Lesungen: Jes 61,1-3a; 2 Tim 1,6-8.13-14; Joh 10,11-16
Aus Anlass der Gedenktage meiner Bischofs- und Priesterweihe möchte ich etwas zum geistlichen Dienst anhand des Hirten-Motivs sagen. Dies ist wenigstens für mich selbst nicht selbstverständlich. Mit Gott und Jesus als „Hirten" konnte ich lange wenig anfangen. Die Hirtenbilder waren mir zu süßlich verkitscht. Sie haben mich sogar eher abgestoßen.
Dies änderte sich langsam. In der Bibel lernte ich den Sinn des Hirteseins neu - auch für meine Berufung - kennen. Aber auch in den Katakombenmalereien Roms und den Sarkophagen lernte ich ein anderes Hirtenbild kennen, manchmal gar nicht unterscheidbar, ob christlich oder heidnisch. Der Hirte war ein völkerübergreifendes Bildmotiv in der alten Welt, manchmal spielerisch-poetisch, manchmal auch ein Sinnbild für die Bewahrung des Menschen in schwierigen Situationen und Zeiten. Deshalb erscheint Orpheus als Hirte, aber auch König David.
Im ganzen Alten Orient ist das Bildwort vom Hirten schon früh auf Könige, ja auch auf Gottheiten angewendet worden. Der springende Punkt in diesem Wort ist das Verständnis von Leiten und Führen. Dies bedeutet nicht willkürliches Verfügen wie es durch Despoten aller Art bis heute in aller Welt vor Augen geführt wird, sondern Herrschen schließt vor allem anderen Verantwortung und Sorge ein, nicht zuletzt auch die Bewahrung der Lebenswelt einschließlich von Nahrung und Sicherheit, Schutz und Verteidigung. Der Hirte teilt das Leben mit seinen Schafen. So kann auch Gott selbst in der Bildersprache des Alten Testamentes als ein solcher Hirte bezeichnet werden (vgl. Ps 80,2; Gen 49,24 und bes. Ps 23). Er hat sich als wahrer Hirte Israels bewährt. Dies steht im Gegensatz zu vielen menschlichen Hirten, die sich nicht genügend gerade um die zerstreuten und bedrohten Schafe kümmern. Gott spricht in der berühmten Hirtenrede beim Propheten Ezechiel: „Jetzt will ich meine Schafe selber suchen und mich selber um sie kümmern ... Und hole sie zurück von all den Orten, wohin sie sich am dunklen, düsteren Tag zerstreut haben. Die verlorengegangenen Tiere will ich suchen, die vertriebenen zurückbringen, die verletzten verbinden, die schwachen kräftigen, die fetten und starken behüten. Ich will ihr Hirt sein und für sie sorgen, wie es recht ist." (34,11f.16) Im Lichte dieser Erfahrung erwartet Israel das Heil der Zukunft von einem messianischen Hirten (vgl. Jer 3,15; Ez 34; Sach 10,12; 13,7).
Im Neuen Testament wird weniger Gott, sondern vor allem Jesus Christus der Hirte genannt. Er ist im Sinne der Erfüllung alttestamentlicher Erwartung der „gute Hirt" schlechthin. Er muss gerade in Gefahren die Herde sammeln und schützen. Er kennt die Schafe, und die Schafe kennen ihn. Fürsorge und Verantwortung, Sorge um das Leben und stetige Wachsamkeit kennzeichnen seinen Dienst für die Herde und den Einzelnen. Dies kann soweit gehen, dass der gute Hirt für die ihm anvertrauten Tiere auch sein Leben einsetzt und riskiert. Gerade für die Hirtenrede im Johannesevangelium ist es wichtig, dass dies nicht nur für die Tiere aus dem eigenen Stall gilt (vgl. 10,11.16).
Wir sind gewohnt, das Wort „Hirte" in manchen Abwandlungen, z.B. Oberhirte, auch auf die priesterlichen und bischöflichen Ämter in der Kirche anzuwenden. Auch hier ist ein Blick in das Neue Testament bedeutungsvoll. Hier werden nämlich die Verantwortlichen für die christlichen Gemeinden nur einmal und zögernd „Hirten" genannt (vgl. Eph 4,11). Jesus Christus ist und bleibt der „große Hirt", der „Erzhirte". Er ist der einzige und wahre Herr. Alle anderen sind nur Verwalter. Aber „Hirte" ist im Neuen Testament noch kein Amtstitel. Es ist eher die Charakterisierung des geistlichen Dienstes für die Herde Gottes im Sinne der Fürsorge und Verantwortung für andere (vgl. dazu Joh 10,11f.; 1 Petr 2,25).
Hier gibt es auch eine enge Verwandtschaft zu dem neutestamentlichen Sinne von Bischof, „episcopus". Dieses Wort, das auch schon in der griechischen Bibel eine Rolle spielt (vgl. Jer 23,2; Sach 10,3; Ez 34,11f.), bezeichnet die Aufgabe, auf die anvertrauten Menschen zu blicken, sie nicht aus den Augen zu verlieren, über sie zu wachen und sie zu schützen. Deswegen wird „Bischof" mit der Aufgabe eines Aufsehers in Verbindung gebracht, was man gewiss nicht nur im rechtlichen oder gar administrativen Sinne, sondern von der Fürsorge und einer Art Schirmherrschaft her verstehen muss (vgl. vor allem 1 Petr 2,25; Phil 1,1; Tit 1,7; Apg 20,28; 1 Tim 3,2ff.). Dabei ist der Maßstab dieser so verstandenen Aufsicht das Evangelium. Leitung wächst aus der Bewahrung und Anwendung der apostolischen Überlieferung. In diesem Sinne gibt es in der fürsorgenden Funktion auch das Moment der Lehre. Von da aus muss man ganz in der Linie der prophetischen Kritik an den falschen Hirten die Mahnung im ersten Petrusbrief verstehen: „Sorgt als Hirten für die euch anvertraute Herde Gottes, nicht aus Zwang, sondern freiwillig, wie Gott es will; auch nicht aus Gewinnsucht, sondern aus Neigung; seid nicht Beherrscher eurer Gemeinden, sondern Vorbilder für die Herde! Wenn dann der oberste Hirt erscheint, werdet ihr den nie verwelkenden Kranz der Herrlichkeit empfangen." (1 Petr 5,2f.; vgl. auch Hebr 13,20)
Vor diesem Hintergrund bekommt das zunächst eher unscheinbare Bild des Hirten für das Verständnis des geistlichen Dienstes, sei es als Priester oder als Bischof, ein sehr klares Profil. Ich möchte es zusammenfassend in folgenden Grundrichtungen sehen:
· Ein guter Hirte muss den Mut haben, aus dem Glauben heraus eine verlässliche Orientierung vorzugeben. Er darf sich nicht bequem anpassen. Er darf aber auch nicht hartherzig sein, sondern soll Mitgefühl, Geduld und Barmherzigkeit für die aufbringen, die an Schwächen leiden.
· Ein guter Hirte ist ein Freund des Lebens, der ermutigend und tröstend begleitet und den Menschen hilft, „damit sie das Leben haben und es in Fülle haben" (Joh 10,10; vgl. Jes 49,9f.; Ez 34,12ff.). Er wird sie lehren, das wahre Leben zu suchen und dieses nicht zu verwechseln mit einem augenblicklichen Überschwang in einem Rausch.
· Der wahre Hirte vergisst nicht, dass er für alle da ist, nicht nur für die fetten und starken Tiere, die er freilich auch nicht verachtet. Er kümmert sich um alle, die sich verlaufen haben, die verloren gegangen sind, die selbst nicht mehr laufen können und wund sind. Auf den Bildern des guten Hirten wird man sich immer auch daran erinnern, dass er die verirrten Schafe aus dem Dornengestrüpp herausholt. Auf starken Schultern trägt er die Schafe zurück. Dies gilt besonders auch für alle Sünder, die er liebt (vgl. Mt 18,12ff.).
· Der gute Hirt hat so ein Herz für die Armen, die Kleinen, die Schwachen. Ganz besonders auch für alle, welche in ihrem Leben an den Rand gekommen sind. Er tritt für ihre Würde, ihre Gerechtigkeit und für ihr Lebensrecht ein.
· Der gute Hirte ist mutig und wachsam. Er läuft vor Gefahren nicht davon und schützt die ihm anvertrauten Schafe. Er will nicht sich selbst weiden, er macht keinen Gewinn, wobei nicht nur ein materieller gemeint ist, sondern auch Ansehen und Prestige. Er riskiert für andere den Einsatz des eigenen Lebens und kämpft gegen alle Formen der Verfolgung und der Unterdrückung.
Dies kann wenigstens in einigen Perspektiven andeuten, warum das Motiv des Hirten theologisch-spirituell und pastoral so reich ist. Es verankert alle Seelsorge und Theologie in dem guten Hirten, der Gott selber ist und uns in Jesus Christus nahe bleibt auf allen verschlungenen und verführerischen Wegen unseres Lebens. Es bezieht sich auf alle Menschen ohne Ausnahme. Der gute Hirte ist für die ihm Anvertrauten immer auf der Hut. Er schützt sie vor allen Formen von Verwüstung und Ausnutzung. Damit kommen wir wieder in die Nähe des ursprünglichen Sinnes des Berufes eines Hirten. Der Mensch findet darum immer wieder in ihm nicht nur eine streng religiöse, sondern auch eine tiefe Beschreibung der Berufung des Menschen. Martin Heidegger kann darum sagen: „Der Mensch ist der Hirt des Seins." Aber der Mensch allein wäre auch überfordert, wenn er sich allein zu einem so umfassenden Hirtendienst ernennen würde.
Für alle Zeiten ist dies zusammengefasst in Psalm 23, wo Gott als der gute Hirte den Menschen stets begleitet: „Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht." (23,4) Ein anderes Wort fasst dies in gleicher Weise zusammen: „Gott, der mein Hirte war, mein Lebtag bis heute." (Gen 48,15)
Es war und ist mir eine Freude, in diesem Geist Priester und Bischof sein zu dürfen und nicht zuletzt auch junge Menschen für diesen Dienst zu begeistern. Gewiss bin ich immer wieder hinter diesem Maß zurückgeblieben. Darum bedarf ich der Barmherzigkeit Gottes und der Nachsicht der Menschen. Aber es ist ein Weg, der in allem Freude macht. Dafür möchte ich mit ihnen allen danken. Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
Es gilt das gesprochene Wort
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz