Die Zeit des Sonntags

Gastkommentar in der Mainzer Allgemeinen Zeitung vom 16. Oktober 1999

Datum:
Samstag, 16. Oktober 1999

Gastkommentar in der Mainzer Allgemeinen Zeitung vom 16. Oktober 1999

Der Streit um den Ladenschluß ist neu entbrannt. Das eine Gutachten aus München (ifo) empfiehlt, den Ladenschluß an Werktagen ganz aufzuheben. Für die vier Adventsonntage soll es eine bundeseinheitliche Öffnung geben, für die sonstige Öffnung an Sonn- und Feiertagen sollten die Gemeinden entscheiden. Das andere Gutachten aus Dortmund (sfs) kommt zum Schluß, daß die erst vor drei Jahren geregelten Öffnungszeiten nicht zu neuen Arbeitsplätzen geführt haben. Niemand will einfach die Sonn- und Feiertagsruhe in Frage stellen. Aber es gibt Veränderungen, die unbeabsichtigte Nebenfolgen haben. Ihre Wirkungen sind oft tiefer und nur schwer zu beeinflussen. So gibt es eben eine schleichende Aushöhlung des Sonntagsschutzes. Wurde vor einigen Jahren um die Öffnung der Geschäfte am. Samstag in der Adventszeit gestritten, ist nun der Sonntag im Visier. Die jüngsten Erfahrungen dieses Sommers machen auch skeptisch im Blick auf die Übertragung der Entscheidung über die Sonn- und Feiertagsöffnung auf die kommunalen Gebietskörperschaften, denn die zunächst harmlos erscheinende Regelung auf dieser Ebene erwies sich im Sinne einer "Salami-Taktik" als eine gezielte Vorreiterrolle für umfassendere Durchbrüche. Nicht zuletzt darum haben die Kirchen in ihrer gemeinsamen Erklärung vom September "Menschen brauchen den Sonntag" die Schaffung großflächiger Regelungen, zunehmend auch auf europäischer Ebene, vorgeschlagen.

Überraschend ist die Argumentation, "daß es keine ökonomisch stichhaltige Begründung für die Beschränkung der Öffnungszeiten gibt und die Liberalisierung mit positiven Wohlstandseffekten verbunden" sein würde. Die Folge wäre auf jeden Fall ein ruinöser Wettbewerb, der letztlich vor allem zu Lasten der kleineren Einzelhandelsuntemehmen gehen würde. Die Belastung gerade dieser Familien wird zwar gesehen, aber diese Einsicht hat keine Folgen. Maßgebend bleiben die "Präferenzen der Verbraucher" und die "gewandelten Zeitmuster bestimmter Verbrauchergruppen".

 

Gewiß gibt es einen schnellen Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft. Flexiblere Öffnungszeiten sind deshalb in bestimmten Grenzen unvermeidlich. Aber hier darf die Argumentation nicht stehen bleiben. Wenn die Wirtschaft - was mir sehr wichtig erscheint - zu den Gestaltungsmächten einer Gesellschaft gehört, die umfassend den ganzen Menschen betreffen und darum auch eine kulturelle Mitverantwortung zur Folge haben, dann genügt eben eine ökonomische Argumentation allein nicht. Man muß in einem größeren anthropologischen und sozialethischen Rahmen die Sache "bis zum Ende" bedenken: Gerade in einer Zeit, die von einschneidenden Veränderungen im Sinne einer Steigerung der Mobilität und Flexibilität geprägt wird, bedarf es Zeiten, wo gesellschaftliche Ruhe einkehrt. Vor allem eine Gesellschaft, die so stark im Wandel begriffen ist, braucht auch einen verläßlichen Rhythmus von Arbeit und Ruhe. Wenn uns soziale Beziehungen, wie z.B. Familie, etwas wert sind, dürfen dabei die Bedürfnisse der Menschen nicht auf längere Öffnungszeiten reduziert werden. Der Mensch ist und bleibt ein "geselliges Wesen", das nicht gänzlich privatisiert werden darf. In diesem Sinne ist der Schutz des Sonntags wahrhaftig nichts Altmodisches, sondern entgegen vielen Annahmen höchst zeitgemäß, denn er schützt den Menschen vor sich selbst. Nicht zuletzt darum ist der Sonntagsschutz schließlich religiös begründet. Gott meint es gut mit den Menschen.

 

© Bischof Karl Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz