Eile mit Weile - Zur aktuellen Debatte über die Beschneidung

Gastkommentar des Bischofs von Mainz, Karl Kardinal Lehmann, in der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 2. September 2012

Datum:
Sonntag, 2. September 2012

Gastkommentar des Bischofs von Mainz, Karl Kardinal Lehmann, in der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 2. September 2012

Der Nationale Ethikrat hat in der vergangenen Woche einen ersten Lösungsrahmen für das Problem der Beschneidung minderjähriger Jungen, vor allem aus dem Judentum und dem Islam, aus religiösen Gründen entworfen. Die Beschneidung sei zwar eine Körperverletzung im strafrechtlichen Sinne, wird aber von der Mehrheit doch als zulässig angesehen, sofern medizinische Sorgfaltsregeln eingehalten werden. Dazu gehören: Pflicht zur Aufklärung, Einwilligung beider Eltern, Schmerzlinderung, Ausbildung des handelnden Personals usw. Einzelheiten müssen noch geklärt werden. Man war zuversichtlich, der Rat könne relativ schnell zu einer einvernehmlichen Position in der Frage der Zulässigkeit von Beschneidungen kommen.

Man kann sich freuen, wenn ein solches Einvernehmen in den nächsten Wochen und Monaten auch im Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit erreicht wird.

Dennoch bleiben einige bedrängende Fragen, die vor allem auf der einen Seite den Stil der Debatte in den letzten Wochen und auf der anderen Seite die Stellungnahmen zu einzelnen Inhalten betreffen.

Es war erschreckend, wie viele Teilnehmer an der Diskussion nach dem Urteil des Landgerichtes Köln vom 7. Mai 2012 Hals über Kopf die Debatte schürten, ohne dass man auch bei vielen Wortmeldungen nur ein bisschen Ahnung bemerken konnte über das, worum es geht. Besonders Politiker haben das „Sommerloch" reichlich benutzt, um mit ihren Statements in die Schlagzeilen zu kommen. Es war ausgesprochen peinlich, wie schnell und unbesehen man sich dem Urteil des Landgerichtes angeschlossen hat. Manche konnten sich nicht genügend hervortun, um die Überlegenheit der heutigen Denkweise über solche archaischen Reste einer antiquierten religiösen Kultur darzulegen.

Es ist auch nicht der Weisheit letzter Schluss, wenn man sich einer Zulässigkeit nur deshalb beugt, weil man von Deutschland aus heute immer noch den Juden eine singuläre Pflicht zur Rücksicht auf ihre Tradition schulde. Damit sei ein „rechtspolitischer Notstand" gegeben, der sonst angesichts eines strafrechtlich unzulässigen körperlichen Angriffs schlechthin nicht möglich sei.

Gewiss ist die Beschneidung, besonders auch als religiöser Ritus nicht leicht verständlich. Auch die Wissenschaft tut sich mit der Findung einer letzten Sinngebung schwer. Dieser Akt kommt ja nicht nur bei den Juden und vielen semitischen Völkern, sondern auch in Ägypten, Afrika, Ozeanien und Australien vor. Er ist gewiss so etwas wie eine Weihe zur Mannbarkeit, ein Übergang zur Geschlechtsreife, eine Art Initiationsritus. Sehr viel später nach dem Exil, in dem man sich von anderen Völkern unterscheiden musste, wurde die Beschneidung ein Zeichen für die Aufnahme in die israelitische Volksgemeinschaft; sie war Voraussetzung für die Teilnahme am Gottesdienst und vor allem in manchen biblischen Überlieferungen das „Zeichen des Bundes" (z. B. Gen 17,9-14). Sabbat-Heiligung und Beschneidung wurden die Zeichen der Identität des jüdischen Volkes.

Man darf in der Beschneidung nicht nur ein äußeres Zeichen sehen. Es geht nicht zuerst um Medizin und Hygiene. Sie wird in Israel auch zum Symbol für die innere Befähigung zum Hören und Befolgen des Gotteswortes. Deshalb spricht auch das Alte Testament oft von der „Beschneidung des Herzens" (vgl. Dtn 10,16; Jer 4,4; Ez 44,7-9). Schließlich wurden auch im Lauf der Zeit die Beschneidung und die Namensgebung eines Jungen damit verbunden (vgl. Lk 1,59f.).

Das frühe Christentum hat entschieden, dass die Heiden nicht zuerst Juden werden müssen, um zum Christentum zu gelangen (vgl. Gal 2,1-10). Also war auch die Beschneidung für die frühen Christen nicht heilsnotwendig. Gerade Paulus, selbst beschnittener Jude (Phil 3,5), kämpfte dafür in besonderer Weise. Vor allem die Taufe trat an die Stelle der Beschneidung (vgl. Röm 6)

Man kann nur staunen, wie leichtfertig viele, die sich zur Beschneidung geäußert haben, offensichtlich kaum Ahnung von diesen entscheidenden Zusammenhängen haben. Sie haben auch keinen Respekt vor dem, was uns zuletzt gewiss fremd erscheinen mag. Wie weit sind wir von religiösen Phänomenen weg?

Es ist zu hoffen, dass die eingangs erwähnte Lösung des Nationalen Ethikrates in Ruhe und Sorgfalt weiter vorbereitet und beschlossen werden kann. Jedenfalls gilt auch hier gegenüber einem allzu schnellen Reden das alte Sprichwort: Eile mit Weile.

 

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz