Lesungstext: 2 Kor 5,14 - 6,2 |
Man kann die Vergebungsbitte des Hl. Vaters vom Sonntag, 12.03.2000, nur recht verstehen, wenn man den näheren Kontext begreift. Im Jubiläumsjahr 2000 und damit auch für den Weg ins Dritte Jahrtausend ist das erste grundlegende Element die Umkehr des Einzelnen und der Menschheit zu Gott und zu einem neuen Leben der Menschen untereinander. Dieses neue Denken ist die Voraussetzung für alles andere, was mit einem Jubeljahr zusammenhängt. Zur Umkehr gehört zuerst die Abkehr von Fehlverhalten, von Sünde. Darum lag es nahe, dies auch anschaulich und überzeugend zum Ausdruck zu bringen. So sagte der Heilige Vater in „Incarnationis mysterium" vom 29.11.1998: „Da ist vor allem das Zeichen der Reinigung des Gedächtnisses: es verlangt vor allem einen mutigen Akt der Demut, nämlich die Verfehlungen zuzugeben, die von denen begangen wurden, die den Namen Christen trugen und tragen." (Nr. 11) Die Vergebungsbitte ist also nicht ein spektakulärer oder sensationeller Einzelakt, sondern gehört mitten hinein in das Jubiläumsjahr. „Das Heilige Jahr ist seinem Wesen nach eine Zeit des Aufrufes zur Umkehr." (Nr. 11)
Darum ist es auch angemessen, dass das Schuldbekenntnis und die Vergebungsbitte in der Form erfolgen, wie Religion und Kirche gewöhnlich zuerst Schuld bewältigen, nämlich in der Form des Gebetes, das hier das Bekenntnis des Versagens und die Bitte um Vergebung einschließt. Beides gehört zusammen, muss aber auch unterschieden werden, wie es für die sieben Lebensbereiche geschehen ist. Wir stellen uns also nicht einfach vor die Menschheit hin und erklären, dass nun jedem bestimmte Verfehlungen bekannt gemacht seien. Es geht nicht um das Abgeben einer Erklärung mit einem Schuldenkatalog. Vielleicht sind wir selbst dieser Vorstellung im Lauf der letzten Monate zu wenig entgegengetreten. Wir bitten ja auch nicht zuerst die Menschheit um Vergebung, sondern zuallererst Gott selbst und dann gewiss auch die Menschen. Es ist beileibe kein „Kniefall vor der Menschheit". Darum gehört die Vergebungsbitte auch in den Gottesdienst und hat beim Allgemeinen Gebet - wir sagen gewöhnlich „Fürbitten" - ihren besten Platz. Wir können uns auch Versöhnung nicht einfach von uns aus verschaffen. Sie muss uns von Gott eröffnet und ganz grundlegend geschenkt werden. „Aber das alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat." (2 Kor 5,18) Dies ist nichts anderes als die konkrete Anwendung der Rechtfertigung durch Gott allein, die wir in den letzten Monaten nach der Unterzeichnung der Gemeinsamen Vereinbarung in Augsburg am 31.10.1999 immer wieder bedacht haben. „Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und uns das Wort von der Versöhnung anvertraute." (5, 19) Und diese Versöhnung, die als Vergebung dem Bekenntnis des Versagens folgt, ist eine eindringliche Bitte, die unsere eigene Armseligkeit und Unfähigkeit zu vergeben elementar unterstreicht. Wir sind und bleiben arme Bettler. Zugleich aber dürfen wir diese von Gott kommende Versöhnung verkündigen und immer wieder zu ihr einladen: „Wir sind Gesandte an Christi Statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch mit Gott versöhnen!" Es ist nicht zufällig, dass hier das Wort „bitten" eine so zentrale Stelle einnimmt.
Muss das Bekenntnis aber so allgemein bleiben? Gewiss, es sind schöne und hohe Worte, die jeweils formuliert worden sind. Aber wo sind die Namen und Ereignisse, um die es hier geht? Ist es in dieser Unverbindlichkeit doch nur ein halbes Bekenntnis? Viel Weihrauch und viele Symbole, aber keine Konkretion des Versagens? Man kann so fragen, aber dies ist nicht schon die Antwort. Auch hier muss man wieder auf den Charakter der Vergebungsbitte zurückkommen. Das „Allgemeine Gebet der Gläubigen" ist uralt und hat es bei aller Eindringlichkeit der Bitten immer vermieden, konkrete Orte und Personen zu nennen. Die heutige Durchschnittspraxis unserer „Fürbitten" hat dies oft in den Hintergrund gedrängt. Aber gerade deswegen hat es auch einen guten Sinn, unser Versagen nicht einfach nur auf einige wenige konkrete Ereignisse zu beschränken, sondern es gibt hier eine Allgemeinheit, die sehr zupackend ist, uns nicht so schnell von der Verantwortung überall entlastet und gerade so in der herausfordernden Eindringlichkeit mahnt. Es ist genau das Gegenteil von Unverbindlichkeit. Die Gewissenserforschung wird viel radikaler, umfassender und belastender, wenn ich keinen aufzählenden Katalog vorlege, den wir beruhigend abschließen können.
Der Einwand kann aber auch aus einem anderen Grund so nicht stehen bleiben. Der Papst hat nämlich keineswegs zu vielen einzelnen Fehltritten und sündhaften Handlungen geschwiegen. Er wenigstens gehört nicht zu den Vertretern des feinen Schweigens, die es ja uch heute gibt. Im Gegenteil, sein ganzes bisheriges Wirken ist unübersehbar auf diesem einmaligen Akt des demütigen Bekennens angelegt. Auch seine über 90 großen Pastoralreisen in alle Welt zielten immer wieder auf Regionen und Orte, wo dieses Wort der Versöhnung und die Bitte um Vergebung besonders angebracht waren. Es ist nicht so schwer, diese Texte zu finden. An die 100 Texte sind es allein in diesem Pontifikat, wobei wir Johannes XXIII. und Paul VI. nur kurz nennen. Es gibt zu all den Ereignissen, die wir immer wieder beinahe beschwören, sehr konkrete Äußerungen: Kreuzzüge, Inquisition, Galileo Galilei, Judentum und die anderen nichtchristlichen Religionen, Kirchenspaltungen und Religionskriege, Martin Luther und Jan Hus, Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen, Verstrickungen im Blick auf Rassismus und Diktaturen, in Krieg und Streit, bei Unrecht gegenüber Ureinwohnern und Sklaven, nicht zuletzt Indios und Indianern. Auch wenn man sich vielleicht noch deutlichere Worte wünscht im Blick auf den Holocaust, so darf man die vielen Worte, die der Papst schon längst dazu gesagt hat, nicht einfach verschweigen. So hat der Papst beim Gottesdienst zum Abschluss der ersten Europasynode am 7. Dezember 1991 gebetet: „Herr, unser Befreier, in den christlichen Gemeinschaften Europas haben wir nicht immer dein Gebot befolgt, wir haben allein auf unsere menschlichen Kräfte vertraut. Mit den Religionskriegen, mit den Kämpfen von Christen gegen Christen, mit der Passivität angesichts der Verfolgung und der Vernichtung der Juden, mit dem Wüten gegen so viele Gerechte sind wir nur weltlicher Logik gefolgt. Vergib uns und erbarme dich unser." Auch die Sintis sind nicht vergessen. Schließlich hat gerade Johannes Paul II. immer wieder das Bekenntnis der Schuld und die Bitte um Vergebung bis in die Gegenwart hinein verlängert, wenn es z.B. um die Mafia oder um das Versagen der Christen im Ruanda-Konflikt geht.
Ich bitte alle, die sich ein Urteil über die sieben Vergebungsbitten machen wollen und nach Konkretionen suchen, diese vielen Texte, die in zwei deutschen Veröffentlichungen leicht zugänglich sind, in die Meinungsbildung einzubeziehen. Dabei sollten wir auch bedenken, dass man Schuldbekenntnisse und Vergebungsbitten nicht beliebig oft wiederholen kann, gerade auch vor Gott. Sonst werden die Worte sehr schnell inflationär, gleichgültig und unglaubwürdig. Die Häufung solcher Bekenntnisse zerstört sie zugleich und macht mit Recht misstrauisch.
Der Vorwurf, ein solches Bekenntnis sei auch deshalb zwiespältig, weil es folgenlos bleibe, ist voreilig. Natürlich werden nicht alle Entscheidungen der Kirche ab morgen für jeden erkennbar fehlerfrei und vollkommen sein. Aber wenn wir unsere Worte des Bekenntnisses und der Vergebung in der Tiefe des Glaubens zur Sprache bringen, dann sind es nicht leicht hingesagte Phrasen. Paulus ruft uns gerade in diesem Zusammenhang in der Lesung aus dem 2 Korintherbrief zu: „Als Mitarbeiter Gottes ermahnen wir euch, dass ihr seine Gnade nicht vergebens empfangt. Denn es heißt: Zur Zeit der Gnade erhöre ich dich, am Tag der Rettung helfe ich dir. Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade, jetzt ist er da, der Tag der Rettung." (6,1f.) Billige, wohlfeile Worte wären auch billige Gnade. Wenn der Papst am Ende des Gottesdienstes am 1. Fastensonntag 2000 bewegt fünfmal ausruft „Nie wieder!" ist es wohl keine unbillige Forderung, dieses entschiedene Zeugnis anzunehmen. Man kann am Ende Schuldbekenntnis und Vergebungsbitte nicht verstehen, wenn man nur von außen auf die Sache schaut und misstrauisch betrachtet, ob das Bekenntnis des Versagens nach den eigenen Maßstäben genügend ist. Es entspricht auch nicht dem rechten Umgang damit, wenn man sich selbst vom ganzen Komplex von Schuld und Versagen einfach ausnimmt, aber im Blick auf die Kirche sofort fordert und anklagt. Da kommt mir doch ungewollt die Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin in den Sinn, die ja auch immer wieder auf die Kirche ausgelegt worden ist: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie." (Joh 8,7)
Für viele bleibt die Frage nach dem Verhältnis von Personen und Strukturen. Der Eindruck entstand bei manchem, der Papst wolle zwar Versagen für die „Söhne und Töchter" der Kirche einräumen, aber nicht für die Institution. Mit diesen Bedenken muss man vorsichtig umgehen. Der Papst rechnet auch diejenigen, die Verantwortung tragen, zu den Söhnen (und Töchtern). Im übrigen muss man sehen, dass er, wenn er von der Kirche spricht, gewiss nicht Dienste und Ämter ausschließen will. Aber man muss auch bedenken, dass Strukturen nicht sündigen, freilich sich auch nicht bekehren können. Deswegen gibt es durchaus strukturelle Gesichtspunkte. Aber es kann auch billig sein, bloß Strukturen anzuprangern. Sie allein können wir nicht zum Bekenntnis bringen. Hier verläuft eine Grenze, die gewiss im Blick auf das Verhältnis von Person und Institution noch genauer zu bedenken ist.
Wir danken dem Heiligen Vater von Herzen für diesen, wie er selbst sagt, „mutigen Akt", der in der Öffentlichkeit dieses Geschehens sehr verletzlich und nicht ohne großen Risiken ist. Wir danken ihm gerade auch aus der Sicht unseres Landes, in dem die Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts ihren Ausgang nahm und die Greuel des Holocaust auch dann uns noch tief belasten und in Haftung nehmen, wenn wir keine persönliche Schuld haben. Der Papst mahnt uns, dass wir auf dem Weg ins Dritte Jahrtausend nur dann glaubwürdige Zeugen einer neuen Hoffnung werden können, wenn wir im Blick auf das, was war und oft noch nachwirkt, unser Gedächtnis und vor allem unser Gewissen reinigen. Dies hat gewiss auch viele Folgen für die verschiedenen Formen einer Kultur der Versöhnung, die wir überall brauchen. Wir dürfen dieser Aufgabe nicht ausweichen: „Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade; jetzt ist er da, der Tag der Rettung." (2 Kor 6,2) Schließlich gehen wir auf den Weltenrichter zu, der eines Tages das wahre Buch der Geschichte aufschlägt. Die Maßstäbe dafür (vgl. Mt 25,31-46) haben wir soeben wieder gehört: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." (25,40) Amen.
Johannes Paul II., Wir fürchten die Wahrheit nicht. Der Papst über die Schuld der Kirche und der Menschen, Graz: Styria 1997
Luigi Accatoli, Wenn der Papst um Vergebung bittet: Alle „mea culpa" Johannes Pauls II. an der Wende zum dritten Jahrtausend, Innsbruck: Tyrolia 1999
Die Vergebungsbitte des Papstes vom 12. März 2000 wird historisch und theologisch vorbereitet durch eine Begleitstudie der Internationalen Theologischen Kommission: Erinnern und Versöhnen: Die Kirche und die Verfehlungen in ihrer Vergangenheit (Reihe: Neue Kriterien 2), Einsiedeln/Freiburg: Johannes 2000.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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