Die verlorene Mitte - Zur gesellschaftlichen und kirchlichen Situation

Gastkommentar des Bischofs von Mainz für die Kirchenzeitung "Glaube und Leben"

Datum:
Sonntag, 7. August 2011

Gastkommentar des Bischofs von Mainz für die Kirchenzeitung "Glaube und Leben"

Im Augenblick erleben wir bei der Nachrichtengebung aus aller Welt schreckliche Spannungen: hungernde Menschen in den weltgrößten Flüchtlingslagern Afrikas; finanzielle Turbulenzen, vor allem wegen Schuldenkrisen in den USA und in Europa; Wahnsinnstat in Norwegen; Eisenbahnunglück in China; das Wetter spielt in einzelnen Teilen der Welt in merkwürdigen Gegensätzen regelrecht verrückt. Es ist schwer, den Menschen in einer solchen zerrissenen Welt Hoffnung und Zuversicht zu geben.

Aber dies sind meist Ereignisse, die wir nur schwer im Griff haben. Vielfach sind wir einfach diesen Stürmen ausgesetzt, ohne viel verändern zu können. Aber es gibt daneben auch Zerreißproben in unserer Lebenswelt, die immer größere Spannungen durch uns selbst erzeugen: zwischen arm und reich, zwischen den oft total verschiedenen Interessen der Menschen, zwischen Weltanschauungen und Religionen. Die Gemeinsamkeit der Überzeugungen und der Lebenseinstellungen schrumpft. An die Stelle von Wertüberzeugungen treten oft Stimmungen mit ihrer Unberechenbarkeit. Auch politische Wahlen sind immer stärker davon abhängig. Volksparteien haben es darum immer schwerer.

Es wird immer schwieriger, unsere Gesellschaft so zu gestalten und Lösungen für Konflikte zu finden, dass sie wirklich von einer Mehrheit geteilt werden. Es ist verständlich, dass man deshalb auch oft den politisch Regierenden, aber auch anderen Verantwortungsträgern vorwirft, sie würden Grundüberzeugungen, etwa ihrer Parteien, hintansetzen und sich nach dem öffentlichen Stimmungsbarometer richten, beispielsweise demoskopischen Umfragen. In Wahrheit ist es weniger oder jedenfalls nicht allein die Regierungsunfähigkeit Einzelner, vielmehr scheint es im Dickicht so vieler Interessen und ihrer Herrschaft fast nur noch ein Lavieren zwischen allen Fronten zu geben. Wir haben dann die Politik, die unserem Meinungswirrwarr entspricht und die wir in gewisser Weise verdienen.

Dies betrifft jedoch nicht nur die Politik. Es ist ein Grundzug der heutigen menschlichen Gesellschaft, auch in ihren Untergliederungen. Es gilt sogar für die Kirche selbst, in der alte Rezepte von rechts und links sich wieder stärker als bisher bekriegen. Was dabei in einem hohen Maß verloren geht, ist eine gesunde, ausgeglichene Mitte, in der sich viele unter Verzicht auf extremere Positionen treffen können. Seit Jahrzehnten versucht man, die verloren gegangenen „Grundwerte" wiederzugewinnen oder eine gemeinsame „Leitkultur" zu schaffen. Weitgehend umsonst.

In dieser Situation passen viele alte Rezepte und Schlagworte nicht mehr. Es muss zwar in einer freien demokratischen Gesellschaft eine hohe Vielfalt der Meinungen und Lebensstile geben, aber man kann die notwendige Suche nach dem, was eine Gesellschaft zusammenhält, nicht einfach an den Rand schieben, wie man es weitgehend jahrzehntelang gemacht hat. Darum ist auch der Hinweis auf den gesellschaftlichen Pluralismus, der diese Vielfalt manchmal bis zum Chaos rechtfertigt, kein Heilmittel, wie es vielen lange Zeit erschien.

Was tun? Wir können nicht alles beliebig laufen lassen, ohne uns um eine neue Mitte zu kümmern. Wir können aber auch nicht mit Gewalt, ob mit Geld oder mit Bomben, eine einzelne Meinung zwingend durchsetzen. Die übliche Beliebigkeit hat ebenfalls ausgedient. Als Lösung bleibt nur, dass wir in einem ehrlichen und umfassenden gesellschaftlichen Dialog viele Positionen ins Gespräch bringen, damit so durch alle Verschiedenheiten hindurch eine gemeinsame Grundlage neu gefunden wird. Ohne tiefere Kompromisse, in denen sich aber auch fast alle verändern müssen, geht so etwas nicht. Die jüngsten Beschlüsse zur künftigen Energiepolitik und zur Kernenergie sind ein Beispiel dafür. Man muss jedoch mit gefestigten Überzeugungen und guten Argumenten in die Auseinandersetzung gehen. Arroganz und Duckmäusertum, Verweigerung und Anpassung scheitern. Eine neue Mitte kann nur entstehen, wenn man im Geben und Nehmen durch einen aufrichtigen gesellschaftlichen Disput und Diskurs hindurchgeht. In der Kirche selbst ist das nicht anders, wie die großen Konzilien und die Synoden zeigen. Dies steckt auch hinter dem Dialogprozess, der zur Zeit in unserer Kirche versucht wird.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

Diesen Gastkommentar lesen Sie auch in der gedruckten Ausgabe der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 7. August 2011.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz