Einige Überlegungen zum Amt in der Demokratie

Ansprache zur Verabschiedung von Herrn Oberbürgermeister Jens Beutel

Datum:
Montag, 19. Dezember 2011

Ansprache zur Verabschiedung von Herrn Oberbürgermeister Jens Beutel

am 19. Dezember 2011 im Frankfurter Hof in Mainz

Schon einige Denker in verschiedenen Wissenschaften haben gesagt, die Stadt als Träger des politischen Lebens sei eine der größten Erfindungen der Menschen.1 Das Zusammenleben der Menschen werde in ihr zum Zentrum der menschlichen Existenz. In der Polis, wofür besonders Athen als Geburtsstätte steht, kann man gemeinsam die Lebensziele der Menschen erreichen. Wir bezeichnen darum auch die „Demokratie als Herrschafts- und Lebensform".2 Ist sie tatsächlich am besten realisiert in der Stadt? Sind Stadt und Kommunen der lebendige Grundriss der Demokratie? Gibt es wegen der Balance von Nähe und Distanz hier besondere Chancen - und auch Gefahren? Hätte dann der erste Bürger der Stadt, der Oberbürgermeister, das schönste Amt?

Der Sinn eines Amtes hat in unserer Geschichte, auch in der Sprache, eine merkwürdige Doppelung. Amt ist zuerst Dienst, Dienstleistung und insofern eine abhängige, ja sogar niedrige, fremdbestimmte Tätigkeit für andere. Aber die niedrige Tätigkeit ist bald aus dem Bedeutungssinn von „Amt" ausgeschieden worden. Herrschaftsfunktionen und Würdepositionen wurden mit „Amt" verbunden. Die Doppelung blieb. Amt erwies sich als Begrenzung und als Rechtfertigung von Herrschaft. Wenn Herrschaft als Amt und vor allem als Dienst verstanden wird, dann ist das Amt eine verantwortliche Aufgabe. Doch dies rechtfertigt zugleich die verfügende Rolle dessen, der Macht ausübt.

Außerdem zeigt sich in dieser Bestimmung, dass zum Gelingen unseres politischen Zusammenlebens zwei Elemente eng zusammengehören, nämlich das Demokratieprinzip und das Amtsprinzip. Es gibt dabei eine enge Zusammengehörigkeit, aber auch den Rest einer nicht auflösbaren Spannung. Ganz wichtig dabei sind die Wahlen, die einen Menschen zu einem bestimmten Amt beauftragen. Sie sind ein Akt der Bevollmächtigung. Zugleich können damit die Regierenden zur Verantwortung gezogen werden. Die Parteien selbst stehen eng in der Spannung zwischen den beiden Prinzipien und müssen sie immer wieder in sich selbst austragen.

Das Demokratieprinzip verweist uns auf das Volk als Träger der Herrschaft.3 Es ist verständlich, dass von hier aus immer wieder ein Anspruch auf Alleinherrschaft gemacht wird. Es liegt die Deutung nahe, alle könnten alles gemeinsam entscheiden. Dies bleibt eine faszinierende Idee, auch wenn sie uns heute naiv erscheint. Auf der anderen Seite meinten manche, in der entwickelten Industriegesellschaft bleibe kein Raum mehr für politische Entscheidungen; allein die Herrschaft der Experten könne die überaus komplexen Sachzwänge unserer Zivilisation erkennen und entscheiden. Es hat sich aber gezeigt, dass es in der Regel keine Übereinstimmung unter den Sachverständigen gibt und dass eine politisch strittige Angelegenheit auch unter Experten kontrovers ist. Es muss z. B. zwischen Zielen und Risiken gewählt werden. Es muss über Kosten entschieden werden. Man kann diesen Aufgaben nicht entrinnen. Dies lösen nicht Experten. Es gibt auch die Vision, die Demokratie steigere die Freiheit der Menschen und könne am Ende die Selbstbestimmung vielleicht ganz herstellen. „Demokratie" - so der junge Jürgen Habermas - „arbeitet an der Selbstbestimmung der Menschheit, und erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr. Politische Beteiligung wird dann mit Selbstbestimmung identisch sein."4 In besonderer Weise hat man schon lange die Macht des Volkes mit dem Stichwort „Volkssouveränität"5 bezeichnet und diese regelrecht zum Gegenspieler der gewalthabenden Staatsapparate gemacht.6 Freilich hat sich gezeigt, dass diese Volkssouveränität allein doch nicht selbstständig Demokratie begründen kann. Es braucht dafür kunstvoll vermittelte Regeln der Begründung, der Begrenzung und auch der Bestimmung von Herrschaft.

Dolf Sternberger hat aufgezeigt, dass man in dieser Hinsicht den Satz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" differenzieren muss und dass die Demokratie seit antiker Zeit eine gemischte Verfassung ist, die auch andere Elemente in sich enthält,7 z. B. Oligarchie, Aristokratie und Autokratie.

Das Demokratieprinzip spricht jedem Bürger das gleiche Recht auf freie Mitwirkung an den gemeinsamen Angelegenheiten zu und bündelt diese Rechte in der Idee der Bürgerfreiheit bzw. der Volkssouveränität.8 Dem Amtsgedanken kommt in der europäischen politischen Tradition nicht minder eine hervorragende Bedeutung zu. Er besagt, dass alle Befugnis, für andere verbindlich zu entscheiden, als Amt verfasst ist. Damit sind nach Peter Graf Kielmansegg vier Elemente gemeint:

„Die Befugnis, für andere verbindlich zu entscheiden, wird nicht aus eigenem, ursprünglichem Recht ausgeübt, sondern als übertragene Vollmacht.
Die Befugnis, für andere verbindlich zu entscheiden, ist rechtlich eingegrenzt. Die Idee des Amtes ist mit unbegrenzter Handlungsfreiheit unvereinbar.
Die Befugnis, für andere verbindlich zu entscheiden, hat eine Bestimmung, die nicht zur Disposition des Amtsinhabers steht, sondern ihm vorgegeben ist. Die Bestimmung des Amtes ist das Gemeinwohl.
Wer befugt ist, für andere verbindlich zu entscheiden, muss sich verantworten. Verantwortlichkeit ist möglicherweise das konstitutive Element des Amtes überhaupt.
In der Idee des Amtes, so lassen sich alle vier Aussagen zusammenfassen, stellt sich die Befugnis, für andere zu entscheiden, nicht als Recht, sondern als Pflicht dar." 9

Im ersten Augenblick sieht es so aus, als ob das Demokratieprinzip und das Amtsprinzip miteinander unvereinbar seien. Deshalb ist die Demokratie - wie schon kurz erwähnt - immer wieder auch als Überwindung aller Ämterordnung verstanden worden. Es gibt dazu Beispiele von der Demokratie in Athen bis heute. Man will z. B. in Athen bis in viele Verfahren, sogar des Gerichtswesens hinein, die Amtsherrschaft in eine Selbstregierung der Bürger auflösen. In der Schrift von Karl Marx über die Pariser Kommune (1871) gibt es keine Ämter im förmlichen Sinne mehr, sondern eigentlich nur die streng überwachten Vollstrecker des Willens der revolutionären Klasse.10 Auch Jürgen Habermas spricht gelegentlich von der „Ablösung gewalthabender Institutionen durch eine Organisation des gesellschaftlichen Verkehrs, die einzig an herrschaftsfreie Kommunikation gebunden ist."11 Die Vision einer Demokratie ohne Ämter ist also immer lebendig. Darin verbinden sich in eigentümlicher Weise ein elementares Misstrauen gegen jede Amtsherrschaft und zugleich ein fast grenzenloses Vertrauen, dass es in der Demokratie letztlich einer Institutionalisierung von Verantwortlichkeit gar nicht bedürfe.12

In Wirklichkeit muss man von beiden Seiten her aufzeigen, dass Demokratieprinzip und Amtsprinzip nicht nur aufeinander offen bleiben, sondern zutiefst aufeinander angewiesen sind. Eine Ämterordnung ist auf dem Grund des allgemeinen Wahlrechts aufgebaut. Der Zugang zu den Ämtern wird allen Bürgern ermöglicht. „Dann sind es die Bürger in ihrer Gesamtheit, von denen die Vollmacht verbindlich für das Gemeinwesen zu entscheiden, ausgeht und vor denen die Amtsträger sich zu verantworten haben."13 Dabei ist es gewiss schwieriger, vom Demokratieprinzip auf das Amtsprinzip hin zuzugehen. Regieren die Bürger sich nicht selbst aufgrund eines ursprünglichen Rechtes? Wir haben schon gesehen, dass es viele faszinierende Konzeptionen gab, dass Demokratie Selbstbestimmung für jeden Bürger bedeutet und darum letzten Endes auf die Überwindung der Ämterverfassung angelegt ist. „Aber es ist nicht so. Demokratie bedeutet nicht Selbstbestimmung, politische Beteiligung kann unter keinen Umständen mit Selbstbestimmung identisch sein ... Wer an Entscheidungen mitwirkt, die für andere verbindlich sind, verfügt über andere, wie immer die Entscheidungsregel im einzelnen ausgestaltet sein mag. Und: Wer kollektiven Entscheidungen unterworfen ist, ist den Verfügungen Dritter unterworfen, auch wenn er selbst an diesen Entscheidungen mitwirkt. Das bedeutet: Keine demokratische Entscheidungsregel hebt die wechselseitigen Abhängigkeiten - man entscheidet über andere und ist von den Entscheidungen anderer betroffen - auf, nicht einmal, und hier zeigt sich die logische Unentrinnbarkeit dieser Einsicht, die Einstimmigkeitsregel."14 Das Demokratieprinzip fordert, dass Entscheidungen vor dem Betroffenen verantwortet werden müssen. „Mit anderen Worten - es mündet in das Amtsprinzip ein. Demokratie, die sich nicht eine Ämterverfassung gibt, und eine Ämterverfassung, die sich nicht auf das Demokratieprinzip gründet, können demnach, sofern wir uns zu den menschenrechtlichen Prämissen neuzeitlicher Politik bekennen, nicht als anerkennungswürdige, als legitime politische Ordnungen gelten."15

Es scheint mir, dass man diese Strukturelemente der repräsentativen Demokratie nochmals deutlicher in Verbindung bringen muss mit dem Fundament allgemeiner Wahlen. Sie ermöglichen den Zugang zu den Ämtern. Sie sind offen für alle Bürger. Sie spielen sich ab in einem Raum, in dem Politik als öffentlicher und auch kontroverser Prozess ausgetragen wird. Aber auch ein anderer Gesichtspunkt ist noch sehr wichtig. Ein Amt wird in der Demokratie auf Zeit verliehen. Dieser Zeitfaktor betont vielleicht am besten die Tatsache, dass man über ein Amt nicht einfach beliebig verfügen kann. Die Begrenzung jeder Amtszeit und ein möglicher Wechsel des Amtsträgers bringen aber noch eine andere, wie mir scheint, fundamentale Dimension zum Vorschein. Jedes Amt, das einem Träger anvertraut wird, hat den Charakter einer treuhänderischen Wahrnehmung von Rechten. Der Bürger ist und bleibt der Treuhandgeber. Aber dies nimmt auch den Bürger in Anspruch. Im Amt geht es um seine Sache. Er hat auch eine Pflicht, dass seine Sache treuhänderisch verwaltet wird. Tua res agitur! Deine ureigene Sache wird betrieben. Auch dieses Demokratieverständnis zielt auf Freiheit und kritisiert Herrschaft, indem es nämlich vor allem die Bindung und Verantwortung jeder „Macht" hervorhebt.16 Gerade die angelsächsische Sicht der Ämterordnung hat diesen Charakter des Mandates immer stärker mitbedacht (vgl. das Wortfeld „trust"). Dies bringt für den Amtsträger eine wichtige Komponente zum Bewusstsein, dass er nämlich nur einstweilen, vorläufig und auf Zeit hin Amtsvollmacht verliehen bekommt, um nicht in eigenem Interesse, sondern für das Gemeinwesen, für das Volk, für das Gemeinwohl „Herrschaft", ja „Macht" auszuüben. Vielleicht wird nirgends deutlicher, dass ein solches Amt in ganz fundamentaler Weise Dienst bedeutet.17 Der Amtsträger wird sich so bewusst, dass er für alle anderen diese Vollmacht verwaltet und dass sie ihm nicht einfach zu eigen ist. Darum braucht es Autorität in einem doppelten Sinne, nämlich einerseits „Amtsautorität", die durchaus mit Würde und Respekt gegenüber dem Amt verbunden ist - was heute sehr oft bis zur Unkenntlichkeit verschwunden ist -, aber anderseits auch persönliche Autorität, die das Amt stützt und glaubwürdig ergänzt. Dies scheint mir zu den Bausteinen der europäischen Idee der Partizipation in der politischen Verantwortung zu gehören.18 Es zieht sich vom römischen Recht über das Kirchenrecht bis in die Neuzeit der Satz: „Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet", also: „Was alle betrifft, muss auch von allen behandelt und gebilligt werden."19 Dies verlangt freilich einen verantwortlichen Bürgersinn.20

Diese Sicht kommt heute auch noch in anderer Sprache und Begrifflichkeit zur Darstellung. So betont Martin Kriele, dass es im Verfassungsstaat keinen Souverän gibt, wohl aber umgrenzte Kompetenzen: „Die Staatsgewalt ist auf Organe verteilt, und jedes Organ hat nur diejenige Rechtsmacht, die ihm von der Verfassungsordnung zugewiesen ist ... Aber es sind doch bloß Kompetenzen."21 Zusammenfassend formuliert M. Kriele: „Mit der demokratischen Repräsentation ist also der Begriff des Amtes verbunden, der sich in Amtsethos und Amtseid niederschlägt. - Das demokratische Amtsethos hat dreierlei zum Inhalt: den Anspruch auf Wahrung der Gesetze, auf Wahrung des Gemeininteresses und wo es stattdessen rivalisierende Gruppeninteressen gibt, auf unparteiische, gerechte Entscheidung zwischen ihnen. Insofern unterliegt jeder Amtsinhaber, ethisch gesehen, dem Anspruch, das Ganze zu repräsentieren, und das heißt: gerecht zu entscheiden. Der demokratische Verfassungsstaat ist der Versuch, diesen ethischen Anspruch so weit wie möglich zu verwirklichen."22

Man hat, zum Teil durchaus mit guten Gründen, den Begriff des Amtes und der Amtsträger dadurch interpretiert und ergänzt, dass man an seine Stelle funktionale und neutrale Begriffe gesetzt hat, wie z. B. Kompetenzen und Organe. Gewiss ist damit auch im Kern das Amtsprinzip angesprochen. Aber ich sehe doch darin ein mögliches Defizit, dass dabei die personale Dimension des Amtes zu sehr in den Hintergrund gedrängt werden könnte. Funktion und Person können im Bereich des Menschlichen nicht einfach voneinander getrennt werden. Gewiss gibt es auch eine personalistische Überhöhung des Amtes und besonders von Amtsträgern. Dies wird allerdings durch verschiedene Strukturen, wie z. B. Wahlen, Vielfalt von Trägern, Ämterteilung, Gewaltenteilung, Instanzenzug usw. wieder abgebaut oder wenigstens vermindert. Aber den Gesichtspunkt der personalen Verantwortung und auch eines gewissen Vorbildcharakters darf man nicht einfach aufgeben. Auf der anderen Seite muss man aber dem Amtsträger im menschlichen Bereich nicht nur wegen der Amtsautorität ein gewisses Maß an Anerkennung und Respekt zukommen lassen. Was heute in diesem Bereich oft geschieht, lässt jeden Sinn für Würde vermissen, die wirklich zu jedem Amt gehört. Dies gehört auch zum klassischen Begriff des Amtes. Wenn dieser Verlust an Würde im Amtsverständnis so schwindet, wie dies heute oft der Fall ist, dann frage ich mich wirklich, wer in Zukunft noch bereit sein wird, aus wirklich überzeugenden Gründen eine solche Aufgabe zu übernehmen. Wir dürfen nicht nur die demokratischen Institutionen, wir müssen nicht minder auch die ethischen Standards und die politischen Tugenden beachten. Die klassische Lehre vom Staat hat lange Zeit immer wieder die anthropologischen und ethischen Voraussetzungen betont, die notwendig sind, um im konkreten Verhalten das Amt richtig auszufüllen. Der Herrscher soll dadurch seine Aufgaben gut erfüllen, aber auch beispielhaft wirken. Die Sorge um das öffentliche Wohl und ein tugendhaftes Leben gehören für das europäische Staatsverständnis über mehr als ein Jahrtausend eng zusammen (vgl. z. B. die „Fürstenspiegel" und die Gattung „De regimine principum").23 Wir müssen diese wichtige Dimension, die zur demokratischen Lebensform gehört, wieder zurückgewinnen.24

Natürlich gibt es hier äußerst verletzliche Bereiche, für die vielleicht - gerade auch bei einer Gewohnheit - nicht immer die nötige Sensibilität vorhanden ist. Gewiss soll man aus einem Amtsträger keinen einsamen moralischen Heroen machen. Er hat Anspruch auf Menschlichkeit. Dazu gehört auch Unvollkommenheit. Ich meine freilich jetzt nicht Dinge, die man strafrechtlich verfolgen muss. Diese Problematik wurde von Josef Isensee 2003 folgendermaßen zusammengefasst: „Die politisch Mächtigen in Deutschland können sich heute öffentlich wie privat nahezu alles erlauben, wenn sie ein einziges Gebot einhalten, auf das sich gleichsam alle hergebrachten Amtspflichten konzentrieren und in dem sie sich aber auch verschärft haben: aus der politischen Macht keine wirtschaftlichen Vorteile für sich selbst oder für ihre Partei zu ziehen ... Der Politiker ist gut beraten, alles zu tun, bereits den Anschein zu meiden, er übertrete das Verbot. Denn schon der Verdacht kann ihn politisch ruinieren und sein Amt kosten, ohne dass er sich dagegen mit rechtlichen Mitteln wirksam zur Wehr setzen könnte ... Die politische und moralische Reputation kann ärger leiden als je durch einen Strafprozess. Dieser ist rechtsstaatlich moderiert, der Skandal aber kennt kein rechtliches Maß. Er lebt aus dem Impetus des politischen Kampfes und des Wettbewerbs seiner Betreiber. - Der Mächtige, der sich schwach gezeigt hat, fällt der Meute zum Opfer. Die Höhe der politischen Strafe hängt nicht ab von der Schwere der Regelverletzung, sondern von der Höhe des Amtes, das die skandalisierte Person innehat, damit der möglichen Fallhöhe ihres Sturzes, vom Grad der öffentlichen Aufgeregtheit, von den Vermarktungsbedürfnissen der Investigatoren und der durchweg wenig belastbaren Solidarität der so genannten Parteifreunde. Die Gerichtsbarkeit kann keinen Schutz vor den Entladungen des politischen Vulkans bieten. Sie kommt zu spät. Allenfalls kann sie einige Folgen korrigieren, und auch das nur, wenn sie sich selbst nicht in den Sog des Politischen hineinziehen lässt."25 Ich denke, wir können dies in unserer Republik, auch in Mainz und gewiss auch in unseren Kirchen bis in die jüngste Zeit konkret spüren. Hier gilt es immer wieder die Balance zu finden zwischen der notwendigen Kritik auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber auch Achtung und Vertrauen, ohne die das Amtsprinzip verkümmern würde.

Verehrter Herr Oberbürgermeister Beutel mit Ihrer verehrten Frau, ich möchte vor diesem Hintergrund als Bürger, der schon mehr als 30 Jahre dankbar in dieser Stadt lebt, als Bischof und auch als Ehrenbürger Ihnen für Ihren Dienst in Mainz einen herzlichen Dank sagen, ganz besonders für Ihren hohen Einsatz zugunsten des Gemeinwohls. Sie haben in 14 Jahren das Wohl dieser Stadt gemehrt und sich dadurch Verdienste erworben. Ich wünsche Ihnen für die Zukunft Gottes reichen Segen und darin alles Gute.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz


Anmerkungen und Fußnoten 
1) Vgl. O. Negt, Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, Göttingen 2010, 308ff. (Lit.).

2) Vgl. das gleichnamige Buch von C. J. Friedrich, 2. Auflage, Heidelberg 1966 (Erstauflage 1959).

3) Vgl. dazu historisch Chr. Meier, Die parlamentarische Demokratie, München 1999, 15-63; W. Conze u.a., Demokratie, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Band 1.

4) J. Habermas, Student und Politik, Neuwied 1961, 15.

5) Vgl. K. Röttgers/R. Linvers, Volkssouveränität, in: J. Ritter u.a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 11, Basel 2001, 1109-1111 (Lit.); J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992, 600-631.

6) Dazu P. Graf Kielmansegg, Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität, Stuttgart 1977; I. Maus, Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Berlin 2011.

7) Vgl. dazu D. Sternberger, Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, Stuttgart 1971; vgl. auch P. Graf Kielmansegg, Das Experiment der Freiheit. Zur gegenwärtigen Lage des demokratischen Verfassungsstaates, Stuttgart 1988, 182ff. (Lit.).

8) Vgl. O. Höffe, Ist die Demokratie zukunftsfähig?, München 2009; ders., Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 2002 (Neuausgabe); ders., Wirtschaftsbürger - Staatsbürger - Weltbürger, München 2004.

9) P. Graf Kielmansegg, a.a.O., 59.

10) Vgl. Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: K. Marx/F. Engels-Werke, Band 17, 5. Auflage, Berlin 1973, 313-365.

11) Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968, 72.

12) Vgl. auch die schon genannte Studie von C. J. Friedrich, Demokratie als Herrschafts- und Lebensform.

13) P. Graf Kielmansegg, Das Experiment der Freiheit, 61.

14) Ebd., 63.

15) Ebd., 64.

16) Auch heute noch ist dafür maßgebend: W. Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: ders., Politik als praktische Wissenschaft. Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, München 1968, 48-64; ders., Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffs, Köln 1970.

17) Für die theologische Sicht vgl. K. Lehmann, Zur dogmatischen Legitimation einer Demokratisierung in der Kirche, in: Concilium 7 (1971), 171,181 (zahlreiche Übersetzungen).

18) Vgl. dazu V. Gerhardt, Partizipation. Das Prinzip der Politik, München 2007.

19) Dazu die bekannte Abhandlung von Y. Congar, Droit ancien et structures ecclésiales, London 1982, III., 210-259 (Erstveröffentlichung 1958, hier Ergänzungen: 258f.).

20) Vgl. W. Hennis, Politik als praktische Wissenschaft, 201-223, bes. 213ff.

21) Einführung in die Staatslehre, Reinbek bei Hamburg 1975, § 28, 111-116, Zitat: 112.

22) Ebd., 241f.

23) Vgl. A. M. Esser, Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, Stuttgart 2004; B. Singer, Fürstenspiegel, in: Theologische Realenzyklopädie, Band XI, Berlin 1983, 707-711; P. Hadat, Fürstenspiegel, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Band 8, Stuttgart 1972, 555-632.

24) Als Ansatz vgl. das gemeinsame Wort der christlichen Kirchen „Demokratie braucht Tugenden" (= Gemeinsame Texte 19), Hannover/Bonn 2006.

25) Tabu im freiheitlichen Staat. Jenseits und diesseits der Rationalität des Rechts = Schönburger Gespräche zu Recht und Staat, Paderborn 2003, 54ff.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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