„EINER HAT IMMER ZEIT FÜR UNS“

„EINER HAT IMMER ZEIT FÜR UNS“ Predigt im Pontifikalrequiem für Herrn Bundestagspräsident a. D. Dr. Rainer Barzel

Datum:
Dienstag, 5. September 2006

„EINER HAT IMMER ZEIT FÜR UNS“ Predigt im Pontifikalrequiem für Herrn Bundestagspräsident a. D. Dr. Rainer Barzel

am 5. September 2006 im Münster zu Bonn

Lesungen im Gottesdienst: Offb 21,1-5a.6b-7; Joh 14,1-6

Jedes Leben ist einmalig, und jeder Tod ist einzigartig, auch wenn wir im Leben und im Tod immer wieder spüren, dass wir alle endliche, kreatürliche und darum eben auch sterbliche Wesen sind. Bei Menschen, die besonders viele Gaben erhalten und sich auch erworben haben, kommt dies gewiss mit besonderer Deutlichkeit an den Tag.

Es kommt noch ein anderes Moment hinzu. Rainer Candidus – so hieß schon sein Vater – Barzel, am 20. Juni 1924 geboren, hat ein ungewöhnlich herausforderndes Leben gehabt, das vor allem auch durch die großen und schlimmen geschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts geprägt war. Er hat als blutjunger Soldat den Krieg erfahren (1941 – 1945); am Ende war er Fliegerleutnant. Rasch beendete er vor allem an der Universität Köln das Studium der Rechtswissenschaften und der Volkswirtschaft (1945 – 1948, Promotion 1949). Sofort danach wurde er in der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen tätig und war mit 30 Jahren bereits Beauftragter Nordrhein-Westfalens bei der Montanbehörde in Luxemburg. Sein großer Gönner, dem er aber auch viel zuarbeitete, war kein Geringerer als Ministerpräsident Karl Arnold.

Die Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Krieges ließen Dr. Barzel intensiv nach vorne schauen. Er trat 1954 in die CDU ein und war zwei Jahre später bereits geschäftsführendes Mitglied des CDU-Landespräsidiums. Es drängte ihn in die gestaltende Politik. Ein Jahr später war er Bundestagsabgeordneter. 30 Jahre hat er diesen Dienst, und bald an verantwortlichen Stellen, unserem Volk geleistet. Alles Übrige ist eher bekannt und braucht nur kurz erinnert zu werden. Er wurde Vorsitzender der CDU-/CSU-Fraktion (1964-1973), zweimal war er Minister in verschiedenen Kabinetten für gesamtdeutsche Fragen bzw. innerdeutsche Beziehungen (1962-1963; 1982-1983). In schwieriger Zeit wurde er Vorsitzender der CDU in der Bundesrepublik Deutschland (1971-1973). Sein politisches Leben gelangte zu einem Höhepunkt, als er das zweithöchste Amt in unserem Staat übernommen hatte, nämlich Bundestagspräsident (1983-1984). Es ist ganz selbstverständlich, dass er mit diesen Funktionen zugleich viele andere Aufgaben im Bundestag und auch in seiner Partei erfüllt hat, so im Auswärtigen Ausschuss, in den deutsch-französischen Beziehungen und auch in wirtschaftlichen Belangen.

Es war also ein rastloses, geradezu rasantes Leben mit vielen Höhen und Tiefen. Auch wenn er in diesen Jahrzehnten viel gelitten hat, so blieb er durch und durch von Dankbarkeit bestimmt für all das, was ihm gelungen war. Dies galt grundsätzlich, wie er in einer bemerkenswerten Predigt in der evangelischen Kirchengemeinde Ansgar in Hamburg am 11. Dezember 2005 zum Ausdruck brachte. „Wir haben mehr Anlass zu DANKEN als zu KLAGEN!“ Er sah vor allem auch die neuerstandene Demokratie in unserem Land als ein einzigartiges Geschenk und hat die Worte des Historikers Hans-Peter Schwarz sich zu eigen gemacht, dass unsere Demokratie „das ERSTAUNLICHSTE PHÄNOMEN der deutschen Geschichte“ ist. Dies war der tiefste Grund, warum er bei allen Verletzungen, Machtspielen und Niederlagen unablässig das Wohl unseres Volkes suchte.

Gerade die Wandlungen, die besonders später auch mit herben Schicksalsschlägen verbunden waren, haben in ihm die uralte biblische Weisheit bestärkt: „ALLES HAT SEINE ZEIT!“ Dabei hat ihn immer der Glaube gestützt. Dies gilt gerade auch in den fast unerträglichen Schlägen, die er über Jahrzehnte hinnehmen musste. 1980 starb seine erst Frau Kriemhild (geb. Schumacher), die er 1948 heiratete; 1995 wurde ihm seine zweite Ehegattin, Frau Dr. Helga Henselder, mit der er 1982 einen neuen Bund fürs Leben schloss, durch einen tödlichen Unfall entrissen. Im Jahr 1977 musste er seine Tochter Claudia verlieren. Sie, Frau Ute Barzel, geb. Cremer, haben ihm als dritte Ehefrau in den letzten neun Jahren wieder zur Hoffnung und zur Lebensfreude verholfen.

Schlimme politische Niederlagen musste gerade dieser hochbegabte und den meisten überlegene Mann hinnehmen. Es war immer wieder eine eigentümliche Mischung von Missgunst und intrigenhaftem Verhalten, die ihm zusetzten und ihn in seinem Amt z. T. zu Fall brachten: als Vorsitzender der CDU-/CSU-Fraktion, als Bundesvorsitzender und ganz besonders als Bundestagspräsident. Zwei Dinge müssen auch im Gottesdienst und am Grab gesagt werden: Das konstruktive Misstrauensvotum scheiterte im Jahr 1972, weil zwei Leute aus der eigenen Fraktion ihm die Gefolgschaft versagten. „Die Einflussnahme des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR darf inzwischen als gesichert gelten.“ (M. Agethen) Schließlich wurde er als Bundestagspräsident nach kurzer Zeit in die sogenannte Flick-Affäre hineingezogen und belastet. Heute steht in jedem Geschichtsbuch, dass es eine ungerechte Anklage war. Kein Geringerer als Helmut Schmidt schreibt, wie viele andere, dass er nach zwei Jahren „voll rehabilitiert“ war (Weggefährten, Berlin 1996, 512). So zog er sich im Jahre 1987 aus dem Bundestag zurück, blieb aber durch seine ca. 20 Bücher, einige Filme und nicht zuletzt durch sein immer noch mächtiges und eindrucksvolles Wort in der politischen Welt präsent, geschätzt und gefürchtet.

Andere wären daran vollends zerbrochen. Aber es war für ihn eine besondere Gnade, dass sein Glaube ihn gehalten und erhalten hat. Tief war er von der konkreten Gegenwart Gottes in allen Lebenslagen überzeugt. Im Blick auf eine schwere Krankheit sagte er: „Ich erfuhr: Gott ist immer da. ER hat immer ZEIT! Gott war bei mir und mit mir, als ich daniederlag, als ich wieder aufstehen konnte. Beides habe ich erfahren. Und ich danke dafür.“ (Predigt am 11.12.2005) Einer hat immer Zeit – davon war er ein Leben lang überzeugt. Wie ein Refrain geht dieser Satz durch die Predigt vom Dezember 2005. Dieser Glaube ist stocknüchtern und zugleich voller Zuversicht, wenn er zum Beispiel sagt: „Oft kann ich GOTT nicht VERSTEHEN. Aber immer VERTRAUE ich IHM.“ Und immer wieder hört und liest man ein Psalmwort, das geradezu zu einem Leitwort seines Lebens wurde: „Du gabst meinen Schritten weiten Raum, ließt meine Füße nicht wanken.“ (Ps 18,37 vgl. 4,2) Er kannte das Kreuz im Leben.

Diese Gewissheit gab Rainer Barzel mitten in allen Schicksalsschlägen eine geradezu überirdische Kraft. Damit hat er den Verlust seiner Heimat im Ermland – er ist in Braunsberg geboren -, das drückende Unrecht des Nationalsozialismus, die Zerstörung weiter Teile Deutschlands, die Schicksalsschläge in seiner Familie und auch die Machenschaften sowie Arglist in seinem politischen Leben ertragen und bewältigt. Dies gab ihm auch die Kraft, trotz des Verlustes seiner Heimat intensiv an der Versöhnung mit Polen zu arbeiten. Er hat – was eine schwierige Entscheidung war - durch die Enthaltung seiner Fraktion die Ratifikation der Ostverträge ermöglicht. Er wusste, dass man das Verhältnis zur Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten neu gestalten muss. Den Beitritt Deutschlands zu den Vereinten Nationen sah er als unerlässlich an. Sein Glaube hat Rainer Barzel diese unerschütterliche Kraft der Hoffnung und der Versöhnung geschenkt. Dies hat ihm, bei aller Klarheit seiner Positionen, auch die Zusammenarbeit in der damaligen Großen Koalition von innen her ermöglicht, sodass sein Kollege im Fraktionsvorsitz der SPD, Bundeskanzler Helmut Schmidt, noch nach vielen Jahren „Sympathie und Freundschaft für Rainer Barzel“ (Weggefährten, 512) empfand und empfindet.

Rainer Barzel hat uns heute noch viel zu sagen. Er hat uns auch viele Gedanken in seinen Schriften hinterlassen. Dazu gehört auch die tiefe Überzeugung, dass der christliche Glaube seine reife politische Fruchtbarkeit erweist im Einsatz für Freiheit und Gerechtigkeit. Hier spürt man das Erbe von Ministerpräsident Karl Arnold. So glaube ich, dass er in seiner schon genannten Ansgar-Predigt auch in bemerkenswerter Weise sein politisches Vermächtnis hinterlassen hat: „FREIHEIT verpflichtet zu GEMEINSINN. Sie ist ein hohes Gut. Wo sie mit SOZIALER GERECHTIGKEIT einhergeht und so für alle REAL wird, gedeiht MENSCHENWÜRDIGES LEBEN.“ Und schließlich zusammenfassend die Worte: ‚„Freiheit durch soziale Gerechtigkeit’, so mein Motto.“

Aber er wusste immer, dass es noch eine andere Weisheit und vor allem Gewissheit über den Sinn des Lebens gibt. Und so möchte ich schließen mit dem Schluss seiner Hamburger Predigt vom Dezember des letzten Jahres: „Ich schließe mit der GEWISSHEIT des 9. und des 25. Psalms: ‚Du, Herr VERLÄSST KEINEN, DER DICH SUCHT – Niemand, der auf DICH HOFFT, WIRD ZUSCHANDEN!’ Diese Gewissheit hat IMMER IHRE ZEIT! Der BEGNADETE DIETRICH BONHOEFFER sagte es moderner, so: ‚Gott ist mit uns am Abend und am Morgen. Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.’ AMEN.“

Ich danke der Ehefrau des Verstorbenen, Frau Ute Barzel, dass sie mir die im Text genannte Ansgar-Predigt vom 11.12.2005 in Hamburg überließ. Dr. Rainer Barzel hat gewünscht, dass einige Passagen in diesem Gottesdienst zur Sprache kommen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz