„Durch Leiden den Gehorsam gelernt"

Predigt im Pontifikalgottesdienst am Karfreitag, 6. April 2012, im Hohen Dom zu Mainz

Datum:
Freitag, 6. April 2012

Predigt im Pontifikalgottesdienst am Karfreitag, 6. April 2012, im Hohen Dom zu Mainz

Sehr verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Im Vordergrund des heutigen Gottesdienstes, der ja keine Eucharistiefeier darstellt, steht die Passion Jesu Christi nach dem Evangelisten Johannes. Jesus liefert sich nach dieser Leidensgeschichte mit klarem Wissen freiwillig dem Tod aus. Deswegen steht er auch souverän seinen Anklägern und Richtern gegenüber. Niemand kann ihm letztlich sein Leben entreißen, er gibt es selbst hin.

Vor diesem Hintergrund möchte ich die zweite Lesung dieses Gottesdienstes aus dem Hebräerbrief (4,14-16; 5,7-9) zum Anlass nehmen, um die Lebenshingabe Jesu für uns zu erhellen. Der Hebräerbrief wird dabei von uns oft in seiner Bedeutung unterschätzt. Er ist nicht leicht zu verstehen, aber deswegen dürfen wir nicht auf seine tiefe Betrachtung des Leidens und Sterbens Jesu verzichten.

Abgesehen von den Evangelien und der Apostelgeschichte wird nirgends im Neuen Testament so häufig einfach der Name Jesus verwendet wie im Hebräerbrief. Damit wird weniger der sogenannte historische Jesus angezielt. Vielmehr will der Verfasser dieses großen theologischen Briefes die Bedeutung des Menschseins Jesu als Teil des Heilsgeschehens und als Inhalt unseres Glaubens herausstellen. Es geht darum, dass „der Sohn", wie es oft und gerne heißt, bis in Anfechtungen und dem Erleiden des Todes hinein uns sterblichen Menschen gleich geworden ist, mit Ausnahme der Sünde. Seine jetzige Stellung zur Rechten des Vaters, wo er an der Herrschaft Gottes teilhat, führt über dieses Gleichwerden mit den Seinen. Es ist erstaunlich, wie oft der Brief davon redet. Einige Beispiele: Er hat in gleicher Weise wie wir Fleisch und Blut angenommen (2,14). „Darum musste er in allem seinen Brüdern gleich sein, um ein barmherziger und treuer Hohepriester vor Gott zu sein." (2,17) oder auch: „Denn da er selbst in Versuchung geführt wurde und gelitten hat, kann er denen helfen, die in Versuchung geführt werden." Und aus unserer heutigen Lesung: „Wir haben ja nicht einen Hohenpriester, der nicht mitfühlen könnte mit unserer Schwäche, sondern einen, der in allem wie wir in Versuchung geführt worden ist, aber nicht gesündigt hat." (4,15). Zu einem gewissen Höhepunkt kommt der Brief im fünften Kapitel, wo es von Jesus heißt: „Er ist fähig, für die Unwissenden und Irrenden Verständnis aufzubringen, da auch er der Schwachheit unterworfen ist." (5,2) Schließlich heißt es gerade im Blick auf das Leiden und Sterben Jesu, also den Karfreitag: „Als er auf Erden lebte, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhöht und aus seiner Angst befreit worden. Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt; zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden." (5,7-9) Man könnte die Zeugnisse noch vermehren.

Im Hebräerbrief wird also nicht nur allgemein von der Menschwerdung des Sohnes geredet, sondern er ist gerade auch im Leiden, in den Anfechtungen, ja selbst in den Versuchungen und in seinem Sterben uns - der Text scheut sich nicht das zu sagen - gleich geworden. Dies darf uns nicht durch bald 2000 Jahre Spiritualität und Theologie zu selbstverständlich sein. Auch Jesus hat „mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte". Von Angst ist die Rede. Er hat so sehr das Leben von uns Menschen angenommen, dass die Schrift von ihm sagen konnte: „Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt:" Nur dadurch, dass er die Erniedrigung des Menschen bis zur Neige, ja bis zum bitteren Ende ausgelitten hat, ist er vollendet. Mit Bedacht verwendet der Hebräerbrief das Wort „Vollendung" gerade im Hinblick auf das Gleichwerden mit uns Menschen in den vielen Bitterkeiten des Lebens. Gerade in Situationen der Anfechtung bleibt Jesus uns nahe. Er kennt den Menschen von innen und von außen her.

Dies passt sehr genau zu der Gemeinde von damals und heute. Die Gemeinde ist nach der Begeisterung des Anfangs müde geworden. Sie hat in sich selbst viele Probleme. Der zuerst gefeierte Glaube wird gefährdet. Aber gerade so ist Jesus seiner Gemeinde nahe. Die akute Gefährdung des Glaubens wird eng zusammengebracht mit der Situation des erniedrigten Sohnes, des Menschen Jesus, der in allem seinen Brüdern gleich ist. Weil er uns auch in den Versuchungen kennt, kann er uns helfen. Dies gilt nicht nur für das Leiden und den Tod, nicht nur für die bekannten Versuchungen des Menschen nach Reichtum, Ehre, Macht und Lust, sondern es gilt auch für aufkommende Zweifel, die Anfechtungen bei Angriffen, beim Eingeständnis erbärmlicher Schuld und bei der enttäuschenden „Müdigkeit der Guten". Darum ist Jesus auch in der heutigen Situation der Kirche, die vielfach angefochten ist, wie damals bei uns. Obgleich er „in allem wie wir in Versuchung geführt" wurde, ist er vom Bösen nicht besiegt worden. Darum fordert uns der Hebräerbrief auf, dass wir uns in allen Situationen zu Jesus bekennen sollen (vgl. 3,1; 4,14; 10,23) und dass wir deshalb auch am Bekenntnis zu ihm festhalten sollen (vgl. außerdem 2,9; 12,2; 3,14; 6,11f.; 10,35f.; 11,1; 12,1). Der Weg Jesu kann auch der Weg der Gemeinde werden.

Zwei Dinge empfiehlt uns dabei der Hebräerbrief - gerade im Blick auf die Urgefahren des Glaubens und des Menschen -, nämlich wir sollten Zuversicht und Ausdauer haben. Auch dies können wir im Blick auf das Kreuz von Jesus lernen. Er ist das Heil der Welt. Amen.


Karl Kardinal Lehmann
Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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