiedene Interessen gefährdet. Dabei gibt es auch verschiedene grundlegende Missverständnisse. Ein besonders bedauerlicher Bruch mit der Tradition ist es, dass die Internationale Organisation für Standardisierung (ISO), eine Unterorganisation der UNO, empfohlen hat, ab 1.1.1970 den Sonntag als letzten Tag der Woche zu betrachten. Diese Regelung ist ab 1975 bindend auch in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt worden, wie man leicht an den Fahrplänen aller Art sieht.

VI. Ökumenische Aufgaben

Darum muss der Sonntag immer wieder in seiner Unentbehrlichkeit und Unersetzbarkeit für den Menschen verteidigt und geschützt werden. Es gibt dafür immer wieder neue Herausforderungen. Die modernen Revolutionen und der Nationalsozialismus sowie der Leninismus-Stalinismus, besonders auch in der ehemaligen DDR, haben auf ihre Weise immer wieder die Abschaffung oder Umfunktionierung des Sonntags versucht. Sie sind gescheitert.

Die Kirchen haben in ökumenischer Zusammenarbeit während der letzten 20 Jahre vor diesem Hintergrund immer wieder versucht, sich den Herausforderungen zu stellen (vgl. die Gemeinsamen Worte „Den Sonntag feiern“, 1984, „Der Sonntag muss geschützt bleiben“, 1985, „Unsere Verantwortung für den Sonntag“, 1989, das Sozialhirtenwort „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“, 1997, und „Menschen brauchen den Sonntag“, 1999). Viele katholische Bischöfe schrieben regelmäßig Hirtenworte zur Österlichen Bußzeit über den Sonntag. Das Wort des Papstes wurde schon genannt. Dabei geht es ineins mit dem religiösen Gehalt immer auch um den Sonntag in seiner humanisierenden, sozialen Funktion und in seiner kulturellen Bedeutung.

Über diese Grundbestimmung gewinnt man ökumenisch relativ rasch einen Konsens. Aber man hat oft den Eindruck, dass das ökumenische Gespräch über den Sonntag doch merkwürdig abstrakt und folgenlos bleibt für die Kirchen selbst. Meist geht es um die Arbeitswelt. Diesen Eindruck gewinne ich immer wieder, wenn es z.B. um gemeinsame Gottesdienste am Sonntag geht. Auch wenn es für den Rang des Herrenmahls am Sonntag schon frühe Zeugnisse gibt, so scheint zwischen den Kirchen hier bei aller grundlegenden Einheit eine nicht unerhebliche Mentalitätsdifferenz vorzuherrschen.

Für den katholischen Christen, übrigens wie für die Orthodoxie, gibt es einen unauflöslichen, konstitutiven Zusammenhang zwischen der Feier des Sonntags und der Feier der Eucharistie. Für einen katholischen Christen ist es darum selbstverständlich, dass ein Gottesdienst am Sonntag zunächst und zuerst immer die Eucharistiefeier bedeutet. Natürlich gibt es im Einzelfall eigene Einstellungen und Meinungen. Dies kann aber nichts an der grundsätzlichen, normativen Zusammengehörigkeit beider ändern. Auch wenn in den reformatorischen Kirchen erfreulicherweise am Sonntag mehr und mehr der Gottesdienst mit dem Abendmahl verbunden wird, so bleibt doch eine viel lockere Verhältnisbestimmung zwischen Sonntag und Herrenmahl. Dahinter steht meist auch das Problem der ekklesialen Struktur und der kirchenbildenden Bedeutung der Eucharistie (vgl. Th. Söding (Hg.), Eucharistie. Positionen katholischer Theologie, Regensburg 2002).

Wenn diese Zusammenhänge bzw. Verstehensvoraussetzungen nicht beachtet werden, gibt es bei der Diskussion um die Gestaltung der Gottesdienste am Sonntag, besonders am Sonntagmorgen, zwischen den Konfessionen unseres Raumes immer wieder Unverständnis, Vorwürfe und Zerwürfnisse.

Im konkreten Dialog, wenn schon darüber geredet wird, spielt in diesem Zusammenhang auch die sogenannte Sonntagspflicht eine Rolle. Dieses Problem kann hier selbstverständlich nicht ausführlicher behandelt werden. Nicht selten entsteht daraus freilich eine Karikatur. Katholiken sind manchmal in Gefahr, die Sonntagspflicht legalistisch und formalistisch überzubetonen, während die reformatorischen Gesprächspartner in einer so verstandenen „Pflicht“ einen typischen Fall von abzulehnender „Gesetzlichkeit“ erkennen zu müssen glauben. Die Grundüberzeugung, dass der Herrentag selbst auf die Ur-Feier der Eucharistie zurückgeht und darum ein Gebot zur Mitfeier der Eucharistie am Sonntag dies zum Ausdruck bringt, verkümmert oder entschwindet dabei.

Es ist jedoch unerlässlich, dass das ökumenische Gespräch sich viel intensiver diesen Fragen zuwendet, die nicht nur praktischer und besonders pastoraler Natur sind, sondern auch tiefgreifendere theologische Probleme in sich bergen. Es ist auch deswegen nicht verantwortlich, darüber höflich zu schweigen, weil der Gottesdienstbesuch in beiden großen Kirchen in den letzten Jahren und Jahrzehnten dramatisch gesunken ist, bei den Katholiken im Durchschnitt der deutschen Diözesen auf 16%, evangelischerseits gibt es noch keine Gesamtstatistik, die Zählweise ist anders, für den gewöhnlichen Sonntag ergeben sich knapp 5%, am Karfreitag z.B. 4,7%. Trotz des Rückgangs muss man den Gesamtzusammenhang betrachten. Die Teilnehmerzahl ist immer noch höher als z.B. die der Besuche aller Sportveranstaltungen oder Volksfeste. Aber was will die gute und notwendige Rede von einem neuen missionarischen Aufbruch konkret erreichen, wenn wir nicht dieses Thema, das Misere und Chance zugleich, gemeinsames Erbe und ökumenische Verpflichtung in einem ist, entschiedener aufgreifen?

Es gibt viele Mittel zu diesem Ziel. Hier gibt es auch neue Wege. Darum haben die Kirchen gerade vor diesem Hintergrund die Einrichtung der Ausstellung „Der siebte Tag“ durch die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 2002 und 2003 in Bonn und Leipzig mit Nachdruck begrüßt und dafür gedankt, dass hier eine außerordentliche Gelegenheit besteht, über den Sonntag und seine heutige Gefährdung neu nachzudenken. Solche Ausstellungen mit ihren heutigen Möglichkeiten können uns nicht nur an vergebliche und falsche Versuche der Korrektur unserer Zeitrechnung erinnern, sondern auch zur vertieften Einsicht führen: Alle Geschöpfe, besonders die Menschen, sollen Gelegenheit erhalten, sich von den Zwängen der Gesellschaft und unserer Welt freizumachen und sich zu erholen. Der Rhythmus von Arbeit und Befreiung von ihr ist für die Existenz des Menschen ähnlich wichtig wie seine soziale Grundanlage. Darum steht der Sonntag nicht zur freien Disposition. Zu den Bedingungen gelungener Freiheit gehört eine würdige Feier des Sonntags. So ist es auch kein Zufall, dass der Sabbat für die Juden ein ganz besonderes Geschenk Gottes an die Menschheit ist – nicht minder der Sonntag.

 

Literatur-Auswahl

Zunächst sei auf die Artikel Sabbat/Sonntag in den großen Lexika verwiesen: Lexikon für Theologie und Kirche, Religion in Geschichte und Gegenwart, Theologische Realenzyklopädie, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Neues Bibellexikon, Lexikon des Mittelalters usw. Leider enthält das Historische Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland „Geschichtliche Grundbegriffe“ keinen entsprechenden Artikel.

·C. S. Mosna, Storia della Domenica dalle origini fino agli inzi del V secolo, Roma 1969,

·W. Rordorf, Sabbat und Sonntag in der Alten Kirche, Zürich 1972 (Auswahl von Texten),

·A. M. Altermatt u.a. (Hg.), Der Sonntag. Anspruch – Wirklichkeit – Gestalt, Würzburg 1986,

·J. P. Rinderspacher, Am Ende der Woche. Die soziale und kulturelle Bedeutung des Wochenendes, Bonn 1987,

·E. Schudlich, Die Abkehr vom Normalarbeitstag. Entwicklung der Arbeitszeiten in der Industrie der Bundesrepublik seit 1949, 3 Bände, Frankfurt 1987ff.,

·J. Wilke (Hg.), Mehr als ein Weekend? Der Sonntag in der Diskussion, Paderborn 1989,

·A. J. Heschel, Sabbat. Seine Bedeutung für den heutigen Menschen, Neukirchen 1990,

·K. Koch, Ist der Sonntag noch zu retten? Unzeitgemäße Fragmente, Stuttgart 1991,

·H. Maier, Die christliche Zeitrechnung, Freiburg 1991,

·R. Guardini, Der Sonntag, gestern, heute und immer, Mainz 1992,

·G. Schulze, Die Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt 1992, 8. Auflage 2000,

·P. Cornehl u.a. (Hg.), „... in der Schar derer, die da feiern“, Göttingen 1993,

·G. Schmidtchen, Lebenssinn und Arbeitswelt, Orientierung im Unternehmen, Gütersloh 1996,

·O. Nuss, Der Streit um den Sonntag, Idstein 1996,

·H. W. Opaschowski, Einführung in die Freizeitwissenschaft, 3. Auflage, Opladen 1997,

·R. Weiler (Hg.), Der Tag des Herrn. Kulturgeschichte des Sonntags, Wien 1998,

·F. Fürstenberg (Hg.), Der Samstag, Berlin 1999,

·J. P. Rinderspacher u.a., „Ohne Sonntag gibt es nur noch Werktage“. Die soziale und kulturelle Bedeutung des Wochenendes, Bonn 2000,

·H. Förster, Die Feier der Geburt Christi in der Alten Kirche = Studien und Texte zur Antike und Christentum, Band 4, Tübingen 2000 (wichtig für die Zusammenhänge mit dem Sonnenkult),

·Museum der Arbeit (Hg.), Sonntag!, Kulturgeschichte eines besonderen Tages, Hamburg 2001,

·Chr. Markschies, Zwischen den Welten wandern. Strukturen des antiken Christentums = Fischer Taschenbuch, Europäische Geschichte, Nr. 60101, Frankfurt 2001 (1. Aufl. 1997), 47-50,

·H. W. Opaschowski, Wir werden es erleben. Zehn Zukunftstrends für unser Leben von morgen, Darmstadt 2002,

·H. W. Opaschowski, Was uns zusammenhält. Krise und Zukunft der westlichen Wertewelt, München 2002,

·H. Schmidinger (Hg.), Wovon wir leben werden. Die Ressourcen der Zukunft, Salzburger Hochschulwochen 2002, Innsbruck 2002,

·H. Petri, Der Verrat an der jungen Generation. Welche Werte die Gesellschaft Jugendlichen vorenthält, Freiburg 2002,

·Am siebten Tag. Geschichte des Sonntags. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn-Leipzig 2002/2003, Sankt Augustin 2002.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz